Bulgarien: Abserviert
Wie Vasil Boschkov, der Reichste der Bulgaren, von seinem Geschäftspartner aus dem Land getrieben wurde
Ein in Rot gehüllter und mit einem Band abgesperrter Verkaufsstand der Nationalen Lotterie steht im Eingangsbereich der Mall of Sofia im Zentrum von Bulgariens Hauptstadt Sofia. Er ist wie ein Mahnmal für die umwälzenden Ereignisse, die die Bulgaren in den vergangenen Wochen erregt und Vasil Boschkov, den reichsten Bulgaren, in die Flucht geschlagen haben.
"Tscherepa" (Schädel) nennen die Bulgaren ihren Glücksspielboss Vasil Boschkov. Wenige Tage nachdem er Ende Januar 2020 mit seinem Privatjet Bombardier Global 5000 in Richtung Vereinigte Arabische Emirate (VAE) entflogen war, unterbreitete ihm Generalstaatsanwalt Ivan Geschev eine Vielfalt strafrechtlicher Schuldvorwürfe, darunter Führung einer kriminellen Vereinigung, Steuerhinterziehung in Höhe von 350 Mio €, Nötigung, Bestechung, Anstiftung zu Straftaten und sogar Mord und Vergewaltigung.
"Wir haben von den Behörden der VAE die offizielle Bestätigung erhalten, dass Boschkov verhaftet worden ist", erklärte Geschev am 2. Februar 2020. Als aber genau zwei Wochen später bekannt wurde, Boschkov sei aus der Auslieferungshaft entlassen worden, sprach der Generalstaatsanwalt plötzlich: "Es ist überraschend für uns, dass er festgenommen worden war. Es gibt in diesen Ländern keine Praxis, Milliardäre festzunehmen. Für gewöhnlich nimmt man ihnen den Pass weg und verbietet ihnen, das Land zu verlassen."
Es ist dies eine von vielen Merkwürdigkeiten im Fall Boschkov - Tscherepa. Dreißig Jahre konnte er von den Behörden unbehelligt Reichtum, Kulturgüter und Sportvereine anhäufen, bis ihn die Behörden plötzlich hochgehen ließen. Warum?
Alles begann Mitte Dezember 2019 mit einem auf Facebook geposteten erbitterten Trennungsbrief von Boschkovs langjährigem Geschäftspartner Tsvetomir Naydenov. "Mach's gut, Schädelchen", war er überschrieben.
Seit dem Jahr 1993 hat die Familie Naydenov, in Bulgarien bekannt als Zekite (die Zecken), gemeinsam mit Boschkov diverse Geschäfte betrieben, vor allem Glücksspielfirmen, Casinos, Spielhöllen und Wettbüros. "Wir trennen uns bei Evrofutbal und den zwölf Spielsalons, an denen Du beteiligt bist", schrieb Tsvetomir Naidenov am 15. Dezember 2019 in Facebook und machte damit einen seit dem Sommer 2019 schwelenden Konflikt publik.
Unternimm keine Anstrengungen, ein Treffen mit uns zu verlangen. Wir wollen Dich weder sehen noch hören, denn wir kennen Deine schmutzigen intriganten Nummern. … Schädelchen", ätzte Zecke Naidenov. "Du hast einen interessanten Ansatz bei Deiner fäkalen Medienattacke: Du versuchst uns Deine Lebensweise unterzuschieben - Huren, Morde, Erpressung, Handel mit Einfluss, Korrumpierung von Polizisten, Staatsanwälten und Finanzbeamten … Bleibt nur noch, dass Du uns den Ankauf von Antiquitäten zuschreibst, dann ist das Bild vollständig. Und um Dich daran zu erinnern, was wir Dir bereits gesagt haben: Wir haben keine Angst vor Dir. Du wolltest uns umbringen, uns fertigmachen, uns pleite gehen lassen … Aber wir kümmern uns nicht um Dich, Tscherry!
