Monitor-Reporter Stephan Stuchlik über seine Recherchen, wer am 20. Februar auf Demonstranten und Polizisten geschossen hat und warum die ukrainische Regierung und die Medien nicht an Aufklärung interessiert sind
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Wer waren die Todesschützen vom Maidan? Dieser Frage ist Reporter Stephan Stuchlik zusammen mit Olga Sviridenko und Philipp Jahn für das ARD/WDR Politikmagazin Monitor nachgegangen. Am Donnerstag strahlte die ARD das Ergebnis seiner Recherchen in einem vielbeachteten Beitrag aus (Wer waren die Scharfschützen des Maidan?).
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Zweifel an dem Blutbad vom 20. Februar dieses Jahres gab es früh. Während in den westlichen Medien schnell davon ausgegangen wurde, eine regierungstreue Spezialeinheit sei für das Massaker verantwortlich, tauchten im Internet Videos auf, die den Verdacht nahelegten, dass gezielte Schüsse aus dem Lager der Oppositionellen abgefeuert wurden.
Stephan Stuchlik wollte wissen, was an den Gerüchten dran ist und ist in die Ukraine gereist. Er hat vor Ort recherchiert und schnell festgestellt: Es erscheint "unwahrscheinlich, dass die tödlichen Schüsse auf Demonstranten ausschließlich von Seiten des alten Regimes ausgingen". Im Interview mit Telepolis erzählt Stuchlik von seinen Recherchen, geht auf den Begriff "Verschwörungstheorien" ein und erklärt, was ihn dazu gebracht hat, sich der Sache als Journalist anzunehmen.
"Die Beschäftigung der westlichen Medien mit der Frage ist geradezu fahrlässig gering"
: Herr Stuchlik, Sie waren vor kurzem in der Ukraine und haben in Sachen Scharfschützen auf dem Maidan recherchiert. Warum ist das für Sie als Reporter ein Thema?
Stephan Stuchlik: Die Frage, wer für die Todesschüsse auf dem Maidan verantwortlich ist, ist natürlich eine wichtige Frage für die Ukraine, in deren Hauptstadt zig Menschen erschossen wurden, aber sie ist vor allem zentral für die europäische Politik: Mit ihr steht und fällt ein großer Teil der Glaubwürdigkeit der neuen ukrainischen Führung, mit der die Europäer zusammenarbeiten wollen. Nicht umsonst hat man im Abkommen vom 21. Februar, das auch Außenminister Steinmeier mit ausgehandelt hat, eine "ergebnisoffene Untersuchung" der tragischen Ereignisse sogar per Abkommen vereinbart.
Gemessen an der enormen Bedeutung der Schuldfrage - sehen Sie sich dazu einfach einmal den ideologischen Kampf an, der dazu im Internet tobt -, ist die Beschäftigung der westlichen Medien mit der Frage geradezu fahrlässig gering. Das war für uns von der Redaktion Monitor Anlass genug zu sagen, wir fliegen in die Ukraine und recherchieren vor Ort.
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Wie erklären Sie sich, dass sich das journalistische Rechercheinteresse zu dem Geschehen offensichtlich so gering hält? Immerhin sind bereits über sieben Wochen vergangen. Zuletzt wurde weitestgehend unkritisch die Meldung des ukrainischen Innenministeriums übernommen, wonach man die Scharfschützen gefasst hat.
Stephan Stuchlik: Die Ukraine war auch vor den Ereignissen der letzten Monate schwierig mit Maßstäben westlicher Staaten zu messen, in der jetzigen Situation ist es dazu noch ein instabiler Staat geworden, in dem es kaum mehr normale Abläufe, auch in Regierung und Verwaltung, gibt. Zudem trifft man in Kiew auf kaum einen Gesprächspartner, der nicht von den Ereignissen in der einen oder anderen Weise mitgenommen oder gar traumatisiert wäre. Also: Der Schuldfrage trotzdem nachzugehen, ist sehr mühsam und zeitaufwendig. Die meisten Medien haben jetzt ihr Interesse zu den aktuellen Ereignissen im Osten der Ukraine und der Frage "Konflikt mit Russland?" verschoben, das ist verständlich, aber natürlich, aufs Ganze gesehen, etwas kurzsichtig.
