Brennpunkt Spitzbergen: Politik in der Arktis in Krisenzeiten

Longyearbyen. Bild: Bjoertvedt / CC-BY-SA-3.0

Die Inselgruppe Spitzbergen gehört zum Hoheitsgebiet des Nato-Mitglieds Norwegen, aber nicht zum Nato-Gebiet. Der Klimawandel ist hier sehr sichtbar. 2020 lief Schmelzwasser eines Gletschers in ein Kohlebergwerk.

Bei der nächsten Kommunalwahl in Longyearbyen auf Spitzbergen wird ein Drittel der bisher wahlberechtigten Einwohner nicht mehr mit abstimmen können. Ausländer haben dort künftig kein kommunales Stimmrecht mehr. Das ist aber nur ein Element von vielen, die sich gerade auf der arktischen Insel ändern. Auf Spitzbergen treffen sich globale Probleme wie Klimawandel und politische Interessen wie unter einem Brennglas – und der Ukraine-Krieg hat auch dort seine Auswirkungen.

Spitzbergen ist kein gewöhnliches norwegisches Territorium. Die Inselgruppe auf 78 Grad Nord war in früheren Jahrhunderten für Bürger verschiedenster Nationen eine willkommene Basis für die Ausbeutung von Naturgütern aller Art, vom Walfang bis zum Bergbau.

Sie gehörte niemanden, jeder nahm sich, was ihm nützlich erschien. Das änderte sich erst 1920 mit dem Spitzbergenvertrag, der Norwegen die staatliche Hoheit darüber gab. Darin sind jedoch einige Besonderheiten festgeschrieben: Bürger der Unterzeichnerstaaten sollen dieselben Rechte wie Norweger haben, sich auf der Inselgruppe wirtschaftlich zu betätigen, und dürfen nicht benachteiligt werden. Norwegen darf auch keine Militärbasis auf Spitzbergen errichten.

In der Praxis hat das bis heute unter anderem folgende Konsequenzen: Obwohl Norwegen Gründungsmitglied der Nato ist, gehört Spitzbergen nicht zum Nato-Gebiet. Das norwegische Ausländerrecht gilt dort nicht, man zahlt weniger Steuern, es gibt aber auch keine Sozialleistungen wie auf dem Festland.

Flughafen von Longyearbyen. Bild: Dagny / Public Domain

Wer sich nicht selbst ernähren kann, muss "nach Hause" – wo auch immer das ist. Die meisten Menschen, rund 2.500, leben im Hauptort Longyearbyen, wo auch der Flughafen ist: norwegische Grubenarbeiter und Personal der Tourismusbranche. In der russischen Bergbausiedlung Barentsburg sind es knapp 400. Nach Ny Ålesund kommen im Sommer internationale Forscherteams.

Die Spitzbergen-Kohle und das Klima

Als im heißen Sommer 2020 Schmelzwasser vom Gletscher das Kohlebergwerk Gruve 7 bei Longyearbyen lahmlegte, war das an Symbolwert kaum zu überbieten. Auf Spitzbergen ist der Klimawandel bereits deutlich sichtbar, mit höheren Temperaturen, mehr Regen im Winterhalbjahr und stärkerer Lawinengefahr. Bereits 2015 zerstörte eine Lawine zehn der charmanten "Spitzhäuser" am Fuß des Sukkertoppen, erbaut in den 1970er-Jahren.

Kohlekraftwerk Longyear. Bild: Bjoertvedt / CC-BY-SA-3.0

Ein 42-jähriger Mann, Vater von drei Kindern, und ein zweijähriges Mädchen starben in den Häusern. Inzwischen herrscht höchste Vorsicht bei Lawinengefahr, besonders gefährdete Häuser wurden abgerissen. Auch der weichende Permafrost setzt Gebäuden zu, und das weltbekannte Saatgutarchiv musste deshalb komplett umgebaut werden.

