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Brinkmanship in der Ukraine

Große Risiken katastrophaler Eskalation im Ukraine-Krieg. Sinnvoller Kompromiss und ein Ende des Krieges nicht in Sicht. US-Politologe Mearsheimer mahnt.

In einem meiner ersten Beiträge zum Ukraine-Krieg [1] im April 2022 in Telepolis habe ich darauf hingewiesen, dass es eine Ironie der Geschichte ist, dass der renommierte Politologe John Mearsheimer, der dem politologischen US-Establishment zuzurechnen ist, angesichts des kollektiven Wahnsinns unter den Intellektuellen als eine der wenigen derzeitigen Stimmen der Vernunft erscheint.1 [2]

Diese Einschätzung bezieht sich auf die seit 2015 von ihm mit einer großen Anzahl von Video-Vorträgen und -Interviews betriebenen mutigen Aufklärung im Internet über die Vorgeschichte und die Hintergründe des Ukraine-Konflikts, wobei er die gut begründete These vertritt, dass die USA und der Westen für diesen Konflikt hauptverantwortlich sind.2 [3]

Er weist aber auch auf die großen Gefahren hin, die mit diesem jetzt seit mehr als sechs Monaten andauernden Krieg in der Ukraine verbunden sind und warnt eindringlich vor der Möglichkeit, dass sich daraus wieder ein großer Krieg in Europa entwickelt, bei dem auch die Gefahr des Einsatzes von Atomwaffen nicht auszuschließen ist.3 [4]

Am 17. August 2022 ist in der Zeitschrift Foreign Affairs, der bedeutendsten US-amerikanischen Zeitschrift für Außen- und Geopolitik, ein ausführlicher Artikel von Mearsheimer [5] erschienen, in dem er noch einmal seine Befürchtungen und Warnungen vor einer Eskalation des Krieges in der Ukraine zum Ausdruck bringt.4 [6]

Ich habe diesen wichtigen Text von Mearsheimer für meine Telepolis-Leser ohne Kürzungen ins Deutsche übertragen und mit einigen Zwischenüberschriften versehen, damit er besser lesbar ist. Am Schluss habe ich noch einige abschließende Gedanken von mir angefügt.

Beginn des Textes von John Mearsheimer

Westliche Politiker scheinen einen Konsens darüber erzielt zu haben, wie der Krieg in der Ukraine weitergehen wird: Der Konflikt wird in eine längere Pattsituation übergehen, und schließlich wird ein geschwächtes Russland ein Friedensabkommen akzeptieren, das für die Vereinigten Staaten und ihre Nato-Verbündeten sowie die Ukraine günstig ist.

Bild [7]: John Mearsheimer / CC-BY-SA-3.0 [8]

Obwohl Beamte der US-Regierung es für möglich halten, dass sowohl Washington als auch Moskau die Situation eskalieren könnten, um einen Vorteil für sich zu erlangen oder eine Niederlage abzuwenden, gehen sie doch davon aus, dass eine katastrophale Eskalation vermieden werden könne. Nur wenige können sich vorstellen, dass US-Streitkräfte direkt in die Kämpfe verwickelt werden oder dass Russland es wagen wird, Atomwaffen einzusetzen.

Aber Washington und seine Verbündeten sind viel zu unbekümmert. Auch wenn eine katastrophale Eskalation vermieden werden kann, ist die Fähigkeit der Kriegsparteien, die Eskalationsgefahr zu kontrollieren, alles andere als sicher. Das Risiko dafür ist wesentlich größer, als die konventionelle Weisheit es für möglich hält. Und aufgrund der Tatsache, dass die Folgen der Eskalation einen großen Krieg in Europa und möglicherweise sogar die nukleare Vernichtung bedeuten könnten, gibt es gute Gründe, darüber sehr besorgt zu sein.

Beide Seiten – Russland und die USA – haben in diesem Krieg große Ambitionen

Um die Dynamik der Eskalation in der Ukraine zu verstehen, beginnen wir mit den Zielen jeder Seite. Seit Beginn des Krieges haben sowohl Moskau als auch Washington ihre Ambitionen erheblich ausgeweitet, und beide sind nun fest entschlossen, den Krieg zu gewinnen, um gewichtige politische Ziele zu erreichen.

Infolgedessen hat jede Seite starke Anreize, Wege zu finden, um sich durchzusetzen und, was noch wichtiger ist, eine Niederlage zu vermeiden.