Wir gehen mal davon aus, dass Sie selbst die Nachrichten in Sachen Krim-Krise gespannt verfolgen, also selbst Medien rezipieren. Was ist ihr Eindruck: Kann es sein, dass es, was die derzeitige Berichterstattung in Sachen Ukraine, Krim, Russland angeht, einen oder mehrere blinde Flecke in den Medien gibt?
Stephan Stuchlik: Ich habe selbst von Anfang März weg mehrere Wochen von der Krim berichtet, da musste man jeden Tag alarmierende Meldungen der einen oder der anderen Seite mühsam nachrecherchieren und klären - oft mit sehr überraschenden Ergebnissen. Auch in Simferopol gäbe es einige grundsätzliche Fragen zu klären, die eine ganz andere Herangehensweise als die der aktuellen Berichterstattung erfordern. Diese Fragen - ich nenne stellvertretend nur die nach der Teilnahme russischer Truppen an der Okkupation der Krim - nehmen zu Recht in Diskussionen im Internet einen enorm großen Raum ein, wenngleich von jeder der Seiten (pro-russisch vs. pro-ukrainisch) absonderliche Theorien und angebliches Beweismaterial verwendet wird. Und: Sowohl die ukrainischen als auch die russischen Medien verbreiten ideologisch gefärbte Berichte dieser Ereignisse. Warum wird darüber beinahe mit allen Mitteln gestritten und diskutiert?
Ja, warum?
Stephan Stuchlik: Weil neben der aktuellen Entwicklung die Fragen an der ursächlichen Beteiligung an beiden Wendepunkten der aktuellen Krise (die Schießereien auf dem Maidan, die Besetzung der Krim) natürlich die wesentlichen sind, um zu verstehen, wer ist schuld? Wer hat agiert? Wer hat reagiert? Bei dem Maidan-Massaker halte ich es für ein großes Versagen der aktuellen Staatsanwaltschaft, nicht ergebnisoffen zu ermitteln. Wäre es so, würden viele der Verschwörungstheorien von selbst verschwinden. Aber man sollte sich auch in den Redaktionen die Frage stellen, wie viel uns eine wirkliche Recherche in diesen Fragen noch wert ist in einem Umfeld, in dem in so einer Krise vor allem auf schnelle journalistische Reaktionen Wert gelegt wird.
Vieles, was optisch so eindeutig daherkommt, hat eine andere Erklärung als die augenscheinliche.
Nochmal zu den Scharfschützen: Schon früh gab es diverse Videos, Aussagen von Augenzeugen und Hinweise, dass mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht nur von vorne, von den Regierungsgebäuden geschossen wurde, sondern auch von hinten, also aus einer Gegend, in der die Oppositionellen versammelt waren.
Nun kann man argumentieren, dass ein oder mehrere Videos auf YouTube noch kein Beweis für irgendetwas sind und man als seriös arbeitender Journalist nicht einfach irgendwelche Videos, die sich im Internet finden, glauben schenken sollte. Andererseits: Ist das nicht eine der Herausforderungen, die heutzutage an Journalisten gestellt werden: Sich auch möglicherweise zweifelhaften Informationen, die sich im Netz finden, anzunehmen und die Bereitschaft mitzubringen, ein zweites Mal hinzuschauen und selbst nach zu recherchieren? Immerhin haben Sie so nun "Ihre" Geschichte erhalten, die viel Beachtung gefunden hat.
Stephan Stuchlik: Nachdem sich herumgesprochen hatte, dass wir in Kiew so eine Recherche begonnen hatten, wurden meine Co-Autoren Olga Sviridenko, Philipp Jahn und ich mit angeblichem Beweismaterial (Audio/Video /Dokumenten) aus dem Internet geradezu überschüttet, nach der Sendung wurden wir beschimpft, warum wir das eine oder das andere nicht berücksichtigt hätten. Meine klare Meinung: Bei einer so schwierigen Situation wie etwa dem "blutigen Donnerstag" auf dem Maidan beweist etwa ein Video allein sehr wenig, bei einigen Bildaufzeichnungen sind wir sogar zur Überzeugung gelangt, dass sie mit falschen Datums- oder Ortsangaben ins Netz gestellt wurden.