Die Kohle aus Gruve 7 speist das örtliche Kraftwerk, ein Teil wird auch exportiert. Eigentümer dieser Grube ist die staatseigene Store Norske Spitsbergen Kulkompani, meist nur "Store Norske" genannt. Es ist die letzte norwegische Kohlegrube, die noch in Betrieb ist. Da norwegische Kohle im internationalen Wettbewerb nicht mehr wirtschaftlich war, beschloss die norwegische Regierung Ende 2017 das endgültige Aus für zwei der Spitzbergener Gruben, die ohnehin schon aus wirtschaftlichen Gründen pausierten.

Gruve 7 sollte zur Selbstversorgung noch weiterlaufen, bis eine klimafreundliche Ersatzlösung gefunden sei. Dann sollte diese schmutzige Energiequelle, die letzte norwegische Kohlegrube, auch geschlossen werden. Bis jetzt ist allerdings nicht wirklich klar, wie diese klima- und umweltfreundliche Lösung konkret aussehen soll.

Da das Kraftwerk aus den 1980er-Jahren nicht mehr auf dem neuesten Stand und störungsanfällig ist, wollte die lokale Verwaltung schon bis zum Herbst 2023 die bisherige Reservelösung mit Diesel zur Übergangslösung ausgebaut haben. Als Reserve wurden riesige Batterien angeschafft. Der Herbst 2023 wäre damit das Ende des norwegischen Bergbaus auf Spitzbergen gewesen.

Auch mit der Kohle aus Barentsburg konnte man eigentlich kein Geld mehr verdienen. Der aufgegebene russische Grubenort Pyramiden ist heute eine Touristenattraktion. Die Sowjetunion/Russland war/ist der Unterzeichnerstaat, der seine Rechte aus dem Spitzbergenvertrag am stärksten nutzt. Östlich der Inselgruppe Spitzbergen verläuft die norwegisch-russische Seegrenze, ausgehandelt zu einer Zeit, als der heutige Nato-Chef norwegischer Ministerpräsident war.

Die kleine Viktoriainsel ist bereits russisch, und noch ein Stück weiter östlich liegt die Inselgruppe Franz-Josef-Land mit Russlands nördlichster Militärbasis Nagurskaja. Die sowjetisch/russische Präsenz auf Spitzbergen war nie rein wirtschaftlicher Natur, sondern diente immer auch der Wahrung der staatlichen Interessen. Doch die Koexistenz mit Norwegen funktionierte selbst im Kalten Krieg.

SvalSat und das Datenkabel

Das heißt nicht, dass es kein Misstrauen gibt und der Spitzbergenvertrags immer von allen gleich interpretiert wird. Russland bemängelt regelmäßig Einschränkungen und sieht unter anderem kritisch auf die vielen Antennen von SvalSat, der Empfangsstation auf dem Platåberg bei Longyearbyen. Betreiber der Station ist Kongsberg Satellite Services (KSAT). Spitzbergens geografische Lage ist perfekt zur Abnahme von Daten, die von Satelliten auf einer polaren Umlaufbahn gesendet werden.

Genutzt wird dies unter anderem von der Esa, Nasa, Eumetsat und Noaa. Der norwegische Journalist Bård Wormdal beschrieb 2011 in seinem Buch "Satellitkrigen", wie über SvatSat heruntergeladene Bilder der Erde auch militärisch genutzt wurden, zum Beispiel im Irak-, Libyen- und im Afghanistankrieg. "Dual Use" ist nach aktueller norwegischer Rechtsauffassung allerdings zulässig.

Im Sommer 2022 hat die norwegische Aufsichtsbehörde aber den Antrag von zwei Firmen abgelehnt, die über SvalSat Daten herunterladen wollten. Dabei handelte es sich um ein US- und ein türkisches Projekt mit explizit militärischer Zielsetzung.

Radome der SvalSat-Empfangsstation. Bild: Bjoertvedt / CC-BY-SA-3.0

Die Daten, die bei SvatSat ausgelesen werden, laufen über eine leistungsfähige Glasfaserverbindung zum norwegischen Festland. Diese besteht aus zwei Strängen, die nicht ganz auf derselben Trasse liegen. Es wird jeweils nur ein Strang benutzt. Die Redundanz zahlte sich im Januar 2022 aus – plötzlich war ein Kabel beschädigt, vermutlich durch äußere Einwirkung. Es handelte sich aber nicht um einen kompletten Bruch, sondern um einen Ausfall der darin verlegten Stromversorgung, die der Betreiber wieder herstellen konnte.

