Aus jeder Gefühls-Mücke wird ein Trauma-Elefant
Seite 2: Übernahme rechtsextremer Denk- und Argumentationsstrukturen durch einen Teil der Linken
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Konkreter sind die anderen Begriffe: "Identitätsdiskurse" sind allgemeine, auch wissenschaftliche Debatten über so verstandene Identitätsthemen. "Identitätspolitik" ist nun die seit einiger Zeit grassierende Politisierung von Identitäten. Und identitäre Bewegungen sind politische, oft extreme Bewegungen, die ihr Programm von ganz bestimmten (behaupteten) Identitäten ableiten.
Vor knapp zehn Jahren machte die - in Frankreich verbotene, in Deutschland vom Verfassungsschutz beobachtete - "Identitäre Bewegung" (IB) von sich reden. Unter diesem Schlagwort versuchten Rechtsextremisten aus Deutschland, Österreich und Italien, Rassismus und antidemokratisches Denken mit popkulturellem Auftreten, modernen Medien und aktivistischen Techniken zu verbinden, um so für eine junge Generation attraktiv zu werden.
Genau hier greift nun der Hauptvorwurf von Caroline Fourest. Mit vielen Beispielen unterfüttert, argumentiert sie, dass inzwischen die Linken die Denk- und Argumentationsstruktur der IB kopiert haben und mit eigenen Ideen füllen. Diese "identitäre Linke" ersetze Protest durch Zensur und trete als "Inquisitoren" und "Kulturtaliban" auf.
Angebliche "Grenzen des Sagbaren" und die Macht der Kulturtaliban
Wenn hier von identitätspolitischen Debatten die Rede ist, dann sind immer ein paar andere Debatten mitgemeint, denn sie stehen mit dem Thema im engsten Zusammenhang: Da ist zum einen die Frage der Integration und Berücksichtigung von Minderheiten oder von Gruppen, die aus anderen, meist historischen Gründen in der Gesellschaft zwar rechtlich, aber nicht de facto gleichberechtigt sind. Insbesondere gilt das für Frauen.
Damit zusammen hängt die Frage, ob es für zumindest manche dieser Gruppen Quoten in Parlamenten, Parteien, unter Umständen auch in der Wirtschaft, und in kulturellen Produkten wie Theaterinszenierungen oder Filmen geben sollte?
Direkt daran schließen wiederum all jene diskurspoltischen Debatten an, die wir vor allem in den letzten Jahren über "Gerechte Sprache" und "Political Correctness" führen. Ist Gendern der Sprache sinnvoll? Wenn ja: Wann und in welcher Form? Gibt es Worte, die man nicht mehr sagen darf? "Zigeunersoße"? Und wie geht man damit um, wenn sie in historischen Zusammenhängen auftauchen? Etwa der "Negerkönig" in einem Pippi-Langstrumpf-Kinderbuch.
Direkt damit verbunden ist alles, was wir neuerdings "cancel culture" nennen. Also die Neigung, missliebige Meinungen oder Sprachformen nicht nur zu kritisieren, sondern sie sofort aus dem öffentlichen Raum zu verbannen, und diejenigen die diese missliebigen Positionen vertreten, gleich mit.
Sprachpolitik und "cancel culture" werden von vielen allein schon deswegen kritisiert, weil sie zutiefst unhistorisch sind und gewissermaßen die Geschichte nachträglich umschreiben wollen oder zensieren. Besonders heikel wird es aber dann, wenn alte Texte umgeschrieben werden sollen, oder wenn auch der satirische Gebrauch von Worten und Meinungen bereits untersagt werden soll.
Man könnte jetzt auf den Fall des Kabarettisten Dieter Nuhr zu sprechen kommen, der mehrfach zum Opfer von Online-Shitstorms und politisch motivierten Verbotsattacken wurde. Oder auf das für manche wichtige Thema "Blackfacing", also schwarzes Make-Up auf weißen Gesichtern. Das alles treibt oft absurde Blüten: Erst vor wenigen Wochen musste sich eine Spitzenkandidatin der Berliner Grünen öffentlich für "unreflektierte Kindheitserinnerungen“ entschuldigen. Sie hatte auf die Frage, was sie als Kind gern geworden wäre, mit "Indianerhäuptling" geantwortet.
Auch "Indianer" gilt manchen selbsternannten Zensoren neuerdings als unsagbar. Der inhaltliche Kern, denn alle diese vielen kleinen Diskussionen gemeinsam haben, ist die Frage der Meinungsfreiheit. Gibt es Grenzen des Sagbaren? Und falls ja: Wo liegen sie?