In der Praxis bedeutet dies, dass die Vereinigten Staaten sich mit eigenen Truppen an den Kämpfen beteiligen könnten, entweder, wenn sie mit ihren Zielen ins Hintertreffen geraten sind und trotzdem gewinnen wollen, oder um zu verhindern, dass die Ukraine verliert.

Russland könnte Atomwaffen einsetzen, wenn es nicht mehr hoffen kann zu gewinnen oder vor einer bevorstehenden Niederlage steht, was wahrscheinlich wäre, wenn US-Streitkräfte in die Kämpfe hineingezogen würden.

Überdies gibt es angesichts der Entschlossenheit jeder Seite, ihre Ziele zu erreichen, wenig Chancen auf einen sinnvollen Kompromiss. Das maximalistische Denken, das jetzt sowohl in Washington als auch in Moskau vorherrscht, gibt jeder Seite noch mehr Grund, auf dem Schlachtfeld zu gewinnen, um die Bedingungen des letztendlichen Friedens diktieren zu können.

In der Tat bietet das Fehlen einer möglichen diplomatischen Lösung einen zusätzlichen Anreiz für beide Seiten, die Eskalationsleiter hochzusteigen. Was dann folgt, könnte zu einem wirklich katastrophalen Ende führen: ein Ausmaß an Tod und Zerstörung, das über dem des Zweiten Weltkriegs liegt.

USA wollen Russland schwächen und aus dem Kreis der Großmächte ausschließen

Die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten haben zunächst die Ukraine unterstützt, um einen russischen Sieg zu verhindern und ein für sie günstiges Ende der Kämpfe auszuhandeln.

Aber als das ukrainische Militär begann, den russischen Streitkräften, insbesondere um Kiew, eine Schlappe beizubringen, änderte die Biden-Regierung den Kurs und verpflichtete sich, der Ukraine zu helfen, den Krieg gegen Russland zu gewinnen. Die USA versuchen auch, der russischen Wirtschaft durch die Verhängung beispielloser Sanktionen schweren Schaden zuzufügen. Wie Verteidigungsminister Lloyd Austin im April die Ziele der USA erklärte:

Wir wollen, dass Russland in dem Maße geschwächt wird, dass es nicht die Art von Dingen tun kann, die es bei der Invasion der Ukraine getan hat.

Tatsächlich kündigten die Vereinigten Staaten ihre Absicht an, Russland aus dem Kreis der Großmächte zu werfen.

Weiterhin haben die Vereinigten Staaten ihren eigenen Ruf an den Ausgang des Konflikts geknüpft. US-Präsident Joe Biden hat Russlands Krieg in der Ukraine als "Völkermord" bezeichnet und den russischen Präsidenten Wladimir Putin beschuldigt, ein "Kriegsverbrecher" zu sein, der sich einem "Kriegsverbrecherprozess" stellen sollte.

Präsidiale Proklamationen wie diese machen es schwer vorstellbar, dass Washington nachgibt: Wenn Russland sich in der Ukraine durchsetzte, würde die Position der Vereinigten Staaten in der Welt einen schweren Schlag erleiden.

Russland möchte Garantie, dass die Ukraine nicht der Nato beitritt

Auch die russischen Ambitionen haben zugenommen. Entgegen der gängigen Meinung im Westen ist Moskau nicht in die Ukraine einmarschiert, um sie zu erobern und sie zu einem Teil eines Großrusslands zu machen. Es ging vor allem darum, zu verhindern, dass die Ukraine zu einem westlichen Bollwerk an der russischen Grenze wird.

Putin und seine Berater waren besonders besorgt darüber, dass die Ukraine schließlich der Nato beitreten könnte. Der russische Außenminister Sergej Lawrow brachte es Mitte Januar auf den Punkt: "Der Schlüssel zu allem ist die Garantie, dass sich die Nato nicht nach Osten ausdehnen wird." Für die russische Führung ist die Aussicht auf eine ukrainische Mitgliedschaft in der Nato, wie Putin selbst es vor der Invasion ausdrückte, "eine direkte Bedrohung für die russische Sicherheit"- eine, die nur dadurch beseitigt werden kann, indem man in den Krieg zieht und die Ukraine in einen neutralen oder gescheiterten Staat verwandelt.