Es klingt wie eine Binsenweisheit, aber man muss vor Ort überprüfen, wie sehr so eine Aufnahme mit den Gegebenheiten dort korreliert. Ich wundere mich in diesem Zusammenhang, ehrlich gesagt, schon, wie unkritisch gerade in der aktuellen Berichterstattung Bildmaterial eingesetzt wird - zum Teil über Bildagenturen verbreitet -, dessen Herkunft und Authentizität schwer oder gar nicht zu überprüfen ist. Als wir etwa erfahren haben, dass es eine Audio-Aufzeichnung des Funkverkehrs von Janukowitschs Scharfschützen geben soll, war es uns wichtig, den Funkamateur ausfindig zu machen und zu treffen, der das Gespräch aufgezeichnet haben soll, um zu sehen: Hat er technisch eine einleuchtende Erklärung, wie er es gemacht hat? Kann er uns technisch vormachen, wie es funktioniert? Hat er andere Interessen? Ist er parteiisch? Dann haben wir uns den Jargon angehört, in der die Leute im Funkverkehr miteinander sprechen und dann entschieden: Das Dokument ist mit großer Wahrscheinlichkeit glaubhaft.
Versuchen Sie aber mal, so eine mühsame Prüfung mit den über hundert Videodokumenten zu machen (einzelne davon sind zum Teil über eine Stunde lang), die allein über den 20. Februar im Internet zugänglich sind oder uns angeboten wurden. Da ist es wichtig, auch noch einmal mit den Beteiligten zu sprechen, die da angeblich zu sehen sind, und man wird schnell feststellen: Vieles, was optisch so eindeutig daherkommt, hat eine andere Erklärung als die augenscheinliche. Wer sieht, wie ein und dasselbe Bildmaterial mit verschiedenen Kommentierungen etwa im ukrainischen oder russischen Fernsehen einen vollständig unterschiedlichen Eindruck erweckt, der kann sich vorstellen, wie wichtig das Gespräch vor Ort ist.
Ihnen ist bestimmt auch aufgefallen, dass es eine Spaltung zwischen der Berichterstattung bzw. der Meinung vieler großer Medien und der Meinung und Ansichten der Leser gibt. Rasch tauchen Begriffe wie false flag, Strategie der Spannung usw. auf. Die Leser bzw. die Mediennutzer, so hat es zumindest den Anschein, scheinen viel eher die "geostrategische Komponente" mitzudenken, wenn Sie ein so gravierendes politisches Geschehen, wie es derzeit in Sachen Krimkrise zu beobachten ist, als es so manche Redaktion tut. Sind die Mediennutzer nun alle Verschwörungstheoretiker?
Stephan Stuchlik: Wie in jeder Krise der Neuzeit tobt in den Medien besonders der betroffenen Länder eine regelrechte Schlacht um die Hoheit über Bild und Ton, man versucht zu beweisen, dass man selbst im Recht und der andere im Unrecht ist. Das ist nun keine neue Erkenntnis.
Für mich neu und zum Teil schmerzhaft war, wie heftig manche Kollegen im Westen auf unsere Recherchen reagiert haben, Kollegen, die sich anscheinend als Sympathisanten der einen oder der anderen Seite fühlen. So sehr ich von der pro-russischen Seite für meine Berichterstattung von der Krim angefeindet wurde, so sehr stehe ich jetzt unter der Kritik der Gegenseite. Daher ist es mir wichtig, hier noch einmal festzustellen: Ich mache meinen Job. Wenn ich im konkreten Fall den Verdacht habe, dass ein Generalstaatsanwalt der neuen ukrainischen Regierung in so einer immens wichtigen Frage offenen Spuren augenscheinlich nicht nachgehen will, hake ich nach.
Wer glaubt, kritische Berichterstattung gegenüber der neuen Führung in Kiew schade den an sich guten Absichten der Revolutionäre, verkennt die politische Lage im Land, in dem sich schon sehr schnell die neue politische Klasse, die wir kritisieren, von den ursprünglichen Revolutionären abgesetzt hat. Und: Er verkennt das Wesen unseres Jobs. Wir sollten uns vom aktuellen Meinungskampf nicht in der Art anstecken lassen, dass wir die ergebnisoffene Recherche vernachlässigen. Wenn jemand Fehler macht und wir glauben, die Beweise dafür zu haben, sollte man das gerade in so einer wichtigen Frage wie der der Schuldfrage in Kiew auch äußern und diese Beweise veröffentlichen.
