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Brics-Gipfel: Die Angst des Westens vor einer neuen Weltordnung

Die Außenminister der Brics-Staaten mit Vertretern aus Afrika und dem Globalen Süden während eines Gipfels in Kapstadt, Südafrika, am 2. Juni 2023. Bild: Russisches Außenministerium

In Südafrika treffen sich die Brics-Staaten. Es geht um die Aufnahme neuer Mitglieder, Entdollarisierung und wirtschaftliche Kooperation. Wovor sich Washington und Brüssel am meisten fürchten.

Spiegel Online titelt [1]: "Kommt jetzt die neue Weltordnung". Der Gipfel der sogenannten Schwellenländer Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika (Brics) in Johannesburg, der seit gestern für drei Tage stattfindet, richte sich, so der Deutschlandfunk [2] besorgt, "gegen die westliche Dominanz".

In einer aktuellen Studie [3] der Denkfabrik Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) heißt es, dass China eine Strategie verfolge, die internationale Ordnung neu zu gestalten. Dafür wolle Beijing wirtschaftsstarke, aufsteigende Volkswirtschaften wie Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate, Ägypten oder Argentinien mit in den Kreis der Brics (genannt Brics+) aufnehmen.

Insgesamt haben 20 Staaten formell Aufnahme in den Bund beantragt, sagte Südafrikas Präsident Cyril Ramaphosa am Sonntag. 40 weitere haben Interesse daran signalisiert. Ihr Ziel, so das Handelsblatt [4]: Die Abkehr vom US-Dollar. Es soll wie eine Drohung klingen.

Zugleich betonen viele Kommentatoren im Westen die Zerrissenheit und Kraftlosigkeit des Bündnisses. So empfiehlt der Reuters-Kolumnist Hugo Dixon [5] dem Bündnis, sich besser aufzulösen, als noch weiter zu expandieren. Denn:

Trotz ihrer jährlichen Zusammenkünfte haben die Brics-Staaten gemeinsam nichts Bemerkenswertes erreicht.

Das ist nicht ganz falsch, wenn auch in dieser Form zu pauschal. Viele Entwicklungsländer sehen jedenfalls in dem Brics-Bündnis eine Chance. Allein über 30 Staats- und Regierungschefs von afrikanischen Ländern reisen nach Johannesburg.

Zudem könnte man fragen, was denn die westlichen Bündnisse wie G7 oder die von den USA kontrollierten Organisationen wie der Internationale Währungsfonds (IWF), Weltbank oder auch die Welthandelsorganisation für die ärmeren Teile der Welt gebracht haben.

Wir wissen die Antwort darauf: Sie haben viele Länder des Globalen Südens in Schuldenkrisen, soziale Austeritätskollapse und unfaire Handelsregime getrieben. Aber die Auflösung dieser westlichen Institutionen wird von Medien hierzulande bis heute nicht gefordert.

Die Angst vor dem Brics-Bündnis, das seit 2009 regelmäßige Treffen abhält (das diesjährige ist das 15.), bezieht sich auch nicht auf das, was es bisher erreicht hat, sondern auf das, was es erreichen könnte.

Denn die Entwicklungen der letzten Jahre haben dem Brics-Projekt neue Bedeutung verliehen. Der Neue Kalte Krieg Moskaus und Beijings mit Washington und Brüssel, weiter angeheizt durch die russische Invasion in die Ukraine und den Streit um die Inselrepublik Taiwan, die Rückkehr von Luiz Inácio Lula da Silva zur Präsidentschaft Brasiliens im Jahr 2022 und die damit verbundene Ernennung von Dilma Rousseff [6] zur Präsidentin der Brics-Institution New Development Bank (NDB) sowie die relative Entfremdung Indiens und Südafrikas von den westlichen Mächten in unterschiedlichem Maße haben zu einem "perfekten Sturm" geführt, der das Gefühl der politischen Einheit in den Brics wiederhergestellt zu haben scheint (trotz der ungelösten Spannungen zwischen Indien und China).

Hinzu kommen das wachsende Gewicht der Brics in der Weltwirtschaft und die verstärkte ökonomische Interaktion zwischen ihren Mitgliedern. Im Jahr 2020 wird der weltweite Anteil des Bruttoinlandsprodukts (BIP) der Brics-Länder in Kaufkraftparität – 31,5 Prozent – den der Gruppe der Sieben (G7) – 30,7 Prozent – übertreffen [7]. Es wird erwartet, dass dieser Abstand noch größer wird.

Der bilaterale Handel zwischen den Brics-Ländern hat ebenfalls stark zugenommen [8]: Brasilien und China brechen jedes Jahr Rekorde und haben im letzten Jahr 150 Milliarden US-Dollar erreicht. Die russischen Exporte nach Indien haben sich von April bis Dezember 2022 im Vergleich zum Vorjahr verdreifacht und sind auf 32,8 Milliarden US-Dollar gestiegen.

Der Handel zwischen China und Russland ist von 147 Milliarden US-Dollar im Jahr 2021 auf 190 Milliarden im Jahr 2022 gestiegen, was einem Anstieg von fast 30 Prozent entspricht.

