Brinkmanship in der Ukraine

Große Risiken katastrophaler Eskalation im Ukraine-Krieg. Sinnvoller Kompromiss und ein Ende des Krieges nicht in Sicht. US-Politologe Mearsheimer mahnt.

In einem meiner ersten Beiträge zum Ukraine-Krieg im April 2022 in Telepolis habe ich darauf hingewiesen, dass es eine Ironie der Geschichte ist, dass der renommierte Politologe John Mearsheimer, der dem politologischen US-Establishment zuzurechnen ist, angesichts des kollektiven Wahnsinns unter den Intellektuellen als eine der wenigen derzeitigen Stimmen der Vernunft erscheint.1

Diese Einschätzung bezieht sich auf die seit 2015 von ihm mit einer großen Anzahl von Video-Vorträgen und -Interviews betriebenen mutigen Aufklärung im Internet über die Vorgeschichte und die Hintergründe des Ukraine-Konflikts, wobei er die gut begründete These vertritt, dass die USA und der Westen für diesen Konflikt hauptverantwortlich sind.2

Er weist aber auch auf die großen Gefahren hin, die mit diesem jetzt seit mehr als sechs Monaten andauernden Krieg in der Ukraine verbunden sind und warnt eindringlich vor der Möglichkeit, dass sich daraus wieder ein großer Krieg in Europa entwickelt, bei dem auch die Gefahr des Einsatzes von Atomwaffen nicht auszuschließen ist.3

Am 17. August 2022 ist in der Zeitschrift Foreign Affairs, der bedeutendsten US-amerikanischen Zeitschrift für Außen- und Geopolitik, ein ausführlicher Artikel von Mearsheimer erschienen, in dem er noch einmal seine Befürchtungen und Warnungen vor einer Eskalation des Krieges in der Ukraine zum Ausdruck bringt.4

Ich habe diesen wichtigen Text von Mearsheimer für meine Telepolis-Leser ohne Kürzungen ins Deutsche übertragen und mit einigen Zwischenüberschriften versehen, damit er besser lesbar ist. Am Schluss habe ich noch einige abschließende Gedanken von mir angefügt.

Beginn des Textes von John Mearsheimer

Westliche Politiker scheinen einen Konsens darüber erzielt zu haben, wie der Krieg in der Ukraine weitergehen wird: Der Konflikt wird in eine längere Pattsituation übergehen, und schließlich wird ein geschwächtes Russland ein Friedensabkommen akzeptieren, das für die Vereinigten Staaten und ihre Nato-Verbündeten sowie die Ukraine günstig ist.

Bild: John Mearsheimer / CC-BY-SA-3.0

Obwohl Beamte der US-Regierung es für möglich halten, dass sowohl Washington als auch Moskau die Situation eskalieren könnten, um einen Vorteil für sich zu erlangen oder eine Niederlage abzuwenden, gehen sie doch davon aus, dass eine katastrophale Eskalation vermieden werden könne. Nur wenige können sich vorstellen, dass US-Streitkräfte direkt in die Kämpfe verwickelt werden oder dass Russland es wagen wird, Atomwaffen einzusetzen.

Aber Washington und seine Verbündeten sind viel zu unbekümmert. Auch wenn eine katastrophale Eskalation vermieden werden kann, ist die Fähigkeit der Kriegsparteien, die Eskalationsgefahr zu kontrollieren, alles andere als sicher. Das Risiko dafür ist wesentlich größer, als die konventionelle Weisheit es für möglich hält. Und aufgrund der Tatsache, dass die Folgen der Eskalation einen großen Krieg in Europa und möglicherweise sogar die nukleare Vernichtung bedeuten könnten, gibt es gute Gründe, darüber sehr besorgt zu sein.

Beide Seiten – Russland und die USA – haben in diesem Krieg große Ambitionen

Um die Dynamik der Eskalation in der Ukraine zu verstehen, beginnen wir mit den Zielen jeder Seite. Seit Beginn des Krieges haben sowohl Moskau als auch Washington ihre Ambitionen erheblich ausgeweitet, und beide sind nun fest entschlossen, den Krieg zu gewinnen, um gewichtige politische Ziele zu erreichen.

Infolgedessen hat jede Seite starke Anreize, Wege zu finden, um sich durchzusetzen und, was noch wichtiger ist, eine Niederlage zu vermeiden.

In der Praxis bedeutet dies, dass die Vereinigten Staaten sich mit eigenen Truppen an den Kämpfen beteiligen könnten, entweder, wenn sie mit ihren Zielen ins Hintertreffen geraten sind und trotzdem gewinnen wollen, oder um zu verhindern, dass die Ukraine verliert.

Russland könnte Atomwaffen einsetzen, wenn es nicht mehr hoffen kann zu gewinnen oder vor einer bevorstehenden Niederlage steht, was wahrscheinlich wäre, wenn US-Streitkräfte in die Kämpfe hineingezogen würden.

Überdies gibt es angesichts der Entschlossenheit jeder Seite, ihre Ziele zu erreichen, wenig Chancen auf einen sinnvollen Kompromiss. Das maximalistische Denken, das jetzt sowohl in Washington als auch in Moskau vorherrscht, gibt jeder Seite noch mehr Grund, auf dem Schlachtfeld zu gewinnen, um die Bedingungen des letztendlichen Friedens diktieren zu können.

In der Tat bietet das Fehlen einer möglichen diplomatischen Lösung einen zusätzlichen Anreiz für beide Seiten, die Eskalationsleiter hochzusteigen. Was dann folgt, könnte zu einem wirklich katastrophalen Ende führen: ein Ausmaß an Tod und Zerstörung, das über dem des Zweiten Weltkriegs liegt.