Antisemitisches Flugblatt: Warum Hubert Aiwanger kein Opfer ist
Die politische Entwicklung eines Ministers sollte für die Öffentlichkeit nachvollziehbar sein. Das ist nicht zu viel verlangt. Auch wegen einer Auseinandersetzung, die das konservative Lager gerade führt.
Hubert Aiwanger ist kein "Normalo" – und auch kein Fernsehkoch oder sonstiger Promi aus der Unterhaltungsindustrie, von dem in den letzten Jahrzehnten keine kontroversen politischen Äußerungen bekannt geworden sind. Sonst wäre die Frage berechtigt, was es die Öffentlichkeit heute angeht, ob er im Alter von 17 Jahren mit widerwärtigen antisemitischen Flugblättern im Schulranzen erwischt wurde. Als Verfasser des Pamphlets, in dem es um das "Vergnügungsviertel Ausschwitz" geht, hat sich inzwischen sein Bruder bezeichnet.
Eines ist klar: Als Minderjähriger wäre Aiwanger nicht einmal für einen Mord zu mehr als zehn Jahren verurteilt worden – und Volksverhetzung im Schuljahr 1987/88 wäre auch für damals schon Volljährige inzwischen längst verjährt. Ein Handwerker, ein Krankenhausarzt oder auch ein Fernsehkoch hätte da auch eher ein "Recht auf Vergessen" als ein aktiver Politiker im Ministeramt. Aiwanger ist heute Anfang 50, Chef der "Freien Wähler", Bayerns Wirtschaftsminister und stellvertretender Ministerpräsident.
Es sollte nicht zu viel verlangt sein, dass er seine politische Entwicklung nachvollziehbar macht und erklärt, ob, wie und wann ihm inzwischen bewusst wurde, wie menschenverachtend der Inhalt der Flugblätter war, die er als 17-Jähriger mit sich herumschleppte – statt sich nur als Opfer einer "Schmutzkampagne" zu sehen, wie er selbst und der "Freie Wähler"-Kreischef Otto Bußjäger es nannten.
Politiker bewerben sich um Vertrauen – und um Macht
Natürlich ist in Bayern auch gerade Wahlkampf – da wird in den Medien auch gerne mal die Vergangenheit der Bewerber durchleuchtet. Das ist nicht immer angenehm. Aber wer sich um ein wichtiges politisches Amt bewirbt, weiß das. Er darf nicht erwarten, von der Presse mit Samthandschuhen angefasst zu werden, wenn er versucht, sich von seiner Schokoladenseite zu präsentieren. Denn er bewirbt sich um Vertrauen – und letztendlich um Macht, die ihm übertragen werden soll. Dazu reicht es nicht, nur rein strafrechtlich "sauber" zu sein.
Wer sich zum Entscheidungsträger wählen lassen will, muss mehr Transparenz bieten als jemand, der sich um einen Job als Paketzusteller bewirbt. Bei Vorstellungsgesprächen in der Arbeitswelt ist das Machtgefälle ein anderes, deshalb gibt es dort zu recht verbotene Fragen – zum Beispiel die nach der politischen Gesinnung oder auch der Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft.
Genau das sind aber Dinge, die bei der Bewerbung um ein politisches Mandat unbedingt transparent gemacht werden müssen. Auf welcher Grundlage sollten die Wahlberechtigten sonst eine Entscheidung treffen?
Medien dürfen da grundsätzlich auch die Frage nach der Glaubwürdigkeit aufwerfen. Vor allem, wenn es im konservativen Lager Spannungen gibt, weil einige das mit der "Brandmauer gegen rechts" eben doch etwas lockerer sehen, ist das von öffentlichem Interesse. Aiwanger haben vor einigen Wochen auch Anhänger der AfD applaudiert – auf einer Demonstration gegen das geplante Heizungsgesetz, auf der Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CDU) Pfiffe und Buhrufe erntete, als er sich zumindest verbal deutlich gegen die Ultrarechten abgrenzte.
Aufarbeitung "ohne Not": Warum der "Fall Chebli" anders gelagert ist
Der Süddeutschen Zeitung kann vielleicht vorgeworfen werden, dass sie die Episode aus Aiwangers Jugend nur unzureichend eingeordnet und mit der Schlagzeile "Aiwanger soll als Schüler antisemitisches Flugblatt verfasst haben" eine Verdachtsberichterstattung betrieben hat. Ihr ist aber nicht vorzuwerfen, dass sie überhaupt darüber berichtet hat, was er da mit sich herumschleppte. Denn das zumindest streitet er nicht ab.
Nun verweisen Aiwangers Unterstützer in "Sozialen Netzwerken" gerne darauf, dass ja auch die Berliner SPD-Politikerin Sawsan Chebli in ihrer Jugend Antisemitin gewesen sei. Der Unterschied ist nur: Sie hat das vor wenigen Wochen von sich aus selbstkritisch thematisiert, ohne deshalb gerade in Erklärungsnot zu sein. Entsprechende Presseartikel über Chebli hätten gar nicht in den Kommentaren zum "Fall Aiwanger" verlinkt werden können, wenn sie das nicht getan hätte.
Nun kann zwar darüber spekuliert werden, wie ehrlich diese Selbstkritik gemeint ist. Aber selbst, wenn Chebli dachte: "Besser, ich erzähle das selbst und distanziere mich ganz klar davon, bevor irgendjemand damit im Wahlkampf um die Ecke kommt", war ihr zumindest bewusst, dass die Öffentlichkeit ein Recht darauf hat – und dass eine aktive Politikerin so etwas nicht als irgendeine Jugendsünde abtun sollte.