Im Vergleich mit diesem Zweck scheinen sich die territorialen Ziele Russlands seit Beginn des Krieges jedoch deutlich ausgeweitet haben. Bis zum Vorabend der Invasion war Russland ja entschlossen, das Minsk-II-Abkommen umzusetzen, das den Donbass als Teil der Ukraine belassen hätte.

Im Laufe des Krieges hat Russland jetzt große Teile des Territoriums in der Ost- und Südukraine erobert, und es gibt immer mehr Hinweise darauf, dass Putin nun beabsichtigt, das gesamte oder den größten Teil dieses Gebietes zu annektieren, wodurch das, was von der Ukraine dann noch übrig bleiben würde, dieses Land in der Tat in einen dysfunktionalen Rumpfstaat verwandeln wird.

Russlands Bedrohung durch die Nato jetzt noch größer als vor dem Krieg

Die Bedrohung für Russland ist heute noch größer als vor dem Krieg, vor allem, weil die Biden-Regierung jetzt entschlossen ist, Russland die territorialen Gewinne wieder abzunehmen und die russische Macht dauerhaft zu schädigen. Erschwerend kommt hinzu, dass Finnland und Schweden der Nato beitreten werden und die Ukraine jetzt besser bewaffnet und enger mit dem Westen verbündet ist, als das vorher der Fall war.

Moskau kann es sich nicht leisten, in der Ukraine zu verlieren, und es wird alle verfügbaren Mittel einsetzen, um eine Niederlage zu vermeiden. Putin scheint zuversichtlich zu sein, dass Russland sich letztendlich gegen die Ukraine und ihre westlichen Unterstützer durchsetzen wird. "Heute hören wir, dass sie uns auf dem Schlachtfeld besiegen wollen", sagte er Anfang Juli. "Was kannst du sagen? Lass sie es versuchen. Die Ziele der militärischen Spezialoperation werden erreicht. Daran besteht kein Zweifel."

Und was will die Ukraine?

Die ukrainische Regierung hat die gleichen Ziele wie die Biden-Regierung. Die Ukrainer sind entschlossen, an Russland verlorene Gebiete zurückzuerobern – einschließlich der Krim – und ein geschwächtes Russland ist für die Ukraine sicherlich weniger bedrohlich.

Ebenso ist die Regierung der Ukraine zuversichtlich, dass sie den Krieg gewinnen kann, wie der ukrainische Verteidigungsminister Oleksii Reznikov Mitte Juli deutlich machte, als er sagte:

Russland kann definitiv besiegt werden, und die Ukraine hat bereits gezeigt, wie.

Sein US-Kollege stimmt offenbar zu. "Unsere Hilfe macht vor Ort einen echten Unterschied", sagte Austin in einer Rede Ende Juli. "Russland glaubt, dass es die Ukraine überdauern kann – und auch uns überdauern kann. Aber das ist nur die jüngste in Russlands Reihe von Fehleinschätzungen."

Kein Raum für Kompromisse

Im Wesentlichen sind Kiew, Washington und Moskau alle zutiefst entschlossen, auf Kosten ihres Gegners zu gewinnen, was wenig Raum für Kompromisse lässt.

Weder die Ukraine noch die Vereinigten Staaten zum Beispiel werden wahrscheinlich eine neutrale Ukraine akzeptieren. Es scheint so, dass die Verbindungen der Ukraine mit dem Westen von Tag zu Tag enger werden.

Es ist auch nicht wahrscheinlich, dass Russland das gesamte oder sogar den größten Teil des Territoriums, das es in der Ukraine eingenommen hat, zurückgeben wird, zumal die Animositäten, die den Konflikt im Donbass zwischen prorussischen Separatisten und der ukrainischen Regierung in den letzten acht Jahren angeheizt haben, intensiver sind denn je.

Die militärische Entwicklung im Ukraine-Krieg (19 Bilder) [9]

[10]
Frontverlauf am 26. Februar 2022

Diese widersprüchlichen Interessen erklären, warum so viele Beobachter glauben, dass eine Verhandlungslösung in absehbarer Zeit nicht zu erreichen und daher eine länger dauernde blutige Pattsituation vorherzusehen ist. Damit dürften sie recht haben.

Aber diese Beobachter unterschätzen das Potenzial für eine katastrophale Eskalation, die mit in einem langwierigen Krieg in der Ukraine zwangsläufig verbunden ist.