Ökonomisch stehen Brasilien, Russland und Südafrika wegen ihrer Rohstoffe zudem besser da als erwartet [9]. Denn die Preise zogen nach den Lockdowns schnell wieder stark. Das führte auch dazu, dass Russland sich trotz westlicher Sanktionen und der Beschlagnahmung von 600 Milliarden US-Dollar überraschend gut erholen konnte.

Subimperialismus oder unabhängige, progressive Bewegung?

Doch trotz dieser Trends ist Kritik an falschen Hoffnungen in Hinsicht auf den Gipfel und das Brics-Projekt durchaus angemessen. Denn man muss sich erinnern, wie es Patrick Bond tut [10], Professor und Direktor des Zentrums für sozialen Wandel an der Universität von Johannesburg, dass das Bündnis vor dem Aufschwung an seinen inneren Widersprüchen zu zerbrechen drohte.

Während der Covid-19-Pandemie konnten über drei Jahre keine Zusammenkünfte stattfinden. Zudem unterminierte die rechtsextreme Regierung in Brasilien unter Jair Bolsonaro von 2019 bis 2022 eine Fortführung des Blocks, was vor allem bei der Patentaussetzung für Impfstoffe sehr schädlich war.

Dazu kommen Gebietsstreitigkeiten zwischen China und Indien [11] im Himalaja. Das militärische Gerangel geht vor allem um den Zugang zu großen Wasservorräten, die die südwärts strömenden Flüsse in sich tragen. Gigantische chinesische Staudammprojekte blockieren sie für die Nachbarstaaten.

Viertens hat der russische Krieg gegen die Ukraine seit Februar 2022 nicht nur die Region destabilisiert, sondern auch, im Verbund mit den westlichen Sanktionen, die Energie- und Nahrungsmittelmärkte geschädigt. Daher reist Wladimir Putin auch nicht nach Johannesburg, da ein Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofes gegen ihn verhängt wurde.

Auch gibt es in Brics-Staaten Unruhen. Nach Lulas Wahl starteten Bolsonaro-Anhänger:innen einen Aufstand, jetzt muss sich der neue brasilianische Präsident mit einem von Bolsonaro-Getreuen dominierten Kongress herumschlagen.

Im Januar 2023 meuterte [12] Putins enger Verbündeter Jewgeni Prigoschin und seine Wagner-Söldnertruppe. In China verschwand [13] der Außenminister Qin Gang auf unerklärliche Weise.

Narendra Modis rechtsgerichtete Hindu-Nationalisten-Regierung führt Indien mit autoritärer Hand [14]. Und in Südafrika könnte die Partei von Ramaphosa die absolute Mehrheit verlieren, wegen Korruptionsverfahren und der im Land grassierenden Stromausfälle [15].

Was die Brics im Moment für viele Länder (bezeichnenderweise auch im geopolitisch wichtigen Nahen Osten) so attraktiv macht, sind die ständige Unberechenbarkeit der Vereinigten Staaten von Amerika (siehe auch Trumps weiter drohende "Make America Great Again"-Agenda) und ihrer Außenpolitik, die finanzpolitischen Strafaktionen [16] der US-Finanzministerin Janet Yellen im März gegen Russland und der Aufstieg Chinas als Wirtschaftsmacht, die sich selbstbewusst den Befehlen aus Washington nicht unterordnet. Der von Beijing vermittelte Deal zwischen Saudi-Arabien und Iran [17] zeigt schlaglichtartig, wie China die USA an die Seitenlinie platzieren konnten.

Eine Expansion der Brics birgt aber zugleich Gefahren und könnte das Bündnis für eine progressive Agenda schwächen. Denn unter den Beitrittskandidaten sind viele Länder, in denen die fossile Energiewirtschaft dominiert und die in politischer Hinsicht diktatorisch regiert werden, z. B. Algerien, Bahrain, Belarus, Kasachstan, Kuwait, Marokko oder Nigeria. Unter anderem deswegen ist Brasilien unter Lula gegen eine Erweiterung [18] und verlangt strenge Aufnahmekriterien.

Bisher hat der Brics-Bund auch noch nicht seinen selbst gesteckten Anspruch erfüllt, eine echte Alternative zum sogenannten westlichen Washington Konsensus auf wirtschaftlicher Ebene zu bieten. So argumentiert Patrick Bond [19], dass sich die Brics-Institutionen wie das mit 100 Milliarden US-Dollar ausgestattete Contigent Reserve Arrangement (CRA) oder die Entwicklungsbank NDB nicht von der räuberischen Kreditvergabe und den westlichen Austeritätsregimen verabschieden konnten.

NDB-Leiterin Rousseff hat zwar jetzt erklärt [20], man wolle bis 2030 den Kreditbestand des NDB auf 30 Prozent in lokalen Währungen (gegenüber US-Dollar-Krediten) ausbauen, um unabhängiger zu agieren. Aber das sei viel zu wenig, viel zu langsam. Und aus dem Hype um die Entdollarisierung oder eine eigene Brics-Währung wurde schon vor dem Gipfel wieder die Luft herausgelassen [21]. Im Moment kein Thema, hieß es in Südafrika.

