Bin ich Rassist? Ein Selbsttest

Seite 5: Die transsexuelle Bekannte

Dritter Testfall: Gelegenheit zu diesem Rückblick bietet ein Essen bei jüngeren Freunden nach mehreren Jahren. Sozusagen aus heiterem Himmel wurde mir nebenbei eröffnet, ein Bekannter sei jetzt transsexuell, also eine "sie". Die Betreffende kam kurz darauf herein und setzte sich zu uns.

Gerade weil es sich um eine unerwartete Neuigkeit am Essenstisch handelte, bietet sich diese Begegnung hervorragend für eine Selbstbeobachtung an. Wie habe ich unwillkürlich reagiert? Wie willkürlich?

Nun, ich war ein wenig erstaunt - allerdings habe ich es mir zur Aufgabe gemacht, Überraschungen erst einmal wahrzunehmen und dann in Ruhe zu beurteilen, wie es meiner Ansicht nach ein reflektierter Geist tun sollte; insoweit also eine eher erwartbare Reaktion.

Aber dann war ich vor allem eines: Neugierig. Enthielten meine Empfindungen der Bekannten gegenüber auch nur einen Augenblick lang eine negative Tendenz? Nicht die Spur. Wenn, dann ist ihre Person dadurch nur interessanter geworden, weil sie aus erster Hand von ihren Empfindungen als Transsexuelle in Berlin berichten kann.

Ganz abgesehen davon, dass es hochinteressant ist, aus erster Hand mehr über die Beweggründe zu einem solch tiefgreifenden Wandel zu erfahren. Und dann die Ansprache. Er oder sie? Das ist natürlich erst einmal verwirrend, ebenso, wie die weibliche Form ihres alten Namens zu verwenden. Nun könnte der kritische Geist einwenden, Aha! Das "sie"-zen ist für ihn keine Selbstverständlichkeit!

Na und? Ich bin nur ein Mensch, ein höchst fehlbarer noch dazu, und gerade sprachlich fällt es mir sozusagen von Berufs wegen schwer, Begriffe zu vertauschen. Das muss hinterfragt und gerechtfertigt werden, denn einfach mit dem Strom schwimmen, muss jedem halbwegs kritischen Geist mit Rückgrat widerstreben. Es zählt zu den höchsten Pflichten eines Publizisten, dies nicht zu tun. Natürlich ist hier der Wechsel von "er" zu "sie" völlig legitim, aber wie gesagt, es ist eben keine Kleinigkeit und bleibt eine Weile ein Stolperstein. Das ist allerdings auch kein Drama.

Überhaupt ist meine Bekannte dem Drama nicht zugeneigt. Als ich sie behutsam beim Frühstück darauf ansprach, erzählte sie ganz selbstverständlich von den Veränderungen, verkrampfte sich nicht mit "woke" verdrehten Kunstformen der Anrede, wie sie in sozialen Medien ebenso populär wie beliebig daherkommen, dort gern im Gewande der moralischen Pflicht, bei deren Nichtbeachtung die Verdammung droht und mit der manche wohl nur die Zugehörigkeit zu einer moralisch überlegenen Kaste herausstellen wollen.

Sie hatte ganz einfach erkannt, dass er in seinem Inneren eine Frau war und tat das dafür Notwendige, fertig. Ihre Sexualität ist Privatsache, etwas Alltägliches, was nicht als außerordentliche Eigenschaft plakativ nach außen getragen wird, und über das unter Freunden ganz selbstverständlich geredet werden kann. Und damit trifft sie in der Öffentlichkeit auf bemerkenswert wenig Widerstand.

In einem ähnlichen Falle wurde mir gesagt, eine Anverwandte sei lesbisch - was ich aber erst durch Dritte im Nachhinein erfuhr, da sie ebenso wie die zuvor beschriebene Bekannte ihre sexuelle Orientierung nicht als Aushängeschild vor sich hertrug. Änderte das etwas an meinem Verhältnis zu ihr? Kein bisschen. Sie ist immer noch die offene, energiesprühende, beeindruckende und starke Frau wie zuvor, Gespräche und Begegnungen sind immer noch ebenso erfreulich.

Daher: Solange jemand seine sexuelle Orientierung nicht offensiv thematisiert, um seinen Opferstatus oder seine angebliche Besonderheit zu betonen, scheint sie mir für meine Sichtweise keine Rolle zu spielen.