Drei Wege in die Eskalation

Es gibt drei grundlegende Wege zur Eskalation, die der Kriegsführung innewohnen: Eine oder beide Seiten eskalieren absichtlich, um den Krieg zu gewinnen, eine oder beide Seiten eskalieren absichtlich, um eine Niederlage zu verhindern, oder die Kämpfe eskalieren nicht durch bewusste Entscheidungen, sondern unbeabsichtigt und zufällig.

Jeder dieser Wege birgt das Potenzial, dass die USA mit Truppen in den Kampf eingreifen oder Russland zum Einsatz von Atomwaffen veranlasst wird, oder möglicherweise beides.

Nachdem die Biden-Regierung zu dem Schluss gekommen war, dass Russland in der Ukraine geschlagen werden könnte, schickte sie mehr und mächtigere Waffen nach Kiew.

Der Westen hat damit begonnen, die Angriffsfähigkeit der Ukraine zu erhöhen, indem er Waffen wie das Himars-Mehrfachraketensystem geschickt hat, zusätzlich zu "defensiven" Waffen wie die Javelin-Panzerabwehrraketen. Im Laufe der Zeit hat sowohl die Letalität als auch die Quantität der gelieferten Waffen zugenommen.

Bedenken Sie, dass Washington im März sein Veto gegen einen Plan zur Verlegung der polnischen Mig-29-Kampfjets in die Ukraine eingelegt hatte, mit der Begründung, dass dies den Kampf eskalieren könnte. Aber im Juli erhob es keine Einwände, als die Slowakei ankündigte, dass sie erwäge, Flugzeuge des gleichen Typs nach Kiew zu schicken. Die Vereinigten Staaten erwägen auch, der Ukraine ihre eigenen F-15- und F-16-Kampfjets zu liefern.

Die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten bilden auch das ukrainische Militär aus und versorgen es mit wichtigen Geheimdienstinformationen, die es zur Zerstörung wichtiger russischer Ziele benötigt. Auch hat der Westen, wie die New York Times berichtete, "ein heimliches Netzwerk von Kommandos und Spionen" vor Ort in der Ukraine.

Washington mag noch nicht direkt in die Kämpfe verwickelt sein, aber es ist tief in diesem Krieg verwickelt. Und die USA sind jetzt nur noch einen kurzen Schritt davon entfernt, dass ihre eigenen Soldaten die Abzüge an ihren Gewehren betätigen und eigene Piloten die Knöpfe zum Einsatz der Bomben betätigen.

Unterschiedliche Szenarien für einen direkten Kriegseintritt der USA

Das US-Militär könnte sich auf verschiedene Weise in die Kämpfe einmischen. Stellen Sie sich eine Situation vor, in der sich der Krieg ein Jahr oder länger hinzieht, und es ist weder eine diplomatische Lösung in Sicht noch ein gangbarer Weg zu einem ukrainischen Sieg.

Gleichzeitig versucht Washington verzweifelt, den Krieg zu beenden – vielleicht, weil es glaubt, sich darauf konzentrieren zu müssen, China einzudämmen, oder weil die wirtschaftlichen Kosten der Unterstützung der Ukraine politische Probleme im Inland und/oder in Europa verursachen.

Unter diesen Umständen hätten die politischen Entscheidungsträger in den USA vermeintlich gute Gründe dafür, riskantere Schritte in Betracht zu ziehen – wie die Einführung einer Flugverbotszone über der Ukraine oder die Einsetzung kleiner Kontingente von US-Bodentruppen-, um die Ukraine dabei zu unterstützen, Russland zu besiegen.

Ein wahrscheinlicheres Szenario für eine US-Intervention würde eintreten, wenn die ukrainische Armee zu kollabieren beginnt und es so aussieht, als ob Russland wahrscheinlich einen bedeutenden Sieg erringen könnte.

In diesem Fall könnten die Vereinigten Staaten, angesichts der bisherigen großen Anstrengungen der Biden-Regierung, eine solche Entwicklung zu verhindern, versuchen, das Blatt zu wenden, indem sie sich direkt in die Kämpfe eingreifen.

Man kann sich gut vorstellen, dass US-Beamte dann davon ausgehen würden, dass die Glaubwürdigkeit ihres Landes auf dem Spiel stehe und selbst davon überzeugt wären, dass ein begrenzter Einsatz von direkter Gewalt die Ukraine retten könnte, ohne Putin zum Einsatz von Atomwaffen zu veranlassen.