Doch man sollte auch bedenken, dass die Brics-Gruppe noch nicht lange existiert, deren Entwicklungsbank sogar erst 2015 gegründet wurde und noch gar nicht seitdem wirklich operiert hat.

Ob nun die Brics oder Brics+ unter chinesischer Führung eine Form des Subimperialismus darstellen, wie David Harvey bereits 2003 prophezeite [22], mag dahingestellt sein. Die Organisation bietet zumindest eine Plattform, um eine unabhängige Entwicklung im Globalen Süden jenseits von den Diktaten des Westens und seiner Konzerne zu fördern. Sie setzt einen Rahmen für finanzpolitische und wirtschaftliche Selbstständigkeit, der letztlich kontrolliert werden kann von den Gesellschaften der Brics-Länder und eben nicht mehr von westlichen Staaten.

Richtig ist aber auch, dass ohne progressive Bewegungen, die innerhalb der Brics-Staaten in den letzten Jahren entstanden sind, Fortschritt für die Menschen in den ärmeren Ländern und faire Handelsbeziehungen unter ihnen nicht wirklich erreichbar sind. Sie kämpfen für soziale, menschenrechtliche und Umwelt-Standards, siehe die Landlosen-Bewegung in Brasilien, die Demokratiebewegungen in Russland und China oder die Gewerkschafter:innen in Südafrika.

Nur sie können letztlich gewährleisten, dass die gewünschte Süd-Süd-Kooperation nicht eine neue Variante von Ausbeutung, ökologischer Zerstörung und Unterdrückung hervorruft. Vor diesem Potenzial des Brics-Projekts haben die Eliten im Westen tatsächlich am meisten Angst: eine unabhängige Bewegung, die den Menschen vor Ort zugutekommt, Erfolge zeitigt und wegen ihrer inneren Stabilität von außen nicht oder kaum beinflussbar ist.


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https://www.heise.de/-9279585

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.spiegel.de/ausland/brics-gipfel-in-suedafrika-der-klub-der-schwellenlaender-kommt-jetzt-die-neue-weltordnung-a-7f403fed-7511-47f4-a8dc-53c738916719
[2] https://www.deutschlandfunk.de/brics-staaten-gipfel-100.html
[3] https://www.swp-berlin.org/publikation/eine-neue-entwicklungsphase-der-brics
[4] https://www.handelsblatt.com/politik/international/globaler-sueden-diese-visionen-chinas-dominieren-den-brics-gipfel-in-suedafrika/29344440.html
[5] https://www.reuters.com/breakingviews/brics-are-better-off-disbanding-than-expanding-2023-07-31/
[6] https://www.ndb.int/news/new-development-bank-welcomed-brazils-president-luiz-inacio-lula-da-silva-at-ndb-headquarters-in-shanghai/
[7] https://tvbrics.com/en/news/brics-contributes-more-to-world-gdp-than-g7/
[8] https://asiatimes.com/2023/04/brics-gains-new-chance-to-improve-global-development/
[9] https://www.rosalux.de/news/id/50909/der-hype-um-den-brics-gipfel-in-johannesburg
[10] https://www.rosalux.de/news/id/50909/der-hype-um-den-brics-gipfel-in-johannesburg
[11] https://www.theguardian.com/world/2020/jun/17/explainer-what-is-the-deadly-india-china-border-dispute-about
[12] https://www.telepolis.de/features/Nach-Soeldner-Aufstand-Putin-ist-angeschlagen-aber-nicht-angezaehlt-9198471.html
[13] https://www.aljazeera.com/opinions/2023/7/28/chinas-missing-ex-minister-reveals-the-limits-of-xi-jinpings-power
[14] https://www.theguardian.com/world/2020/feb/20/hindu-supremacists-nationalism-tearing-india-apart-modi-bjp-rss-jnu-attacks
[15] https://www.irishtimes.com/world/africa/2023/03/09/ramaphosa-hampered-by-corruption-allegations-and-power-cuts/
[16] https://www.businessinsider.com/russia-pick-between-saving-economy-continuing-invasion-treasury-secretary-yellen-2022-4
[17] https://www.telepolis.de/features/Wie-ein-chinesischer-Deal-imperiale-Aengste-in-den-USA-ausloest-7543762.html
[18] https://responsiblestatecraft.org/2023/08/07/heres-why-brazil-is-a-major-holdout-against-brics-expansion/
[19] https://www.democracynow.org/2023/8/21/brics_summit_expansion_dedollarization_agenda
[20] https://www.ft.com/content/1c5c6890-3698-4f5d-8290-91441573338a
[21] https://www.handelsblatt.com/politik/international/globaler-sueden-diese-visionen-chinas-dominieren-den-brics-gipfel-in-suedafrika/29344440.html
[22] https://www.vsa-verlag.de/uploads/media/VSA_Harvey_Imperialismus.pdf