Mittlerweile kann man besonders im Internet so ziemlich jede Version der Ereignisse ungestraft als Verschwörungstheorie bezeichnen
Mal allgemein formuliert: Wer vermutet, dass eine offizielle Lesart nicht der Wahrheit entspricht, oder wer meint, dass hinter einer Tat, einem Verbrechen, jemand anderes steckt, als es, sagen wir: regierungsamtlich verlautet wird, setzt sich schnell dem Ruf aus, einer Verschwörungstheorie verfallen zu sein. Ist man Ihnen im Hinblick auf ihre Recherchen mit dem Vorwurf begegnet, ein Verschwörungstheoretiker zu sein?
Stephan Stuchlik: Sehen Sie, Verschwörungstheorien sind so definiert, dass sie einer eigentlich vernünftig nachvollziehbaren Argumentation ein relativ, sagen wir, phantasievolles, möglichst umfassendes Gegenbild entgegensetzen, meistens mit einem sehr einfachen Erklärungsmuster für sehr komplizierte Phänomene. In unserem Fall war es umgekehrt: Wir hatten ein sehr einfaches Erklärungsmuster von Seiten der ukrainischen Generalstaatsanwaltschaft präsentiert bekommen und haben, davon ausgehend, versucht zu zeigen, wie kompliziert die Realität gewesen ist und wie sehr sie sich gerade einem einfachen Deutungsmuster (wie etwa dem der Staatsanwaltschaft) entzieht. Mir ist viel vorgeworfen worden in Zusammenhang mit diesem Fall, aber als Verschwörungstheoretiker hat mich noch keiner bezeichnet.
Wie sehen Sie das: Ist es nicht so, dass der Begriff Verschwörungstheorie längst zu einem Kampfbegriff geworden ist. Er ist so negativ konnotiert, dass alleine schon die Verwendung des Begriffs zu einer Art Stigma führt. Ist es nicht Zeit, dass wir als Journalisten mit dem Begriff reflektierter umgehen und unsere Arbeit nicht davon leiten lassen, was als Verschwörungstheorie gilt und was nicht?
Stephan Stuchlik: Sie haben Recht, mittlerweile kann man besonders im Internet so ziemlich jede Version der Ereignisse ungestraft als Verschwörungstheorie bezeichnen. Der Begriff ist ein inflationärer Kampfbegriff. Für die journalistische Arbeit ist doch nur relevant: Ist eine Frage, mit der ich mich beschäftige, wichtig? Gibt es berechtigte Zweifel an der momentan gültigen Version dazu? Ist man in der Lage, diese Version zu überprüfen? Hat man eine Redaktion im Rücken, die willens ist, so eine ergebnisoffene Recherche zu unterstützen und mitzutragen? Ob irgendjemand eine Version der Ereignisse im Internet als Verschwörungstheorie bezeichnet, sollte nicht Maßstab unserer Arbeit sein.
Nun mal weiter zu Ihren Recherchen: Wie lange haben Sie für ihre Geschichte recherchiert?
Stephan Stuchlik: Insgesamt war unser Team in unterschiedlichen Zusammensetzungen drei Wochen in Kiew.
Was haben genau Sie herausgefunden?
Stephan Stuchlik: Die Staatsanwaltschaft sagt: Wir wissen, wer schuldig war, es waren die Janukowitsch-Leute, wir kennen die Berkut-Soldaten, die für das Massaker verantwortlich waren. Wir glauben genügend Beweise und Augenzeugenberichte zu haben, die zeigen: So einfach kann es nicht gewesen sein.
Zum einen wurde den Demonstranten an diesem Tag augenscheinlich in den Rücken geschossen, das ist deswegen wichtig, weil sich im Rücken der Demonstranten mit dem Hotel Ukraina am 20. Februar eigentlich eines ihrer Hauptquartiere befand. Dann ist im Funkverkehr der Janukowitsch-Scharfschützen zu hören, wie die sich wundern, dass da Leute umgebracht werden - und zwar von professionellen Schützen, die sie nicht kennen. Wer hat da noch mitgeschossen? Warum sagt uns ein Arzt, er habe aus Verwundeten und Toten beider Seiten dieselbe Art Kugeln herausoperiert? Wieso wurde mit großer Wahrscheinlichkeit aus der einen Richtung auf beide Parteien, also auf die Opposition und auf die Miliz geschossen?
