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Besser, man wird nicht eingesperrt

Pforte der JVA Plötzensee. Bild: Ahle, Fischer & Co. Bau GmbH. Lizenz: CC-BY-SA-3.0

Wird der Staat der Verantwortung für seine Gefangenen gerecht?

Vier junge Männer zwischen 18 und 20 Jahren saßen im Gefängnis, der Jugendstrafanstalt Plötzensee. Dort quälten sie Mithäftlinge aus ihrer Wohngruppe. Die Opfer sagten aus, die Täter wurden verurteilt - aber warum ist das geschehen?

Inzwischen ist das schriftliche Urteil fertig. Es erzählt einiges über Gruppendynamik und vielleicht auch über Bosheit. Und über die Verantwortungslosigkeit des Staates gegenüber eingesperrten Heranwachsenden.

Die Taten

Nur zwei Beispiele: Zum Beginn der Taten befanden sich die vier Angeklagten zusammen mit zwei weiteren Häftlingen in der Küche. Die beiden Zeugen "wurden zu Boden gebracht. Der Angeklagte T klemmte sich nacheinander ihre Köpfe zwischen die Beine und spritzte ihnen Zitronensaft in die Augen". Ein anderes Mal ging einer der Angeklagten in den Haftraum eines Mithäftlings, nahm sein Geschlechtsteil aus seiner Hose und forderte ihn auf, "ihm einen zu blasen". Der lehnte es ab. Zur Strafe schlug der Angeklagte ihn mit dessen eigenem Ledergürtel auf den Rücken und ein Bein."

Das Urteil

Das Jugendschöffengericht des Amtsgerichtes Berlin-Tiergarten verurteilte die Vier im Dezember 2013 zu Jugendstrafen von drei Jahren und sieben Monaten bis zu fünf Jahren und sechs Monaten. Das Gericht urteilte nach Jugendstrafrecht - im Zweifel für den Angeklagten. Die Kollegin vom Tagesspiegel [1] berichtet über die Urteilsverkündung:

Kaum war das Urteil wegen einer Serie von Quälereien in der Jugendstrafanstalt verkündet, zeigten sich drei der Männer unglaublich renitent. Sie stimmten ein in die Störungen ihrer Kumpels auf den Zuhörerbänken, sie pöbelten. Bis der Richter sie und die Fangemeinde aus dem Saal entfernen ließ.

Die Begründung

Man kann sich bei der Lektüre nur wundern, warum diese Männer in einer Gruppe zusammen eingesperrt wurden.

Zu S. steht in der Urteilsbegründung:

Die letzte Vollzugsplanfortschreibung der Jugendstrafanstalt Berlin vom 8. November 2013 ist desolat ... Mit den Mitteln des Jugendstrafvollzugs sei der Angeklagte nicht mehr erreichbar.

Zu T.:

Bei dem Angeklagten, der unter massiv belastenden und sehr ungünstigen Sozialisationsbedingungen aufwuchs, falle besonders auf, dass er praktisch über keinerlei Empathievermögen verfügt und die Besorgnis bestehe, dass bei ihm sadistische Neigungen vorlägen.

Zu R.:

Der Vollzugsverlauf ist nicht nur von psychisch auffälligem Verhalten, sondern zudem durch wiederholte Meldungen und subkulturelle Aktivitäten gekennzeichnet. Mit Vermerk vom 22. November 2013 wurden u.a. massive Beleidigungen und Bedrohungen zum Nachteil eines anderen Inhaftierten festgehalten.

Zu Sa.:

Die letzte Vollzugsplanfortschreibung der Jugendstrafanstalt Berlin weist auf eine polytoxikomane Suchtmittelabhängigkeit hin. Er steht ganz am Anfang seines Vollzuges, zeigt jedoch Einsicht in seine Aggressionsbereitschaft unter dem Einfluss von Alkohol- und Drogen und verfügt über ein ausreichendes Maß an Empathie.

Die fünf Opfer, die später als Zeugen aussagten, wurden "aufgrund ihrer fehlenden Gewalterfahrung, ihrer physischen Unterlegenheit oder aufgrund ihrer psychischen Belastetheit von den Angeklagten sehr schnell als Außenseiter bzw. 'Opfer' angesehen".

Der Hintergrund in der Jugendstrafanstalt

Die Männer, Täter wie Opfer, saßen in der Wohngruppe 6 des Hauses 8 (Drogenfachabteilung) der Jugendstrafanstalt. Dort gibt es insgesamt 15 Zellen, eine Küche, einen Duschraum, einen Materialraum und einen Gruppenraum mit Fernseher. Das Haus wurde Ende des 19. Jahrhunderts erbaut - und ist vom Büro der Mitarbeiter des Allgemeinen Vollzugsdienstes nur begrenzt einsehbar.