Alternativ könnte eine verzweifelte Ukraine groß angelegte Angriffe auf russische Städte starten, in der Hoffnung, dass eine solche Eskalation eine massive russische Reaktion provozieren würde, die die Vereinigten Staaten schließlich zwingen würde, direkt in die Kämpfe einzugreifen.

Bei einem weiteren Szenario für eine direkte US-amerikanisches Beteiligung am Krieg handelt es sich um eine unbeabsichtigte Eskalation: Ohne es zu wollen, wird Washington durch ein unvorhergesehenes Ereignis, das sich immer weiter aufschaukelt, in den Krieg hineingezogen.

Es könnte eine versehentliche Kollision von US-amerikanischen und russischen Kampfjets auftreten, die über der Ostsee in zu engem Kontakt gekommen sind. Ein solcher Unfall könnte angesichts der angespannten Situation auf beiden Seiten, des Mangels an Kommunikation und der gegenseitigen Dämonisierung leicht eskalieren.

Oder möglicherweise blockiert Litauen den Transport von sanktionierten Waren auf ihrem Weg von Russland nach Kaliningrad, der russischen Enklave, die vom Rest des Landes getrennt ist.

Litauen tat genau das Mitte Juni, machte aber Mitte Juli einen Rückzieher, nachdem Moskau deutlich gemacht hatte, dass es "harte Maßnahmen" in Betracht zieht, um die als illegal angesehene Blockade zu beenden.

Das litauische Außenministerium hat sich jedoch dagegen gewehrt, die Blockade vollständig aufzuheben. Da Litauen ein Nato-Mitglied ist, würden die Vereinigten Staaten mit ziemlicher Sicherheit Soldaten zu ihrer Verteidigung einsetzen, wenn Russland das Land angreifen würde.

Oder vielleicht zerstört Russland ein Gebäude in Kiew oder einen Trainingsplatz irgendwo in der Ukraine und tötet unbeabsichtigt eine beträchtliche Anzahl von Amerikanern, darunter Entwicklungshelfer, Geheimdienstler oder Militärberater. Die Biden-Regierung, die dann möglicherweise zu Hause mit einem öffentlichen Aufruhr konfrontiert ist, beschließt, dass sie Vergeltung üben und russische Ziele angreifen muss, was dann zu einer Reihe sich aufschaukelnder Vergeltungsmaßnahmen zwischen den beiden Seiten führen könnte.

Schließlich besteht die Möglichkeit, dass die Kämpfe in der Südukraine das von Russland kontrollierte Kernkraftwerk Saporischschja, das größte in Europa, bis zu dem Punkt beschädigen, an dem es zu einer radioaktiven Verseuchung in der Region kommt, was Russland dazu veranlasst, in einer vergleichbaren Weise zu reagieren.

Dmitri Medwedew, der ehemalige russische Präsident und Premierminister, hat einen drohenden Hinweis sich auf diese Möglichkeit geäußert. Er sagte im August: "Vergessen Sie nicht, dass es auch in der Europäischen Union Atomanlagen gibt. Und auch dort sind Zwischenfälle möglich." Sollte Russland einen europäischen Atomreaktor angreifen, würden die Vereinigten Staaten mit ziemlicher Sicherheit direkt in den Krieg eintreten.

Szenarien für eine russische Eskalation

Natürlich könnte auch Moskau die Eskalation anstoßen. Man kann die Möglichkeit nicht ausschließen, dass Russland, wenn es sich in einer verzweifelten Situation befindet, versucht, den Zustrom westlicher Militärhilfe in die Ukraine zu stoppen und die Länder mit Raketen angreift, durch die der Großteil der Waffen fließt: Das sind Polen und Rumänien, die beide Nato-Mitglieder sind.

Es besteht auch die Möglichkeit, dass Russland einen massiven Cyberangriff auf ein oder mehrere europäische Länder startet, die der Ukraine helfen, was zu großen Schäden an deren kritischer Infrastruktur führen könnte.

Ein solcher Angriff könnte die Vereinigten Staaten dazu veranlassen, einen Vergeltungsangriff gegen Russland zu starten. Wenn er gelänge, könnte Moskau militärisch reagieren. Wenn er aber scheitert, könnte Washington entscheiden, dass der einzige Weg, Russland zu bestrafen, darin bestünde, es direkt militärisch anzugreifen.