Ich kann nicht, wie mir von vielen unterstellt wird, sagen, diese oder jene Leute waren verantwortlich, vor allem: das waren etwa radikale Kräfte der Opposition selbst, die Chaos säen wollten, die die Schuld Janukowitsch in die Schuhe schieben wollten oder ähnliches. Aber es gibt Spuren, die genau in dieser Richtung Fragen aufwerfen. Bei der Wichtigkeit dieser Fragen: Warum lassen die offiziellen Ermittler diese Merkwürdigkeiten gänzlich unbeantwortet? Warum wird bestimmten Spuren - das sagen uns auch hochrangige interne Ermittler - augenscheinlich nicht nachgegangen? Ist es wirklich so, wie sich einer der Anwälte der Nebenklage uns gegenüber geäußert hat, dass die Staatsanwaltschaft parteiisch ist? Versucht Oleg Magnitskij von der rechtsnationalen Svoboda-Partei am Ende irgendjemand zu decken? Wenn nein, sollte er schleunigst Beweise für seine Version des Tathergangs auf den Tisch legen und uns eine befriedigende Antwort auf die eben genannten offenen Fragen präsentieren.
Aus Ihrem Beitrag für Monitor wird ersichtlich, dass es einen großen Unmut über die Ermittlungsarbeit gibt. Anwälte der Opfer und Hinterbliebenen gehen mit den Ermittlungen scharf ins Gericht. Sie haben es ja schon ansatzweise dargelegt: Einen echten Aufklärungswillen vonseiten der neuen Regierung scheint es nicht zu geben.
Stephan Stuchlik: Wir haben mit sehr viel Menschen gesprochen, darunter auch mit vielen, deren Aussagen und Beweisstücke unserer Meinung nach für die Klärung der vielen offenen Fragen wichtig wären. Es waren Leute darunter, die sich selbst schriftlich an die Generalstaatsanwaltschaft gerichtet und gesagt haben: "Achtung, ich glaube, ich habe da ein wichtiges Dokument, ich kann zur Klärung der Situation um soundsoviel Uhr wesentliches beitragen." Niemand hat auch nur eine Rückmeldung bekommen.
Ich kann nicht beurteilen, ob der Staatsanwaltschaft in diesen Fällen die Erkenntnisse auf andere Art und Weise zugänglich waren, als Signal aber ist so ein Verhalten natürlich fatal. Es ist für mich ein Zeichen dafür, wie sehr sich die neue Regierung in einem Politbetrieb einzurichten versucht, der sich mehr und mehr von den Menschen löst, die sie mit ihrem persönlichen Engagement an die Regierung gebracht haben. Wenn bei so einem schwierigen Tathergang nach wenigen Wochen bereits Schuldige präsentiert werden, zu einem Zeitpunkt, an dem in unseren Augen wichtige Zeugen noch gar nicht gehört wurden, dann bringt das natürlich auch die Basis der neuen Regierung in der Bevölkerung ins Wanken, das können Sie sich vorstellen.
Ich habe eine Szene miterlebt, wo ein Rada-Abgeordneter vor der Tür des Parlaments von wütenden Passanten angegangen wurde, etwa mit der Botschaft: "Wir haben hier unseren Kopf hingehalten und ihr wollt mal wieder alles unter der Decke halten." Ich kann diesen Unmut nach meinen zwei Wochen in Kiew durchaus verstehen.
In Ihrem Beitrag ist zu sehen, dass der Tatort längst noch nicht sauber abgesucht wurde, noch immer Patronenhülsen gefunden werden.
Stephan Stuchlik: Jeder wird verstehen, dass man nach einem chaotischen Bürgerkrieg, wie er Ende Februar in Kiew getobt hat, keine Tatortsicherung nach gewohnten westlichen Standards durchführen kann. Wir haben aber glaubhafte Zeugenaussagen dafür, dass man erst vier Tage nach dem Massaker überhaupt angefangen hat, das Gelände abzusperren. Bis dahin hatten bereits Teilnehmer an den Kämpfen oder Schaulustige große Teile der Patronen oder Kugeln als Souvenirs mit nach Hause genommen. Teile des Platzes, übrigens auch Teile der Dächer, von denen geschossen wurde, wurden vor dem späten Eintreffen der Ermittler gesäubert. Es sind also wichtige Beweise vollständig verschwunden.