Und auch im übertragenen Sinn nicht durchschaubar:

Der Umgang der Gefangenen untereinander in der Jugendstrafanstalt Berlin wird bestimmt durch ungeschriebene Regeln, die eine klare Hierarchie zur Folge haben, welche von den Bediensteten schwer oder gar nicht zu durchdringen ist. Es gilt zudem das 'eiserne Gesetz des Schweigens', wenn gegen Mitgefangene wegen Tat im Vollzug ermittelt wird.

Das Zusammenleben in einer Hierarchie

Es ist gefährlich, mit Stärkeren eingesperrt zu sein. Das ist ein sehr lakonischer Satz, der nach einem Allgemeinplatz klingt. Aber es ist eine bittere Wahrheit.

Das hat sich etwa drastisch beim Standford Prison Experiment von Philip Zimbardo [2] gezeigt, der darüber ein beeindruckendes Buch geschrieben hat: Der Luzifer-Effekt - Die Macht der Umstände und die Psychologie des Bösen [3].Auch die Untaten von Soldaten im Gefängnis von Abu Ghraib zeigen dies.

Eigentlich sollte der Staat seine Gefangenen schützen. Stattdessen geschehen immer wieder Gewalttaten, kürzlich etwa wurde ein Mann in einer psychiatrischen Klinik sogar ermordet [4].

Die Verantwortung des Staates

Dass Gefängnisse ein vergleichsweise gefährlicher Ort sind, ist eine Binsenweisheit. So kann auch das Gericht nur mit einer Mischung aus Verwunderung und Entsetzen feststellen:

[Es] steht fest, dass es den Angeklagten vergleichsweise leicht gemacht wurde, ihre subkulturellen Verhaltensweisen über einen längeren Zeitraum und am 14. August 2013 auch ungestört in der Zeit von 15.00 Uhr bis 20.00 Uhr und damit über Stunden fortzuführen. Für das Gericht steht aufgrund der übereinstimmenden Bekundungen bzw. Einlassungen der Zeugen und der Angeklagten fest, dass u.a. aufgrund von Krankheit und Urlaub zu den teilweise in den Berliner Sommerferien liegenden Tatzeitpunkten nur völlig unzureichende Kontrollmaßnahmen von Seiten der Jugendstrafanstalt durchgeführt wurden. Der Hinweis von Seiten des Zeugen Ka: 'Wenn da einer um Hilfe schreit oder stirbt - das kriegt doch keiner mit!' lässt zur Überzeugung des Gerichts an Dringlichkeit nichts zu wünschen übrig. Der Umstand, dass selbst intellektuell überlegene und körperlich groß gewachsene Inhaftierte wie die Zeugen K und F Erniedrigungen und körperliche Übergriffe nicht zum sofortigen Auslösen der sogenannten 'Ampel' veranlasst und diese erst nach Wochen anzuzeigen bereit waren, lässt den Rückschluss zu, dass es der Jugendstrafanstalt nicht gelingt, schwächere Inhaftierte durchgängig zu schützen.

Und etwas später:

Das Gericht konnte nach mehrtägiger Beweisaufnahme keinerlei Erklärung dafür finden, warum aufgrund früherer Inhaftierungen bekanntermaßen hoch problematische Insassen wie die Angeklagten S und T mit psychisch und physisch schwer belasteten Inhaftierten, wie u.a. den Zeugen Su und P-R, überhaupt auf einer Wohngruppe gemeinsam untergebracht wurden. Ohne eine gemeinsame Unterbringung wären die vorliegenden Taten in dieser Form mit großer Wahrscheinlichkeit nicht begangen worden. Was passiert wäre, hätte zwischen den Geschädigten keine Schicksalsgemeinschaft bestanden und wären einzelne Geschädigte den Angeklagten dauerhaft als Einzelpersonen ausgeliefert gewesen, mochte sich das Gericht nicht ausmalen.

Man mag kaum glauben, dass diese Taten tatsächlich nicht bemerkt wurden. Kriegt es keiner mit - oder will es keiner mitkriegen? Haben vielleicht auch Mitarbeiter in der Jugendstrafanstalt Angst, einzugreifen? Weil sie um ihren Job fürchten? Weil sie die Übermacht von Gefangenen fürchten? Weil sie sich schämen, nicht gleich eingeschritten zu sein? Man könnte sich viele Gründe vorstellen.


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-3363563

Links in diesem Artikel:
[1] http://www.tagesspiegel.de/berlin/richter-greift-durch-vier-kriminelle-wegen-folter-in-jugendhaft-verurteilt/9245682.html
[2] http://de.wikipedia.org/wiki/Philip_Zimbardo
[3] http://www.amazon.de/dp/3827430275/ref=nosim?tag=telepolis0b-21
[4] http://www.br.de/nachrichten/unterfranken/patient-getoetet-bezirkskrankenhaus-lohr-100.html