Britischer Historiker zum Ukraine-Krieg: "EU sollte auf Diplomatie setzen"

Das sagt der britische Russland-Experte Geoffrey Roberts. Er meint: Der Herbst könnte die letzte Chance für Diplomatie bieten. Verhandlungen könnten Schaden begrenzen.

Geoffrey Roberts ist britischer Historiker, emeritierter Professor für Geschichte am University College Cork in Irland und Mitglied der Royal Irish Academy. Sein Forschungsschwerpunkt ist sowjetische Außenpolitik sowie Militär- und Diplomatie-Geschichte. Einige seiner Bücher wurden in 20 Sprachen übersetzt.

Vor einigen Tagen hat das American Committee for US-Russia-Accord (Acura) auf einen Beitrag von Roberts über den Krieg in der Ukraine aufmerksam gemacht, der auf Brave New Europe – einer englischsprachigen Website für kritisches Denken und Alternativen zum Neoliberalismus – erschienen ist.1

Der Text besteht aus einer kurzen Zusammenfassung und neun Fragen zum Ukraine-Krieg, die von Roberts klarsichtig beantwortet werden. Mit Erlaubnis von Brave New Europe hat unser Autor Klaus-Dieter Kolenda den Beitrag ins Deutsche übertragen:


Das Zeitfenster für ein Verhandlungsende des Krieges schließt sich zusehends. Dieser Herbst könnte die letzte Chance der Diplomatie sein, irgendeine Art von Lösung zu erreichen. Wenn das nicht geschieht, wird sich das Schicksal der Ukraine auf dem Schlachtfeld entscheiden, und wenn die Waffen verstummen, wird der ukrainische Staat möglicherweise nicht mehr in einem sinnvollen Sinne existieren.

Neun Fragen und Antworten

1. Die ukrainische Gegenoffensive verläuft nicht so gut, wie es sich die westlichen Politiker und Mainstream-Medien wünschen. Was glauben Sie, was in den nächsten Wochen auf dem Kriegsschauplatz passieren wird? Wird das Ergebnis der ukrainischen Gegenoffensive die Politik der Brüsseler gegenüber Kiew ändern?

Die ukrainische Gegenoffensive ist gescheitert. Die ukrainischen Streitkräfte mögen in der Lage sein, einige taktische Gewinne zu erzielen, aber es gibt keine Aussicht auf irgendeine Art von strategischem Durchbruch. Die materiellen und menschlichen Kosten der gescheiterten Offensive waren enorm, und langsam, aber sicher, verschiebt sich das militärische Gleichgewicht entscheidend zu Gunsten Russlands. Trotz massiver westlicher Hilfe verliert die Ukraine eindeutig den Krieg.

Es bleibt abzuwarten, ob diese Realität die westlichen Entscheidungsträger dazu veranlasst, sich der Diplomatie zuzuwenden und ein Verhandlungsende des Krieges anzustreben, das die Zukunft der Ukraine sichern könnte. Das hängt von der Stärke realistischer und pragmatischer Stimmen unter den westlichen Eliten ab.

Weil die Führung des Westens so viel politisches Kapital in die Niederlage Russlands in der Ukraine investiert hat, wird es ihr schwerfallen, ihren Kurs zu ändern. Ich hoffe, dass sie die Richtung ändern, aber es kann eine Weile dauern, und in der Zwischenzeit wird das unermessliche Leid in der Ukraine weitergehen.

2. Muss der Westen Angst vor einer Eskalation mit der Russischen Föderation haben? Halten Sie etwa einen lokalen Krieg zwischen Polen und Weißrussland für möglich? Würde es zu einer kontinentalen oder globalen Dimension eskalieren?

Eines der besorgniserregendsten Dinge an dem Krieg ist die mangelnde Angst des Westens vor einer Eskalation. Das anhaltende Muster ist eine immer größere Eskalation des Stellvertreterkriegs des Westens mit Russland und seiner materiellen Unterstützung für die Ukraine.

Es sind die Handlungen des Westens, die zu einem so langen Krieg geführt haben.

Hätten die EU und die Nato ihre Hilfe für Kiew zurückgehalten und gekürzt, wäre der Krieg schon vor Monaten beendet und die Ukraine vor immensen Schäden bewahrt worden, einschließlich des Verlusts von Hunderttausenden ihrer Bevölkerung.

Ja, die Ukraine hätte Territorium verloren und ihre Staatlichkeit wäre beschnitten worden. Aber es hätte als souveräner und unabhängiger Staat überlebt. Die Verlängerung des Krieges hat und wird weiterhin zu weiteren Gebietsverlusten der Ukraine führen.

Wenn der Krieg nicht bald endet, wird das Schicksal der Ukraine das eines dysfunktionalen Rumpfstaates sein, der vollständig von einem Westen abhängig ist, der nach dem Ende der Kämpfe weit weniger großzügig in seiner Unterstützung sein wird.

Es ist unwahrscheinlich, dass der Krieg zu einem totalen Konflikt zwischen Russland und dem Westen eskaliert, aber es bleibt möglich, auch als Ergebnis eines Zusammenstoßes zwischen Polen und Belarus, wie Sie andeuten.

Denken Sie auch daran, dass es im antirussischen Lager Extremisten gibt, die eine solche Eskalation herbeisehnen und seit Beginn des Krieges darauf drängen.

Westliche Neokonservative und ukrainische Ultranationalisten sind davon überzeugt, dass Russland ein Papiertiger ist, der zusammenbricht, wenn man sich ihm stellt. Verrücktes Denken, aber sie scheinen wirklich solchen Unsinn zu glauben.

3. Wiederholt sich die Geschichte in der Ukraine? Ich beziehe mich auf die deutschen Panzer, die wieder nach Osten rollen, oder auch auf einen hypothetischen großen Zusammenstoß zwischen dem maritimen "anglo-amerikanischen" Imperium und dem russischen Landreich.

Gegenwärtig rollen die deutschen (und britischen) Panzer nicht nach Osten. Sie werden von russischer Artillerie, Luftwaffe und Panzerabwehrraketen zerstört. Das Gleiche gilt für alle anderen Arten westlicher Panzer, die an die Ukraine geliefert wurden.

Nüchterne Elemente unter den westlichen Militärs müssen zur Kenntnis nehmen und erkennen, dass Russland in der Lage ist, den Westen in jeder direkten, großangelegten konventionellen Begegnung zu besiegen. Sie sind sich auch darüber im Klaren, dass ein solcher Krieg schnell auf die nukleare Ebene eskalieren würde, weil die Vereinigten Staaten nur so in der Lage wären, Europa gegen einen russischen Angriff zu verteidigen.

Glücklicherweise gibt es keine Beweise dafür, dass Russland solche Absichten hat. Während des gesamten Krieges hat Putin versucht, die vom Westen ausgehende westlichen Eskalationsdynamik einzudämmen, indem er auf Provokationen wie die Lieferung deutscher Leopard-Panzer an die Ukraine nicht überreagierte.

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