Segmentierte Opfer und Beschützer

Es wird derzeit viel darüber geschrieben, dass eine heteronormative Ordnung queere und Trans-Menschen diskriminiert. Das stimmt. Leider wird aber entweder auf einer rein spekulativen Ebene geschrieben, oder aber im Mäntelchen von Texten, auf die der SDS, der Sozialistische Deutsche Studentenbund der 68-er Jahre, stolz gewesen wäre. Bezeichnenderweise äußerte sich ein politisch engagierter, schwuler junger Mann, wie angenehm er es fände, sich über alltägliche Themen wie Filme zu unterhalten, als ständig mit seinen Geschlechtsgenossen über die Probleme, Sorgen und Benachteiligungen von Homosexuellen zu lamentieren.

Und tatsächlich lässt es sich vorzüglich über empfundene Benachteiligungen ergehen, während wir Luxusartikel aus Drittweltländern beziehen, als Dank unseren Müll hinsenden und der Klimakatastrophe zum Trotz SUV fahren. Auch verdächtige ich viele der besonders wortreichen Ankläger der Trittbrettfahrerei, da sie im Namen der Gleichberechtigung ihren Narzissmus oder ihre Gier nach Anerkennung befriedigen wollen oder sich einen Posten in einem antirassistischen Projekt oder der Sozialforschung versprechen.

Wenn die hervorragende Kabarettistin Carolin Kebekus eine Woche nach dem Tode von George Floyd ihre Satiresendung zu einem "Brennpunkt" umfunktioniert, da "die ARD bisher noch keinen (...) dazu gemacht hat, (also) machen wir einfach einen" (Carolin Kebekus Show", ARD, 4. Juni 2020, 23:00 Uhr), dann aber mit farbigen Kolleginnen und Kollegen fast ausschließlich und ausgerechnet aus der Medien- und Kulturbranche aufwartet, gibt sie sich eine unnötige Blöße - ein guter Wille führte zu einer unglücklichen Umsetzung.

Aber wer Polizisten auf die Müllhalde verbannt und mit dem Etikett "People of Colour" kokettiert, wie es eine Autorin in der taz getan hat, und dann auf Titelseiten von Magazinen als Vorzeige-Mahnerin posiert, der verspielt damit Glaubwürdigkeit. Sie setzt sich dem Vorwurf aus, ihre Popularität nicht aufgrund der Darstellung real erlebter Diskriminierung, sondern aufgrund billigen Populismus errungen zu haben. So verhalten sich falsche Freunde, die der Sache einen Bärendienst erweisen.

Von marxistischer Seite und von Vertretern des Sozialismus, darunter durch Sahra Wagenknecht in ihrem aktuellen Buch, wird zudem festgestellt, dass Identitätspolitik und Raubtierkapitalismus gut zusammenpassen. Es würde von der Frage einer gerechteren Kapitalverteilung abgelenkt. Mehr noch, die Solidarität unter Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern leide Schaden, indem anhand von wohlfeilen persönlichen Unterschieden, wie Hautfarbe oder sexuelle Orientierung, eine Selbstsegmentierung in argwöhnische Opfer- und Beschützerzirkel vonstattengeht.

Darüber hinaus beträfe es besonders die sozial engagierten und daher im Fokus der Identitätspolitik stehenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, während es den übrigen mehr oder weniger gleichgültig sein könne. Die rechtskritische Autorin Caroline Fourest sekundiert in ihrem aktuellen Buch:

"Der Kampf der Rassen hat den der Klassen verdrängt. (...) Für radikal säkulare Linke (wird es) immer schwieriger, ihre Ansichten zu vertreten. Und zwar auch, weil sie von (...) den identitären Linken daran gehindert (werden)."

In weniger getragenem Ton, eher in einer Art verbalen Amoklaufs, lässt sich ein Altlinker darüber aus:

Da oben weit über mir sitzt jetzt von links forciert eine subventionsverfettete Polit- und Kulturschickeria, die (mir) kackfrech sagt, was ich wie sagen soll, tun muss und definitiv nicht mehr tun darf. (...) Nur untertänig. Staatstragend. Bürgerpflichtig. Und damit nichts, womit ich was anfangen kann. Ich war mal links. (...) Bevor daraus das neue identitäre, autoritäre links wurde. (...) Dass die Liberalkonservativen (...) jetzt in dieser Zeit plötzlich die neuen Rebellen sind, macht mich ehrlich fertig.

Maschinist-Blog

Obwohl mir die linke Freude an der Selbstzerfleischung bekannt ist, stimmt es mich nachdenklich, dass Altlinke ihre ehemaligen Gesinnungsgenossen inzwischen verdächtigen, staatskritisches Verhaltens gegen aggressive Staatsraison eingetauscht zu haben.