Bei den Ermittlungen verhörte die Polizei den Kapitän eines russischen Trawlers, der sich zur fraglichen Zeit in dem Bereich befand. Fischen ist dort aber erlaubt, und man konnte ihm nichts nachweisen. Die Ermittlungen wurden eingestellt. Später, nach den Anschlägen auf Nord Stream, kamen mehr Details ans Licht: So soll der russische Trawler Melkart-5 das Kabel auf untypische Weise und auffällig oft gekreuzt haben.

Auch ein anderer Kabelschaden wurde nun in neuem Licht betrachtet: Dem Lofoten-Vesterålen Meeresobservatorium fehlten seit dem 3. April 2021 ein paar Kilometer Kabel. Die damalige Erklärung war, dass es vermutlich von einem Fischereifahrzeug versehentlich abgerissen wurde.

Allerdings lauschten dort nicht nur Biologen, sondern auch das Forschungsinstitut der norwegischen Streitkräfte, zum Beispiel nach U-Boot-Geräuschen. Und es gibt drei russische Trawler, die an beiden Orten waren.

Ausländer in Longyearbyen

Die Idee, Ausländern in Longyearbyen das kommunale Wahlrecht zu entziehen, hatte ursprünglich nichts mit dem Ukraine-Krieg und Russland zu tun. Das kommunale Wahlrecht in Longyearbyen gibt es erst seit 2002, vorher war Longyearbyen eine "Company Town" der Bergbaufirma Store Norske. Die Inselverwaltung (Sysselmester) wird direkt von Oslo eingesetzt. Die Befugnis des kommunalen örtlichen Gremiums, Longyearbyen Lokalstyre, sind begrenzt.

Trotzdem war es ein Fortschritt in Sachen Demokratie und ein Schritt hin zu einer "normalen" norwegischen Kommune. Und wie in anderen norwegischen Kommunen auch erhielten ausländische Mitbürger nach drei Jahren Wohnzeit das passive und aktive Wahlrecht auf kommunaler Ebene. Das gilt aber nur für Longyearbyen. Die Bergarbeiter aus dem russischen Barentsburg haben darauf keinen Einfluss.

Als der Gesetzesentwurf zur Einschränkung des kommunalen Wahlrechts im Sommer 2021 publik wurde, wurde er damit begründet, dass immer mehr Einwohner in Longyearbyen keine Anknüpfung an das norwegische Festland hätten. Damit bestehe die Gefahr, dass in Longyearbyen nicht mehr die Interessen norwegischer Spitzbergen-Politik umgesetzt würden.

Nur Ausländer, die zuvor schon drei Jahre in einer norwegischen Festlandkommune gelebt haben, haben weiter Stimmrecht. Gerechtfertigt wird das auch damit, dass jedes Jahr nicht wenige staatliche Mittel nach Spitzbergen fließen. Auf Spitzbergen erhobene Steuern dürfen dagegen nur dort ausgegeben werden. Da sich durch einen Aufenthalt auf Spitzbergen auch keine Ansprüche auf eine norwegische Staatsbürgerschaft erwerben lassen, sind somit selbst langjährige Einwohner von Longyearbyen dauerhaft von der kommunalen Mitbestimmung ausgeschlossen.

Fakt ist, dass Ausländer in Longyearbyen eine große Gruppe sind, 750 von rund 2500 Einwohnern. Die wenigsten von diesen haben vorher in Festland-Norwegen gewohnt. Viele arbeiten in der Tourismusbranche. Sie stellen ein Drittel der Wahlberechtigten (einige Einwohner sind minderjährig, andere noch nicht drei Jahre dort).

Vor Ort ist die Idee einer solchen Zweiklassengesellschaft auf Protest gestoßen. "Wenn die Ausländer bei der Kommunalwahl nicht abstimmen dürfen, kann das die Lokaldemokratie irrelevant machen", so der noch amtierende Vorsitzende von Longyearbyen Lokalstyre, Arild Olsen, gegenüber High North News. Langjährige Lokalpolitiker, darunter Olsen selbst, wollen unter diesen Umständen nicht mehr antreten.

