Brinkmanship in der Ukraine
Seite 5: Drei Umstände, unter denen Russland Atomwaffen einsetzen könnte
- Brinkmanship in der Ukraine
- USA wollen Russland schwächen und aus dem Kreis der Großmächte ausschließen
- Russlands Bedrohung durch die Nato jetzt noch größer als vor dem Krieg
- Drei Wege in die Eskalation
- Drei Umstände, unter denen Russland Atomwaffen einsetzen könnte
- Abschließende Gedanken
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Obwohl das russische Militär der Ukraine enormen Schaden zugefügt hat, hat Moskau bisher gezögert zu eskalieren, um den Krieg zu gewinnen.
Putin hat die Größe seiner Truppen nicht durch eine groß angelegte Mobilisierung in Russland aufgestockt. Er hat auch nicht das Stromnetz der Ukraine ins Visier genommen, was relativ einfach zu bewerkstelligen wäre und diesem Land massiven Schaden zufügen würde.
Tatsächlich haben ihn viele Russen dafür kritisiert, dass er den Krieg nicht energischer geführt hat. Putin hat diese Kritik zur Kenntnis genommen, aber wissen lassen, dass er notfalls eskalieren würde. "Wir haben noch nicht einmal ernsthaft angefangen", sagte er im Juli und deutete an, dass Russland mehr tun könnte und würde, wenn sich die militärische Situation verschlechtert.
Was ist mit der ultimativen Form der Eskalation? Es gibt drei Umstände, unter denen Putin Atomwaffen einsetzen könnte.
Die erste wäre, wenn die Vereinigten Staaten und ihre Nato-Verbündeten in den Kampf eintreten würden. Diese Entwicklung würde nicht nur das militärische Gleichgewicht zu Ungunsten Russlands deutlich verschieben und die Wahrscheinlichkeit seiner Niederlage erheblich erhöhen, sondern auch bedeuten, dass Russland einen Krieg mit einer Großmacht vor seiner Haustür führen müsste, der leicht auf sein Territorium übergreifen könnte.
Die russische Führung würde sicherlich denken, dass ihr Überleben in Gefahr ist, was für sie ein starker Anreiz wäre, Atomwaffen einzusetzen, um die Situation zu retten. Zumindest würden sie demonstrative Atomwaffenexplosionen in Betracht ziehen, die den Westen davon überzeugen sollen, sich zurückzuziehen. Ob ein solcher Schritt den Krieg beenden oder außer Kontrolle geraten lassen würde, ist im Voraus unmöglich zu sagen.
In seiner Rede vom 24. Februar 2022, in der er die Invasion ankündigte, deutete Putin nachdrücklich an, dass er sich Atomwaffen zuwenden würde, wenn die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten in den Krieg eintreten würden. Er wandte sich an "diejenigen, die versucht sein könnten, sich einzumischen" und sagte:
Sie müssen wissen, dass Russland sofort reagieren wird, und die Konsequenzen werden so sein, wie Sie sie in Ihrer gesamten Geschichte noch nie gesehen haben.
Diese damalige Warnung von Putin ist Avril Haines, der US-Direktorin der nationalen Geheimdienste, nicht entgangen, die im Mai voraussagte, dass er Atomwaffen einsetzen könnte, wenn die Nato "entweder interveniert oder kurz davor steht, einzugreifen", zum guten Teil, weil dies "offensichtlich zu seiner Wahrnehmung beitragen würde, dass er im Begriff ist, den Krieg in der Ukraine zu verlieren".
In einem zweiten Atomkriegsszenario gelingt es der Ukraine, das Blatt auf dem Schlachtfeld ohne direkte Beteiligung der USA zu ihren Gunsten zu wenden. Wenn die ukrainischen Streitkräfte dabei wären, die russische Armee zu besiegen und das verlorene Territorium ihres Landes zurückzuerobern, gibt es wenig Zweifel, dass Moskau dieses Ergebnis als eine existenzielle Bedrohung betrachten könnte, die eine nukleare Reaktion erfordert.
Schließlich sind Putin und seine Berater durch die zunehmende Ausrichtung Kiews auf den Westen so alarmiert gewesen, dass sie sich bewusst für einen Angriff auf die Ukraine entschieden haben, trotz klarer Warnungen der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten vor den schwerwiegenden Konsequenzen, mit denen Russland bei einem Angriff konfrontiert sein würde.
Anders als im ersten Szenario würde Moskau in diesem Fall Atomwaffen nicht im Rahmen eines Krieges gegen die Vereinigten Staaten einsetzten, sondern gegen die Ukraine. Russland würde dies mit weniger Befürchtungen vor nuklearen Vergeltungsmaßnahmen tun, da Kiew keine Atomwaffen hat und Washington kein Interesse daran hätte, einen Atomkrieg zu beginnen. Das Fehlen einer klaren Vergeltungsdrohung würde es Putin erleichtern, über den Einsatz von Atomwaffen nachzudenken.