Natürlich gibt es institutionellen und systemischen Rassismus. Natürlich gibt es rassistische Verhaltensmuster, überall auf der Welt, in jeder menschlichen Gesellschaft, unabhängig von Hautfarbe und Kultur, und jede Gesellschaft müsste sich eigentlich der Herausforderung stellen, damit umzugehen.

Ich bin mir der Problematik der Gleichbehandlung bewusst. Ich habe an einer Neuköllner Gesamtschule zwei Jahre lang ein Sportprojekt mit Jugendlichen durchgeführt, von denen keiner tief reichende deutsche Wurzeln hatte.

In Jugger, dem Sport, den ich betreibe, sind gemischte Teams eine Selbstverständlichkeit. Wenn ich Bücher schreibe, dann ziehe ich bewusst auch die Perspektive von Frauen oder queeren Menschen geistig zur Rate, um eben nicht aus eindimensionaler männlicher Perspektive zu erzählen.

Da ist eine wichtige Figur in einem Perry Rhodan NEO schwul, was aber nur in einer passenden Szene dezent und selbstverständlich Erwähnung findet, sonst nicht; da wechsle ich in Romanen gelegentlich ursprünglich automatisch männlich angelegte Figuren bewusst zu Frauen um und das bewährt sich ganz ausgezeichnet. Aber ich verbiege mich nicht dafür, zwinge den Figuren keine Sexualität auf, die sie nicht haben, verdrehe nicht ihr Wesen aufgrund eines Dogmas.

Zusammengefasst

Es kann natürlich kritisiert werden, dass eine Beurteilung der Persönlichkeit anhand dreier Beispiele kaum gerechtfertigt sei. Aber zum einen sind es nur drei exemplarisch herausgegriffene Situationen, und zum anderen sind es drei Beispiele aus dem Lebensalltag – Situationen, die unvorbereitet erlebt worden sind. Gerade im Bereich der Diskriminierung lässt sich auf akademisch-theoretische Weise leicht ein Vorwurf herbeidefinieren und zurechterklären, aber gerade hier zählt das ganz persönliche, ganz praktische Alltagsverhalten.

Daher erlaube ich mir in der Selbstbetrachtung festzustellen: Nein, ich bin weder Rassist noch Sexist. Sicher bin ich nicht frei von rassistischen Tendenzen, aber das, so bin ich überzeugt, trifft auf alle Menschen zu: Wer perfekt ist, werfe den ersten Stein. Wer den moralischen Zeigefinger erhebt und mich in rassistischer und sexistischer Weise einen "alten, weißen Mann" schimpft, den nenne ich einen Toren.

Aber ich bin ebenso wie jeder andere Mensch in der Pflicht, rassistische oder sexistische Denkmuster bei mir selbst zu erkennen und rechtzeitig gegenzusteuern. Und dies, ohne die wichtigste aller Pflichten eines jeden Bürgers und einer jeden Bürgerin in einer Demokratie zu vernachlässigen. Die lautet selbstständiges, kritisches, von moralischen Sprachrohren und angeblichen gesellschaftlichen Zwängen ungebeugtes, kritisches Denken sowie die Bereitschaft zur offenen, respektvollen Diskussion.

Schlussbemerkung

Vermutlich wird bei der Lektüre dieses Artikels wieder jemand auf Twitter "es so müde sein", dass erneut das Gleichnis "Weiß ist rassistisch" von einem "Weißen" an dieser Stelle verworfen worden ist. Nun, gegen Müdigkeit hilft Bewegung. Anstelle die sozialen Medien mit emotionsgeladenen Kurzmeinungen zu fluten, ist es da ein muntermachender Schritt, sich ganz praktisch und "draußen auf der Straße" in einem Hilfsprojekt für benachteiligte Mitmenschen, in der Jugendarbeit oder anderen Bereichen zu engagieren - egal, welcher Herkunft sie sein mögen. "Messt sie an ihren Taten" gilt für moderne Sittenwächter genauso wie für alle anderen.

Ruben Wickenhäuser gründete in der Schulzeit ein lokales Sammelbecken für Schülerdemonstrationen gegen Rassismus, war in der Anfangszeit der Aktion Courage aktiv und lebte mit seiner Familie viele Jahre in Schweden, wo er unter anderem Sportstunden für die lokale Flüchtlingsunterkunft anbot. Er studierte Geschichte und Biologie, arbeitet als Publizist und veröffentlichte unter anderem das Buch "Rassenforschung – Rassenkunde – Rassenideologie. Die Anthropologie im Spannungsfeld von Rassenideologie und Nationalsozialismus" zur Wissenschaftsgeschichte der physischen Anthropologie. Gegenwärtig arbeitet er an einem Buch zu "Rasse im Rassismus". Mehr zu seiner Arbeit unter https://www.uhusnest.de