Tsvetomir Naidenov
Machtkämpfe um das von der Familie Naidenov geführte Online-Wettbüro Efbet gelten als Auslöser der Intrige zwischen Schädel Boschkov und Zecke Naidenov. In seinem Facebook-Post wirft Tsvetomir Naidenov Vasil Boschkov nicht nur vor, mit seiner Nationalen Lotterie Hunderte von Millionen Leva (BGN) an Steuern hinterzogen, sondern auch der Familie Naidenov und dem Eigentümer des Fußball-Serienmeisters FK Ludogorets Kiril Domustchiev mit Mord gedroht zu haben.
Zunächst blieben die staatlichen Behörden erstaunlich regungslos angesichts der Ungeheuerlichkeit der Vorwürfe. Als aber der nationalistische Politiker Valeri Simeonov vier Wochen später einen Gesetzesentwurf ins Parlament einbrachte, um private Lotterien aus Sorge ums Volkswohl gänzlich zu verbieten, ging alles sehr schnell.
Konfrontiert mit der Aussicht, sein lukratives Lotteriegeschäft zu verlieren, rief Vasil Boschkov die Fans des von ihm gesponsorten Traditions-Fußballvereins Levski Sofia auf, unter dem Fenster von Ministerpräsident Boiko Borissov zu protestieren. Die Parlamentsmehrheit der rechts-nationalistischen Regierungskoalition peitschte derweil das Gesetz zum Verbot privater Lotterien im Eilverfahren durch den parlamentarischen Verabschiedungsprozess.
Vasil Boschkov machte sich auf vom Balkan in den Nahen Osten und Generalstaatsanwalt Geschev schrieb den neuen Staatsfeind Nr. 1 zur internationalen Fahndung aus.
Profiteur der Wende und Kunstsammler
Noch als die kommunistische Volksrepublik Bulgarien 1989 in ihren letzten Zügen lag, wickelte der Diplommathematiker Boschkov erste Geschäfte am Sofioter Boulevard Vitoscha ab. Das legendäre Café Magura war dort damals ein Umschlagsplatz vor allem für Westwährung, aber auch für Antiquitäten und Waffen. Nach dem Sturz des ehernen Staats- und Parteischef Todor Schivkov gelang es dem "Schädel" wie wenig anderen, sich marktwirtschaftlich zu orientieren. Allein und mit Partnern gründete er in rascher Folge Wechselstuben, Spielcasinos, Wachschutzfirmen und sogar eine Bank.
Nachdem seine zu Ruhm und Reichtum gelangten Kollegen und Konkurrenten wie Ilja Pavlov und Emil Kjulev gewaltsam aus dem Leben geschieden waren, erklärte die polnische Zeitschrift Wprost im Jahr 2006 Boschkov zum reichsten Bulgaren mit einem geschätzten Vermögen von 1,5 Mrd $. Auch der "Schädel" blieb von Attentaten nicht verschont; im Jahr 1994 überlebten er und seine Familie wie durch ein Wunder die Detonation einer an seinem Mercedes angebrachten Bombe bei der Fahrt über die Autobahn Thrakia.
Wie ihre russischen Pendants so leisten sich auch bulgarische Oligarchen gerne Fußallvereine. Vasil Boschkov hat nacheinander gleich beide rivalisierenden Traditionsvereine besessen, ZSKA Sofia von 1999 bis 2006 und Levski Sofia seit dem März 2020. Dem ehernen Derby Levski - ZSKA am vergangenen Sonntag (0:0 ) konnte er leibhaftig nicht beiwohnen. Die ZSKA-Fans präsentierten ihren ehemaligen Eigner im Rahmen ihrer Choreographie aber überlebensgroß, um die Levski-Fans zu verhöhnen, deren Verein mit Boschkovs Sturz die Pleite droht.