Zu einem dritten Szenario könnte es kommen, wenn der Krieg in eine langwierige Pattsituation übergeht, die keine diplomatische Lösung eröffnet und für Moskau äußerst kostspielig wird. Putin würde verzweifelt versuchen, den Konflikt zu günstigen Bedingungen zu beenden, und könnte eine nukleare Eskalation anstreben, um zu gewinnen. Wie beim vorherigen Szenario, in dem er eskaliert, um eine Niederlage zu vermeiden, wäre eine nukleare Vergeltung der USA höchst unwahrscheinlich.
In diesen beiden Szenarien könnte Russland wahrscheinlich taktische Atomwaffen gegen eine kleine Gruppe militärischer Ziele einsetzen, zumindest zu Beginn. Es könnte Städte in späteren Angriffen treffen, wenn nötig. Einen militärischen Vorteil zu erlangen, wäre das eine Ziel der Strategie, aber das andere wichtigere wäre, im Westen mit einem derartigen Einsatz eine solche Angst zu verbreiten, so dass die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten schnell handeln könnten, um den Konflikt zu für Moskau günstigen Bedingungen zu beenden.
Kein Wunder, dass William Burns, der Direktor der CIA, im April bemerkte:
Keiner von uns kann die Bedrohung durch einen möglichen Rückgriff auf taktische Atomwaffen oder Atomwaffen mit geringer Sprengkraft auf die leichte Schulter nehmen.
Wohin führt der Krieg in der Ukraine?
Obwohl eines dieser theoretischen katastrophalen Szenarien Wirklichkeit werden könnte, kann man bei einer Abwägung zu dem Ergebnis kommen, dass die Chancen dafür gering sind und daher die Situation nicht besorgniserregend ist. Schließlich bestehen für die Politiker auf beiden Seiten starke Anreize, die USA aus den Kämpfen herauszuhalten und selbst einen begrenzten nuklearen Einsatz zu vermeiden, ganz zu schweigen von einem tatsächlichen umfassenden Atomkrieg.
Ich würde mir natürlich sehr wünschen, dass wir so optimistisch sein könnten. Tatsächlich unterschätzt diese konventionelle Sichtweise die Gefahren einer Eskalation in der Ukraine jedoch erheblich, denn an ihrem Beginn neigen Kriege dazu, eine eigene Logik zu entwickeln, was es schwierig macht, ihren Verlauf vorherzusagen.
Wer sagt, er wisse mit Sicherheit, welche Entwicklung der Krieg in der Ukraine im weiteren Verlauf nehmen wird, der irrt. Die Dynamik der Eskalation in Kriegszeiten ist ähnlich schwer vorherzusagen oder zu kontrollieren, was eine Warnung für diejenigen sein sollte, die zuversichtlich sind, dass sie die Ereignisse in der Ukraine unter Kontrolle würden halten können.
Überdies fördert der Nationalismus, wie der preußische Militärtheoretiker Carl von Clausewitz erkannte, in modernen Kriegen die Entstehung von extremsten Formen einer Eskalation, insbesondere, wenn für beide Seiten viel auf dem Spiel steht. Das soll nicht heißen, dass Kriege nicht begrenzt werden können, aber das ist meist nur schwer zu erreichen. Angesichts der zu erwartenden unvorstellbar grauenhaften Folgen eines Atomkriegs zwischen Großmächten sollte selbst eine geringe Chance, dass es dazu kommt, jeden Menschen dazu bringen, lange und intensiv darüber nachzudenken, wohin dieser Konflikt in der Ukraine führen könnte.
Diese gefährliche Situation schafft zwar einen starken Anreiz, eine diplomatische Lösung für den Krieg zu finden. Bedauerlicherweise ist jedoch derzeit keine politische Lösung in Sicht, da sich beide Seiten fest zu Kriegszielen bekennen, die einen Kompromiss fast unmöglich machen.
Die Biden-Regierung hätte mit Russland zusammenarbeiten sollen, um die Ukraine-Krise beizulegen, bevor im Februar der Krieg ausbrach. Das hat sie aber abgelehnt und jetzt ist es zu spät, um einen solchen Deal abzuschließen.
Russland, die Ukraine und der Westen stecken in einer schrecklichen Situation fest, aus der es offensichtlich keinen Ausweg gibt. Man kann nur hoffen, dass die maßgeblichen Politiker auf beiden Seiten den Krieg so führen, dass eine katastrophale Eskalation vermieden wird. Für die vielen Millionen Menschen, deren Leben auf dem Spiel steht, ist das jedoch ein schwacher Trost.
Ende des Textes von John Mearsheimer