Eine Form des Meinungskolonialismus: Amerikanisierung europäischer Debatten
Was allen diesen Debatten auch gemeinsam ist, und noch zu wenig diskutiert wird, ist, dass sie fast alle ursprünglich aus Nordamerika kommen. In den USA war "political correctness" ursprünglich eine Erfindung der äußersten Rechten, mit denen sie freiheitlich-universalistischen Tendenzen und der von ihnen behaupteten Meinungsdiktatur angeblich existierender "liberaler Eliten" entgegentreten wollten.
In den späten 1980er und 1990er Jahren drehte sich dann der weltanschauliche Wind, und Linke und Linksliberale, also jene politischen Gruppen, die einst gegen alle Art von Zensur gesellschaftliche Freiheiten erkämpft hatten, schlüpften in die Rolle von Zensoren.
Aus den amerikanischen Universitäten und unterstützt von der grundsätzlichen Amerika-Fixiertheit und -Hörigkeit der europäischen Leitmedien schwappen diese Minderheitsdiskurse nun, vor allem verstärkt durch die Präsidentschaft Trumps nach Europa über. Meinungskolonialismus in Form von Amerikanisierung europäischer Debatten.
Die säkulare, nicht-identitäre Linke und die liberale Mitte wissen sich vorerst nicht adäquat dagegen zu wehren. "Wir leben in einer Zeit", so Fourest, "in der ein Antisemit, ein Nazi oder ein Islamist ohne größere Probleme seine Weltanschauungen auf den sozialen Medien verbreiten kann, während es für radikal säkulare Linke immer schwieriger wird, ihre Ansichten zu vertreten. Und zwar auch, weil sie von diesem Teil der Linken, den identitären Linken, daran gehindert wird".
So geschehe es, "dass Bewegungen, die den Anspruch erheben, fortschrittlich zu sein, die Sache der Frauen oder die Redefreiheit verraten, um sich mit intoleranten Aktivisten zu verbünden, deren regressive Weltanschauung für Freiheit nichts übrighat. Das müssen wir heute in Europa feststellen. Studenten der extremen Linken und militante Islamisten protestieren zuweilen Hand in Hand, manchmal auch gewalttätig, gegen Verfechter einer universalistischen, feministischen und säkularen Linken, denen sie Veranstaltungen an Universitäten verbieten wollen".
Was ist die Ursache für all das?
Was ist die Ursache für all das? Fourest sieht sie in der Überempfindlichkeit vor allem der zwischen 1990 und 2010 geborenen Millennials. Der "Generation beleidigt". Es handelt sich hier um junge Erwachsene, denen zumindest formal alle Türen offenstehen. Zugleich gelten sie als wählerisch, als wenig leistungsbereit und als überfordert vom Markt der Möglichkeiten. Trotz ihrer vielen Chancen macht Zukunftsangst und ein Perfektionismus, der sie innerlich zwingt, alle Erwartungen zu erfüllen, manche von ihnen krank.
Das ist die Überempfindlichkeit, von der die Autorin spricht: Während frühere Generationen aktiv sein wollten und in sich selbst entweder den Helden oder zumindest den heroischen Antihelden zu entdecken versuchten, tritt an deren Stelle heute, wie es den Anschein hat, ein Wettbewerb des Mitgefühls: Jeder möchte ein Opfer sein und entdeckt in sich eine Opfergeschichte oder ein Trauma.
Wenn man sich nicht qua Geburt - als Frau oder Migrant oder als religiöse oder sexuelle Minderheit - zum Opfer erklären kann, dann ist man missbraucht worden, sexuell oder durch mobbende Mitschüler, von Eltern oder strengen Lehrern diskriminiert. Und erschüttert durch Nachrichtenbilder, Werbefotografien oder Filme.
Die neue Mode der "Triggerwarnungen", der Sätze, die sich inzwischen nicht mehr nur vor Filmen, sondern auch auf den ersten Seiten von neuen Romanen finden: "Die folgende Handlung könnte ihre Gefühle verletzen"; "eine Figur in der folgenden Geschichte benutzt diskriminierende Sprache".
