Blockade von Leningrad: "Der Erinnerungsarbeit, die in die Zukunft weist, verpflichtet"

Leningrader verlassen im Dezember 1942 ihre zerbombten Häuser. Bild: RIA Novosti Archiv, Bild #2153 / Boris Kudoyarov / CC-BY-SA 3.0

Steht das Gedenken in Deutschland im Verhältnis zu Ausmaß und Schuld? Der geplante Hungertod von Millionen (Teil 3 und Schluss).

Am 27. Januar 1944 endete "die größte demografische Katastrophe, die eine Stadt in der Geschichte der Menschheit jemals erfahren musste" (John Barber). Ganze 872 Tage hatten die Einwohner der Stadt gehungert. Rund eine Million Zivilisten starben hierbei.

Im ersten Teil der Artikelserie wurde die Blockade dargestellt und die deutsche Entscheidung eine Kapitulation Leningrads, falls diese erfolgen sollte, nicht anzunehmen, die 3,2 Millionen Einwohner also dem Hungertod geweiht waren. Im zweiten Teil kamen Stimmen der Opfer zu Wort.

Im zweiten Teil kamen Stimmen der Opfer zu Wort.

In diesem Artikel soll das deutsche Gedenken an die Blockade von Leningrad näher untersucht werden.

Erinnerungsschwäche

Jahrzehntelang wurde die Aushungerung Leningrads in der BRD "zu einer normalen Belagerung marginalisiert", wie der Historiker Wigbert Benz betont. Bis in die 1980er-Jahre hinein war die allgemeine Auffassung, die Wehrmacht habe nur zum Mittel der Aushungerung der Stadt gegriffen, weil es ihr nicht gelang, sie einzunehmen.

Historiker wandten sich daher explizit dagegen, die Blockade von Leningrad als Kriegsverbrechen einzustufen: So tragisch diese Vorgänge auch gewesen seien mögen, Vorwürfe gegen die deutsche Kriegsführung würden jeder Grundlage entbehren.

Denn Belagerung und Beschuss einer sich verteidigenden Stadt gehöre zu den gebräuchlichen und unbestrittenen Methoden der Kriegführung. Sie sei eine normale militärische Operation. Bis 1990 gab es in der Bundesrepublik daher keine Form von offizieller Erinnerung an die Leningrader Blockade, wie der Osteuropahistoriker Hans-Christian Petersen betont.

Der Historiker Volker Ulrich schreibt:

Es war eines der schlimmsten deutschen Kriegsverbrechen, das überhaupt zur Kenntnis zu nehmen, man sich in der Bundesrepublik jedoch bis in die 90er Jahre hinein geweigert hat.

BRD: Schlacht von Stalingrad wurde zentraler Erinnerungsort

Zum zentralen Erinnerungsort des deutsch-sowjetischen Krieges wurde in der Bundesrepublik nicht Leningrad, sondern die Schlacht von Stalingrad.

Das Gedenken an das Schicksal der Sechsten Armee bestimmte die Art und Weise, wie die Westdeutschen den Krieg gegen die Sowjetunion gedachten, "den größten Gewaltexzess in der modernen Menschheitsgeschichte" (Wolfram Wette), der aufseiten der Sowjetunion 27 Millionen Menschenleben forderte.

Die Erinnerung in der DDR

In der DDR wurde hingegen der Blockade von Anfang an gedacht und war entsprechend präsent. Dabei übernahm die DDR aber das sowjetische Heldennarrativ. Leningrad galt darin als Stadt, die den "faschistischen Angreifern" heroisch Widerstand geleistet und dank seiner Aufopferung überlebt hatte.

Ein Zusammenhang zwischen der Aushungerungsstrategie und der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik wurde nicht gezogen.

Im Fokus stand der Sieg der Roten Armee. Als Kriegsverbrechen an den Leningradern wurde die Geschichte jedoch nirgendwo erzählt.

Nach der Wiedervereinigung Deutschlands wird schließlich auch das Leid der belagerten Leningrader thematisiert.

"Dieser Wandel im deutschen Gedächtnis hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass die bislang getrennten Formen der Erinnerung in Ost und West zusammengeführt werden", erklärt der Historiker Jörg Ganzenmüller.

Zurückhaltendes Gedenken

Im Jahr 2001 war erstmals ein deutsches Staatsoberhaupt bereit, ein deutliches Zeichen an die Erinnerung der Blockade Leningrads zu setzen.

Der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder legte gemeinsam mit Präsident Wladimir Putin, dessen ältester Bruder in der Blockade verstorben war, auf dem zentralen Gedenkort der Blockadeopfer in Leningrad einen Kranz nieder. Symbolisch wurde so das Leiden der Leningrader Bevölkerung während der deutschen Belagerung anerkannt.