Spitzbergen und der Ukraine-Krieg

Eine weitere Spaltung der Gesellschaft kam nach Russlands Einmarsch in die Ukraine. Zunächst sah es so aus, als ob der Krieg der Gemeinschaft auf Spitzbergen nichts anhaben könnte. Von mehreren Seiten wurde explizit betont, dass man die Bergleute in Barentsburg nicht für den Krieg in der Ukraine verantwortlich mache. Zumal ein Teil von diesen auch noch aus der Ukraine stammt. Doch Trust Arktikugol ist eine staatliche russische Firma.

Im Oktober schloss die Vereinigung der Tourismusanbieter auf Spitzbergen die Tourismus-Tochter von Trust Artikugol als Mitglied aus.

Einen Boykott-Aufruf gab es vorher schon: Es gibt zwar Touren nach Pyramiden oder Barentsburg, dort wird aber kein Geld mehr ausgegeben. Trust Arktikugol fordert nun Steuererleichterungen, da durch die Sanktionen und den Boykott die Einnahmen weggebrochen seien.

Ehmalige russische Bergbausiedlung Pyramiden. Bild: Bjoertvedt / CC-BY-SA-3.0

Nato-Mitglied Norwegen hat sich zwar den EU-Sanktionen gegen Russland angeschlossen, hat sich aber einige Ausnahmen vorbehalten: So wird weiterhin der Fischbestand der Barentssee gemeinsam mit dem östlichen Nachbarn verwaltet, und russische Trawler dürfen weiterhin die drei für sie wichtigsten Häfen in Norwegen anlaufen.

Auf Spitzbergen ist Norwegen zudem dem Spitzbergenvertrag verpflichtet. So darf Trust Arktikugol seine Hubschrauber weiter benutzen. Damit Spitzbergen nicht zum Schlupfloch für sanktionierte Produkte wird, wurden Zollkontrollen am Flughafen von Longyearbyen eingeführt.

Weniger Demokratie, mehr Kohle

Die Beschränkung des kommunalen Wahlrechts in Longyearbyen auf Norweger wird nun in einer aktuellen Bekanntmachung des norwegischen Parlaments auch mit den neuen Bedrohungen gegenüber Norwegen in Verbindung gebracht.

Norwegen müsse sich besser gegen sicherheitskritische ökonomische Aktivitäten, gefährliche verborgene Eigentumsverhältnisse, Cyberangriffe, Beeinflussungsoperationen und Angriffe auf die Energieversorgung schützen. Dazu wünsche die Regierung unter anderem mehr Kontrolle über die nördlichen Gebiete und auf Spitzbergen.

Welche Folgen es aber hat, wenn ein Drittel der Wahlberechtigten ihr Stimmrecht verlieren, zeigt sich schon. Die Longyearbyen-Abteilung der norwegischen grünen Umweltpartei muss ihre Aktivitäten mangels ausreichend Personal für eine vorschriftsmäßige Kandidatenliste einstellen. Der Lokalabteilung der rechten Fremskrittspartiet steht voraussichtlich dasselbe bevor. Dafür zählt die Facebookgruppe "Spitsbergen Association of Unwanted Foreigners" jetzt fast 400 Mitglieder.

Doch die norwegischen Kohlekumpel in Longyearbyen verdanken dem Krieg in der Ukraine noch zwei weitere Jahre im Job. Denn Kohle ist wieder begehrt und der Preis dafür gestiegen. Der deutsche Kunde, der die hochwertige Spitzbergen-Kohle aus Gruve 7 für seine Stahlherstellung benötigt, möchte diese zu einem wirtschaftlichen Preis weiter kaufen.

Die norwegische Regierung stimmte dem Deal zu – es gehe schließlich darum, die Versorgung mit Rohstoffen in Europa sicherzustellen.

Dafür ist auch der Diesel teurer geworden, der eigentlich die Kohle in Longyearbyen als Energieträger ablösen sollte. Und so ist das allerletzte Wort dazu auch noch nicht gesprochen. Eine Gnadenfrist für die Kohle, aber keine Gnade für die örtliche Demokratie.