Auf der anderen Seite werden Sie sehen, dass man mit ein bisschen Hartnäckigkeit noch jetzt, sechs oder sieben Wochen nach den Ereignissen, wichtige Spuren vor Ort finden kann, die die Tatortsicherung augenscheinlich übersehen hat. Da frage ich mich zum einen, wie hoch die Qualität dieser Arbeit zu bewerten ist und wieso auf der anderen Seite der Generalstaatsanwalt schon jetzt so sicher sagen kann, wer die Schuldigen waren.
Ich kann nicht ausschließen, dass neben Janukowitsch-Schützen möglicherweise die viel zitierte "dritte Seite" an den Schießereien beteiligt war
"Das waren Söldner", sagt ein Zeuge in Ihrem Bericht, und ein hochrangiges Mitglied der Ermittlungsgruppe sagt: "Das, was mir an Ergebnissen meiner Untersuchung vorliegt, stimmt nicht mit dem überein, was die Staatsanwaltschaft erklärt." Wenn es tatsächlich weitere Scharfschützen gab, die nicht von der Regierung waren, wer waren sie dann? Haben Sie eine Vermutung?
Stephan Stuchlik: Wir glauben, dass viele der Toten vom 20. Februar von oben gezielt getötet wurden, oder, um es anders zu sagen: von professionellen Scharfschützen. Das ist übrigens eine der Erkenntnisse, die in Ermittlerkreisen kursiert und dort als unstrittig gilt. Das ist natürlich im Gegensatz zur Theorie der Staatsanwaltschaft: Der Großteil der Berkut-Truppe befand sich nach allgemeiner Meinung unten auf der Straße.
Dass die Janukowitsch-Seite professionelle Sniper hatte und Menschen gezielt getötet hat, steht fest. Wenn die Schützen im Rücken der Opposition auch Janukowitsch-Scharfschützen waren: Warum kannten sie ihre Kollegen im Funkverkehr nicht? Wie sind sie durch die Reihen der Opposition ins Hotel Ukraina gelangt? Und: Warum stehen sie nicht unter Anklage? Wenn die Schützen aus den Reihen der radikalen Opposition kamen: Woher kam ihre professionelle Ausbildung? Wurden Profis eingekauft? Warum haben sie auf ihre eigenen Leute geschossen? Aus Versehen? Um Chaos zu säen? Ich habe noch viel zu viele offene Fragen, um in diesem Punkt auch nur eine Vermutung zu äußern.
: Zum Schluss Ihres Beitrags heißt es: "Möglicherweise gibt es auch noch andere Kräfte, die an den Schießereien beteiligt waren." Was meinen Sie damit?
Stephan Stuchlik: Ich kann beim jetzigen Stand unserer Recherchen nicht ausschließen, dass neben Janukowitsch-Schützen möglicherweise die viel zitierte "dritte Seite" an den Schießereien beteiligt war. Gucken Sie auf die einschlägigen Internetforen, wer da alles angeführt wird: die Russen, die Georgier, die Briten, die USA. Zu allen diesen Tatversionen gibt es Erklärungsmodelle. Man kann so eine Beteiligung nicht ins Reich der Fabeln verweisen, dafür waren die Ereignisse in Kiew weltpolitisch zu bedeutsam. Um ganz ehrlich zu sein: Es ist vor allem die Tatsache, dass die Generalstaatsanwaltschaft im Interview mit uns so eine Möglichkeit kategorisch ausschließt, die mich darüber nachdenken lässt.
Bleiben Sie an dem Thema dran?
Stephan Stuchlik: Bei der Wichtigkeit des Themas, bei der vielen mühsamen Arbeit, die wir investiert haben, erübrigt sich diese Frage beinahe. Natürlich machen wir weiter, denn die endgültige Antwort auf die Frage: "Wer hat da eigentlich geschossen?" haben wir im Gegensatz zur Generalstaatsanwaltschaft noch nicht gefunden.
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