Solche Szenarien klingen vielleicht etwas weit hergeholt, sind aber nicht unmöglich. Und das sind nur einige der vielen Wege, auf denen sich das, was jetzt noch ein lokaler Krieg ist, sich in etwas viel Größeres und viel Gefährlicheres verwandeln könnte.

Drei Umstände, unter denen Russland Atomwaffen einsetzen könnte

Obwohl das russische Militär der Ukraine enormen Schaden zugefügt hat, hat Moskau bisher gezögert zu eskalieren, um den Krieg zu gewinnen.

Putin hat die Größe seiner Truppen nicht durch eine groß angelegte Mobilisierung in Russland aufgestockt. Er hat auch nicht das Stromnetz der Ukraine ins Visier genommen, was relativ einfach zu bewerkstelligen wäre und diesem Land massiven Schaden zufügen würde.

Tatsächlich haben ihn viele Russen dafür kritisiert, dass er den Krieg nicht energischer geführt hat. Putin hat diese Kritik zur Kenntnis genommen, aber wissen lassen, dass er notfalls eskalieren würde. "Wir haben noch nicht einmal ernsthaft angefangen", sagte er im Juli und deutete an, dass Russland mehr tun könnte und würde, wenn sich die militärische Situation verschlechtert.

Was ist mit der ultimativen Form der Eskalation? Es gibt drei Umstände, unter denen Putin Atomwaffen einsetzen könnte.

Die erste wäre, wenn die Vereinigten Staaten und ihre Nato-Verbündeten in den Kampf eintreten würden. Diese Entwicklung würde nicht nur das militärische Gleichgewicht zu Ungunsten Russlands deutlich verschieben und die Wahrscheinlichkeit seiner Niederlage erheblich erhöhen, sondern auch bedeuten, dass Russland einen Krieg mit einer Großmacht vor seiner Haustür führen müsste, der leicht auf sein Territorium übergreifen könnte.

Die russische Führung würde sicherlich denken, dass ihr Überleben in Gefahr ist, was für sie ein starker Anreiz wäre, Atomwaffen einzusetzen, um die Situation zu retten. Zumindest würden sie demonstrative Atomwaffenexplosionen in Betracht ziehen, die den Westen davon überzeugen sollen, sich zurückzuziehen. Ob ein solcher Schritt den Krieg beenden oder außer Kontrolle geraten lassen würde, ist im Voraus unmöglich zu sagen.

In seiner Rede vom 24. Februar 2022, in der er die Invasion ankündigte, deutete Putin nachdrücklich an, dass er sich Atomwaffen zuwenden würde, wenn die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten in den Krieg eintreten würden. Er wandte sich an "diejenigen, die versucht sein könnten, sich einzumischen" und sagte:

Sie müssen wissen, dass Russland sofort reagieren wird, und die Konsequenzen werden so sein, wie Sie sie in Ihrer gesamten Geschichte noch nie gesehen haben.

Diese damalige Warnung von Putin ist Avril Haines, der US-Direktorin der nationalen Geheimdienste, nicht entgangen, die im Mai voraussagte, dass er Atomwaffen einsetzen könnte, wenn die Nato "entweder interveniert oder kurz davor steht, einzugreifen", zum guten Teil, weil dies "offensichtlich zu seiner Wahrnehmung beitragen würde, dass er im Begriff ist, den Krieg in der Ukraine zu verlieren".

In einem zweiten Atomkriegsszenario gelingt es der Ukraine, das Blatt auf dem Schlachtfeld ohne direkte Beteiligung der USA zu ihren Gunsten zu wenden. Wenn die ukrainischen Streitkräfte dabei wären, die russische Armee zu besiegen und das verlorene Territorium ihres Landes zurückzuerobern, gibt es wenig Zweifel, dass Moskau dieses Ergebnis als eine existenzielle Bedrohung betrachten könnte, die eine nukleare Reaktion erfordert.

Schließlich sind Putin und seine Berater durch die zunehmende Ausrichtung Kiews auf den Westen so alarmiert gewesen, dass sie sich bewusst für einen Angriff auf die Ukraine entschieden haben, trotz klarer Warnungen der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten vor den schwerwiegenden Konsequenzen, mit denen Russland bei einem Angriff konfrontiert sein würde.

