Beginnt in Bayern eine demokratische Revolution?
Die Freien Wähler treten für direkte Demokratie ein. Unser Autor fordert: Haltet euer Versprechen! Er denkt über die Grenzen des Freistaates hinaus. Ein Kommentar.
Was für eine Aufregung. "Wir müssen uns die Demokratie wieder zurückholen" hatte der für seine provozierende Wortwahl bekannte Hubert Aiwanger in das Erdinger Bierzelt gerufen und stürmischen Applaus geerntet. Es ging um das neue Heizungsgesetz und war ein Rückgriff auf einen Programmpunkt des Wahlprogramms der Freien Wähler zur letzten Bundestagswahl.
Darin hieß es, die "Zuschauer-Demokratie" müsse durch Volksentscheide und Bürgerräte ergänzt werden.1
Und tatsächlich – genau das hatte beim Heizungsgesetz gefehlt: Mitbestimmung der Bürger bei solch großen Veränderungen.
Die meisten Journalisten und Politiker der Bundesrepublik hatten das Wahlprogramm wohl gar nicht gelesen. Die Freien Wähler waren bundesweit noch eine unbedeutende Randpartei. Und so entfiel die Erinnerung an diesen Satz und das große Geschrei der Mächtigen der Politik hob an: Der Satz von Hubert Aiwanger sei "rechts", das sei unerhört, das erfordere höchste Aufmerksamkeit. Die Parallele zur Ausgrenzung wie im Fall der AfD war offensichtlich.
Sogar Bundespräsident Steinmeier fühlte sich aufgefordert, in einer Rede zum 75. Jahrestag des Verfassungskonvents die Verächter "unserer" Demokratie in die Schranken zu weisen.
Wobei er wohl damit die aktuelle, rein repräsentative Demokratie meinte und übersah, dass Aiwanger genau diese heute primär von Berufspolitikern bestimmte Demokratie meinte, von der Herr Steinmeier schon seit Jahren gut lebt.
Und die eben die Demokratie ist, der Aiwanger vorwirft, nicht mehr bürgernah, zu abgehoben zu sein.
Die repräsentative Demokratie ist zu kurzatmig
Für mich allerdings klang Aiwangers Bemerkung wie Musik in meinen Ohren. Die Schwäche der Demokratie, langfristigen Probleme wie dem Klimawandel zu begegnen, beschäftigt mich, seit es ihn gibt.
In meinem neuen Buch Abstimmungen blicke ich zurück auf die wohlwollenden Anfänge von Helmut Kohl, George Bush und anderen, die den fossilen Emissionen frühzeitig begegnen wollten - und von starken Lobbykräften der Wirtschaft ausgebremst wurden.
Nun, 30 Jahre später, ist der Klimawandel Fakt, die steigende Häufigkeit extremer Waldbrände und Überschwemmungen unübersehbar – und durch einen angenehm mediterranen Herbst, dem wärmsten jemals, leicht zu vergessen.
Diese Demokratie hat also versagt. Ein Versagen solchen Ausmaßes fordert normalerweise einen Untersuchungsausschuss, eine Enquete-Kommission, die den Ursachen auf den Grund geht - und die vielleicht einsieht, dass man große Veränderungen nur unter Einbeziehung bürgerlicher Mitbestimmung umsetzen kann und nicht mit Hauruck-Verfahren wie beim Heizungsgesetz.
Volksentscheide müssen nicht unbedingt besser sein, aber sie schaffen zumindest Wissen, verbessern die Akzeptanz und klären die Belastungsgrenzen bei allen großen Themen, gleich ob Energietransformation, Migration, weltweitem Bodenverbrauch oder Wasserbelastung.
Vorausgesetzt natürlich, dass sie gut gemacht sind, mit guter Wissensbereitstellung, klaren Fragen und ausreichend Diskussion. Das "Volk" ist nicht dumm, es ist nur unwissend.
Bundesweiter Volksentscheid in die Koalitionsvereinbarung
Nun liegt es also an den Freien Wählern, ihr Versprechen durchzusetzen. Die Voraussetzungen sind durch den Stimmenzuwachs in Bayern günstig.
Ministerpräsident Söder hat für den Koalitionsvertrag ein klares Bekenntnis der Freien Wähler zu deren politischem Kompass und Demokratieverständnis verlangt.
Es gehe "um die Integrität der Staatsregierung", daher müsse "das Bekenntnis in einer Präambel des Koalitionsvertrages verankert werden".
Das wird nicht schwerfallen. Die Bemerkung von Helmut Aiwanger ist, wie mir u.a. Wolfgang Merkel vom Berliner Wissenschaftszentrum für Sozialforschung bestätigt hat, nicht "rechts".
Und die Freien Wähler bestehen nicht nur aus dem wortgewaltigen Aiwanger. Sie haben vielmehr in Bayern eine bewährte Ministerriege. Gemeinsam mit dem Fraktionsvorsitzende Florian Streibl, dem Sohn des früheren Ministerpräsidenten Max Streibl werden sie wohl die aktuelle, rein repräsentative Demokratie entsprechend den Parteigrundsätzen als nicht ausreichend bezeichnen und die Öffnung für Elemente der direkten Demokratie auch auf Bundesebene fordern.
Eine entsprechende Aufforderung liegt der Fraktion vor. Der Volksentscheid ist in Bayern bereits Teil der Verfassung. Da liegt es besonders nahe, für die Ausweitung auch auf die Bundesebene einen Gesetzesvorstoß im Bundesrat zu fordern. Denn dafür können auch Landesregierungen Gesetzesvorlagen einbringen.
Die nächste Wahl mit Volksentscheid
Rasch wird allerdings die Debatte um die Verfassungsmäßigkeit beginnen. Denn im Grundgesetz steht zwar: Alle Staatsgewalt wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen ausgeübt, dem Untertitel meines Buches, aber die Verfassungsrichter sind der Meinung, dass dies nur für Veränderungen von Landesgrenzen gilt und nicht für ordnungspolitische Gesetze.
Das legt die Einführung von bundesweiten Volksentscheiden durch einen Volksentscheid darüber nahe. Und der würde am besten mit der nächsten Bundestagswahl verbunden. Dann entscheiden die Bürger selbst, ob sie themenbezogene Abstimmungen wollen.
Damit könnten die Freien Wähler ihrem Programmpunkt zu Erfolg verhelfen. Und klarmachen, dass Aiwangers Satz nicht ein Versprecher, sondern ein Versprechen war, dem Programm seiner Partei entsprechend.
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