Aus der Masse der bulgarischen Neureichen hob sich Vasil Boschkov - Tscherepa vor allem durch seine Sammlung von Gegenwartskunst und antiken Artefakten heraus. Über dreitausend Stück enthält allein seine Kollektion archäologischer Fundstücke aus einem Zeitraum von 4000 vor Chr. bis 600 n. Chr. Darunter sind wertvolle Kunstwerke der Thraker, der Ureinwohner des Territoriums des heutigen Bulgarien, die als begnadete Goldschmiede galten.
Als Bulgarien im Jahr 2007 der Europäischen Union (EU) beitrat, präsentierte sich das Balkanland im Europäischen Parlament in Brüssel mit der Ausstellung "Bulgariens Pracht". Sie zeigte goldene Rhyta, Keramikplastiken, Vasen und Waffen aus der Sammlung Boschkov. Schon damals wurde es in Bulgariens Öffentlichkeit kontrovers diskutiert, ob es rechtens sei, dass das Balkanland in Europa mit Exponaten präsentiere, von denen gar nicht klar war, wie sie in Boschkovs Besitz gelangt seien. "Ich kaufe von Leuten, die von Grabplünderern kaufen", sagte Vasil Boschkov damals in einem Interview und schrieb sich das Verdienst zu, mit seinem Geld zu verhindern, dass unschätzbare kulturelle Werte ins Ausland gingen.
"Die Sammlung Boschkov ist völlig legitim", stellte ihm der langjährige Leiter des Nationalen Historischen Museums Boschidar Dimitrov und amtierende Minister im Kabinett Boiko Borissov I im Jahr 2011 einen Persilschein aus. Nun unterstellt Generalstaatsanwalt Geschev Boschkov auch den unrechtmäßigen Besitz von Wertstücken des kulturellen Erbes Bulgariens als Tatvorwurf, um Bulgariens Auslieferungsverlangen an die Vereinigten Arabischen Emirate zusätzliches Gewicht zu verleihen.
Seit einiger Zeit verfolgte Tscherepa den Plan, dem ehemaligen Telefonpalast im Zentrum Sofias ein Obergeschoss hinzufügen, um sein privates Museum der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Für die bulgarische Hauptstadt Sofia wäre dies eine einzigartige Touristenattraktion. Doch wie es momentan scheint, dürfte daraus wohl nichts werden. Denn obwohl der "Schädel" noch nicht rechtskräftig verurteilt ist, haben Kunsthistoriker und Archäologen im Auftrage der Staatsanwaltschaft bereits begonnen, seine Sammlungen zu beschlagnahmen. Die Verantwortlichen von Boschkovs Stiftung Thrakia alarmierten deshalb die UNESCO, der bulgarische Staat zerschlage eine bedeutende private Stiftung.
Erst vor einigen Jahren hat der bulgarische Staat Vasil Boschkov die Lizenz für die Durchführung seiner Nationalen Lotterie erteilt. Obwohl per Gesetz die direkte Reklame für Glücksspiele gesetzlich verboten ist, gelang es seiner Nationalen Lotterie durch massive Werbekampagnen in TV und Onlinemedien einen wahren Boom des Verkaufs von Boschkovs Lotteriescheinen auszulösen.
Viele arme Bulgaren machten es sich zur Gewohnheit, ihre letzten Levas in Boschkovs Lotteriescheine zu investieren. Sie hofften, auf das Glück, durch Lotteriegewinne ihrer finanziellen Misere zu entgehen. Offiziell hat die Regierung ihre de facto-Verstaatlichung von Boschkovs Nationaler Lotterie mit ihrer Sorge um das Volkswohl begründet. Was aber die staatlichen Behörden tatsächlich dazu veranlasst hat, ihren reichsten Bürger nach dreißig Jahren Immunität nach allen Regeln des Strafgesetzbuchs zu kriminalisieren, darüber wird noch auf absehbare Zeit zu spekulieren sein.