Anders als im ersten Szenario würde Moskau in diesem Fall Atomwaffen nicht im Rahmen eines Krieges gegen die Vereinigten Staaten einsetzten, sondern gegen die Ukraine. Russland würde dies mit weniger Befürchtungen vor nuklearen Vergeltungsmaßnahmen tun, da Kiew keine Atomwaffen hat und Washington kein Interesse daran hätte, einen Atomkrieg zu beginnen. Das Fehlen einer klaren Vergeltungsdrohung würde es Putin erleichtern, über den Einsatz von Atomwaffen nachzudenken.

Zu einem dritten Szenario könnte es kommen, wenn der Krieg in eine langwierige Pattsituation übergeht, die keine diplomatische Lösung eröffnet und für Moskau äußerst kostspielig wird. Putin würde verzweifelt versuchen, den Konflikt zu günstigen Bedingungen zu beenden, und könnte eine nukleare Eskalation anstreben, um zu gewinnen. Wie beim vorherigen Szenario, in dem er eskaliert, um eine Niederlage zu vermeiden, wäre eine nukleare Vergeltung der USA höchst unwahrscheinlich.

In diesen beiden Szenarien könnte Russland wahrscheinlich taktische Atomwaffen gegen eine kleine Gruppe militärischer Ziele einsetzen, zumindest zu Beginn. Es könnte Städte in späteren Angriffen treffen, wenn nötig. Einen militärischen Vorteil zu erlangen, wäre das eine Ziel der Strategie, aber das andere wichtigere wäre, im Westen mit einem derartigen Einsatz eine solche Angst zu verbreiten, so dass die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten schnell handeln könnten, um den Konflikt zu für Moskau günstigen Bedingungen zu beenden.

Kein Wunder, dass William Burns, der Direktor der CIA, im April bemerkte:

Keiner von uns kann die Bedrohung durch einen möglichen Rückgriff auf taktische Atomwaffen oder Atomwaffen mit geringer Sprengkraft auf die leichte Schulter nehmen.

Wohin führt der Krieg in der Ukraine?

Obwohl eines dieser theoretischen katastrophalen Szenarien Wirklichkeit werden könnte, kann man bei einer Abwägung zu dem Ergebnis kommen, dass die Chancen dafür gering sind und daher die Situation nicht besorgniserregend ist. Schließlich bestehen für die Politiker auf beiden Seiten starke Anreize, die USA aus den Kämpfen herauszuhalten und selbst einen begrenzten nuklearen Einsatz zu vermeiden, ganz zu schweigen von einem tatsächlichen umfassenden Atomkrieg.

Ich würde mir natürlich sehr wünschen, dass wir so optimistisch sein könnten. Tatsächlich unterschätzt diese konventionelle Sichtweise die Gefahren einer Eskalation in der Ukraine jedoch erheblich, denn an ihrem Beginn neigen Kriege dazu, eine eigene Logik zu entwickeln, was es schwierig macht, ihren Verlauf vorherzusagen.

Wer sagt, er wisse mit Sicherheit, welche Entwicklung der Krieg in der Ukraine im weiteren Verlauf nehmen wird, der irrt. Die Dynamik der Eskalation in Kriegszeiten ist ähnlich schwer vorherzusagen oder zu kontrollieren, was eine Warnung für diejenigen sein sollte, die zuversichtlich sind, dass sie die Ereignisse in der Ukraine unter Kontrolle würden halten können.

Überdies fördert der Nationalismus, wie der preußische Militärtheoretiker Carl von Clausewitz erkannte, in modernen Kriegen die Entstehung von extremsten Formen einer Eskalation, insbesondere, wenn für beide Seiten viel auf dem Spiel steht. Das soll nicht heißen, dass Kriege nicht begrenzt werden können, aber das ist meist nur schwer zu erreichen. Angesichts der zu erwartenden unvorstellbar grauenhaften Folgen eines Atomkriegs zwischen Großmächten sollte selbst eine geringe Chance, dass es dazu kommt, jeden Menschen dazu bringen, lange und intensiv darüber nachzudenken, wohin dieser Konflikt in der Ukraine führen könnte.

Diese gefährliche Situation schafft zwar einen starken Anreiz, eine diplomatische Lösung für den Krieg zu finden. Bedauerlicherweise ist jedoch derzeit keine politische Lösung in Sicht, da sich beide Seiten fest zu Kriegszielen bekennen, die einen Kompromiss fast unmöglich machen.