Vor genau zehn Jahren lud dann der Deutsche Bundestag am Tag des "Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus" und dem 70. Jahrestag der Befreiung Leningrads, Daniil Granin ein, um eine Gedenkrede zu halten. Granin ist gemeinsam mit Ales Adamowitsch Autor des tief beeindruckenden "Blockadebuches", das der Aufbau-Verlag vor wenigen Jahren neu aufgelegt hat.

Am selben Tag schrieb der ehemalige Bundespräsident Joachim Gauck an den russischen Präsidenten:

Deutschland ist sich seiner geschichtlichen Verantwortung für das Leid, das den Einwohnern Leningrads angetan wurde, und für die brutale Kriegsführung seiner Soldaten, Einsatzgruppen und SS-Formationen bewusst.

Die Blockade Leningrads sei Teil der "verbrecherischen Kriegsführung" gewesen, "welche die nationalsozialistische Führung gerade im Kampf gegen die Sowjetunion ganz bewusst betrieb".

Bekenntnis zu Verantwortung und Wunsch nach Versöhnung

Im Zuge des 75. Jahrestages der Befreiung kündigte die Bundesregierung an, die noch lebenden Opfer der Blockade sowie Projekte zur deutsch-russischen Verständigung mit rund zwölf Millionen Euro zu unterstützen.

Als der damalige Außenminister Heiko Maas im Zusammenhang dieser Geste ein Jahr später nach Sankt Petersburg reiste, sagte er:

Wir blicken nach wie vor fassungslos und voller Scham auf die Schicksale und Erinnerungen der Überlebenden. Sie stehen für die unerträgliche Brutalität, mit der die deutsche Wehrmacht Leningrad und seine Bewohner vernichten wollte.

Ein Kriegsverbrechen – begangen von uns Deutschen. So barbarisch, dass man die Bitte um Vergebung auch 75 Jahre nach Kriegsende kaum auszusprechen wagt, ganz besonders als deutscher Außenminister. Und dennoch hoffe ich darauf. Ich bitte Sie alle, dies als ein aufrichtiges Bekenntnis zu deutscher Verantwortung für das millionenfache Unrecht zu betrachten, das hier geschehen ist – getragen von unserem tiefen Wunsch nach Versöhnung.

Ein Jahr später berichtet Maas bei einer Rede im Bundestag von seiner Reise und seinen Begegnungen mit Überlebenden der Blockade:

Der grausame Tod von einer Million Menschen in der von der Wehrmacht belagerten Stadt war eines der schlimmsten Kriegsverbrechen des Zweiten Weltkrieges.

Ich habe Sankt Petersburg zuletzt vergangenen August besucht und dort mit Überlebenden der Blockade gesprochen. Wer die Erinnerungen dieser Menschen gehört hat, wer gehört hat, was dort geschehen ist, was ihnen widerfahren ist, was ihnen angetan wurde, der wird das nie wieder vergessen.

Und wer ihren Willen zur Versöhnung gespürt hat, der steht in der Pflicht, dieses Geschenk anzunehmen durch eine Erinnerungsarbeit, die in die Zukunft weist. Dem fühlen wir uns auch verpflichtet.

Entschädigung mit Einschränkung

Seit einigen Monaten beklagt die russische Regierung die deutschen Entschädigungszahlungen. Maria Sacharowa, Sprecherin des russischen Außenministeriums, kritisierte im Juli, dass zwar jüdische Blockade-Opfer individuell entschädigt würden, russische und andere Opfer hingegen nicht. Sie sprach in diesem Zusammenhang sogar von "rassische Diskriminierung".

Aus Sicht der Bundesregierung ist die Entschädigung nichtjüdischer Opfer aber mit den Reparationen an die Sowjetunion unmittelbar nach dem Krieg geregelt worden. Auf eine Kleine Anfrage einiger Abgeordneter der Partei Die Linke antworte die Regierung:

Schädigungen, die nicht aus rassisch motivierter Verfolgung, sondern aus allgemeinen Kriegshandlungen herrühren, fallen unter das allgemeine Völkerrecht und werden nicht durch individuellen Schadenersatz, sondern durch Reparationsvereinbarungen von Staat zu Staat geregelt.

Es obliegt dem Staat, der Reparationen empfangen hat, die individuellen Schäden auf seinem Territorium auszugleichen und seine durch den Krieg geschädigten Bürger in angemessener Weise zu entschädigen. Die frühere Sowjetunion hat in erheblichem Umfang Reparationen vereinnahmt und im August 1953 auf weitere deutsche Reparationsleistungen verzichtet.

So juristisch sauber die Erklärung, so erstaunlich die Verwendung des Begriffs "allgemeine Kriegshandlung" im Hinblick auf die Blockade von Leningrad.

Die Diskussion geht aber auch darüber, ob es bei der Blockade um ein Kriegsverbrechen oder einen Genozid handelt.