Überidentifikation mit Opfern
Diese Überempfindlichkeit kann man sozialpsychologisch erklären. Ursache wären dann zum Beispiel unbewusste Schuldgefühle und das schlechte Gewissen einer satten, verwöhnten Generation gegenüber den Älteren, die es schwerer hatten. Oder gegenüber all jenen außerhalb der Wohlstandländer, die es schlechter haben. Also eine Überidentifikation mit anderen Opfern; eine Ich-Schwäche. Oder das bekannte Problem, das sich in der Formel ausdrückt: Wer keine Probleme hat, der macht sich welche. Aber die Tatsache, dass man das Phänomen erklären und verstehen kann, macht es nicht besser.
Im Gegenteil beginnen die liberalen Demokratien gerade zu verstehen, dass man Identitätspolitik und identitäres Denken aktiv bekämpfen muss. Tut man es nicht, zerstört es auf die Dauer die Grundlagen einer offenen Gesellschaft. Denn Identitätspolitik bestreitet die Gleichheit aller Menschen und die Freiheit aller "Privilegierten". Sie ist ein unterdrückendes Denken, dass sich gegen den Universalismus und die Aufklärung stellt.
"Gestern kämpften Minderheiten gemeinsam gegen Ungleichheiten und patriarchale Herrschaft", schreibt Fourest.
"Heute kämpfen sie, um herauszufinden, ob der Feminismus 'weiß' oder 'schwarz' ist. Der Kampf der Rassen hat den der Klassen verdrängt. Die Frage: 'Von wo sprichst du, Genosse?', die der gesellschaftlichen Klassenlage entsprechende Schuldgefühle erzeugen sollte, hat sich in Identitätskontrolle verwandelt: 'Sag mir, welcher Herkunft du bist, und ich werde dir sagen, ob du reden darfst!'"
Fourest argumentiert auch, dass es dieser identitären Linken gar nicht um Inhalte geht, sondern um politisch-kulturelle Hegemonie und Macht:
"In meinem Buch will ich zeigen, dass diese Strömung den Vorwurf der kulturellen Aneignung so instrumentalisiert wie der türkische Präsident Erdogan den Islam: Es geht ihnen darum, jene zum Schweigen zu bringen, die nicht ihrer Meinung sind."
Die Gesellschaft als Setzkasten
Das Gesellschaftsbild aller Identitären ist das einer Gesellschaft als Mosaik und Flickenteppich oder noch genauer gesagt: als Setzkasten, lauter Identitäts-Boxen mit starren Grenzen. Jeder Mensch gehört in eine bestimmte kleine Box unter vielen anderen bestimmten kleinen Boxen. Es liegt auf der Hand, wie lebensfremd diese Vorstellung ist. Denn identitäres Denken tendiert dazu, die Gesellschaft immer weiter zu spalten und jede Identität immer weiter in immer kleinere Sub-Identitäten aufzusplittern.
Zwei sehr unterschiedliche Felder, auf denen man das gut beobachten kann, sind beispielsweise die spanische Politik, in der übertriebene regionale Autonomie-Statute die Gesellschaft nicht etwa zusammengeführt, sondern immer weiter gespalten und seperatistische Tendenzen gefördert haben. Oder die immer neuen Zellteilungen des Protestantismus seit Martin Luther.
Irgendwann kennt sich somit selbst unter den Anwälten des Identitären niemand mehr aus. Das Resultat ist ein politisch-kultureller Absolutismus. Schon Ende der 70er Jahre, hat sich die ersten Tendenzen identitären Denkens vor allem in der 1968 gescheiterten extremen Linken andeuteten, hat die berühmt-berüchtigte britischer Komiker Gruppe "Monty Pythons" dafür ein wunderbar verrücktes Bild gefunden.
In ihrem Film "Das Leben des Brian" trifft der Held im Jahre 30n.Chr. irgendwann auf eine "Judäische Befreiungsfront". Deren härtester Gegner ist nicht etwa die römische Besatzungsmacht, sondern die "Volksfront für die Befreiung von Judäa". Und die "Populäre Front von Judäa". Und die "Kampagne für ein freies Judäa". Und die "Befreiungsfront des Judäischen Volkes", und die "Grüne Liste für judäische Selbstbestimmung innerhalb des Imperium Romanum".
Solange es so weitergeht, ist vom identitären Widerstand nicht viel zu befürchten.
Fourest, Caroline: "Generation Beleidigt. Von der Sprachpolizei zur Gedankenpolizei. Über den wachsenden Einfluss linker Identitärer. Eine Kritik"; Edition Tiamat, Berlin 2020; 144 Seiten; 18 Euro
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