Die Biden-Regierung hätte mit Russland zusammenarbeiten sollen, um die Ukraine-Krise beizulegen, bevor im Februar der Krieg ausbrach. Das hat sie aber abgelehnt und jetzt ist es zu spät, um einen solchen Deal abzuschließen.

Russland, die Ukraine und der Westen stecken in einer schrecklichen Situation fest, aus der es offensichtlich keinen Ausweg gibt. Man kann nur hoffen, dass die maßgeblichen Politiker auf beiden Seiten den Krieg so führen, dass eine katastrophale Eskalation vermieden wird. Für die vielen Millionen Menschen, deren Leben auf dem Spiel steht, ist das jedoch ein schwacher Trost.

Ende des Textes von John Mearsheimer

Abschließende Gedanken

Die Welt ist durch den seit 2014 bestehenden Bürgerkrieg im Donbass5 [11] und den seit dem 24.2.2022 geführten Angriffskrieg Russlands in der Ukraine, bei dem es sich in Wirklichkeit um einen Stellvertreter-Krieg zwischen den USA und Russland handelt6 [12], an einem höchst gefährlichen Punkt angekommen.

Der vorliegende Text von Mearsheimer ist eine überzeugende und illusionslose Darstellung der möglichen Folgen des schrecklichen Krieges in der Ukraine.

Durch die militärische Unterstützung der USA und des Westens scheint eine Pattsituation in der Ukraine zu bestehen, so dass der Krieg noch längere Zeit – zu befürchten ist, bis zum letzten Ukrainer – weitergehen könnte.

Mearsheimer zeigt anhand einer Reihe von Szenarien, dass, je länger der Krieg dauert, desto eher die Möglichkeit der Eskalation bis zu einem großen Krieg in Europa besteht, bei dem auch Atomwaffen zum Einsatz kommen könnten.

Wie wahrscheinlich eine derartige Möglichkeit tatsächlich ist, kann niemand mit Sicherheit sagen. Aber die Möglichkeit ist wieder real, und das sollte uns allen einen Schauer über den Rücken jagen.

Mearsheimer weist darauf hin, dass eine große Kluft zwischen der realen Gefahr eines neuen großen Krieges bzw. eines Atomkrieges und der Tatsache besteht, dass diese Gefahr von der Bevölkerung noch nicht wahrgenommen wird.

Zum heutigen Wissensstand gehört, dass wir im ersten Kalten Krieg nicht nur einmal, sondern viele Male nur um Haaresbreite und mit viel Glück einem nuklearen Inferno entkommen sind, und für die junge Generation ist es kaum vorstellbar, dass erneut das Szenario eines Armageddons entstanden ist, vor dem sich ihre Großeltern schon fürchten mussten.7 [13]

Auch wissen wir heute, dass wir beim Einsatz von Atomwaffen nicht nur deren unvorstellbar zerstörerische direkte Wirkungen (Hitze- und Druckwelle und die radiaktive Verstrahlung) zu erleiden hätten, sondern auch mittel- und langfristige desaströse ökologische Folgewirkungen.8 [14]

So könnte selbst ein "begrenzter" Atomkrieg zu einer globalen Abkühlung führen und mittelfristig eine langfristige weltweite Hungerkatastrophe mit vielen Millionen Toten verursachen.9 [15]

Klaus-Dieter Kolenda, Prof. Dr. med., Facharzt für Innere Medizin – Gastroenterologie, Facharzt für Physikalische und Rehabilitative Medizin/Sozialmedizin, war von 1985 bis 2006 Chefarzt einer Rehabilitationsklinik für Erkrankungen des Herz-Kreislaufsystems, der Atemwege, des Stoffwechsels und der Bewegungsorgane. Seit 1978 ist er als medizinischer Sachverständiger bei der Sozialgerichtsbarkeit in Schleswig-Holstein tätig. Zudem arbeitet er in der Kieler Gruppe der IPPNW e.V. (Internationale Ärztinnen und Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges und für soziale Verantwortung) mit. E-Mail: klaus-dieter.kolenda@gmx.de


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[15] https://www.heise.de/tp/features/Brinkmanship-in-der-Ukraine-7246879.html?view=fussnoten#f_9