Bulgarien: Land ohne Gas

Eine Fallstudie am lebenden Objekt

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Das Thema Energiesicherheit ist seit Jahren ein Dauerbrenner auf europäischen Konferenzen; die Bulgaren erlebten mangelnde Energiesicherheit zu Beginn ihrer ersten Arbeitswoche dieses Jahres live und in Farbe. Nachdem am Morgen des 6. Januar gegen halb vier die Lieferung russischen Gases gestoppt wurde, erkalteten binnen Stunden die Heizkörper der an das nationale Fernwärmenetz angeschlossenen Plattenbauwohnungen des Landes. Selbst nach vollzogener Umstellung der kommunalen Wärmeversorger auf den Betrieb mit dem heizkraftstarken, aber umweltverschmutzenden Erdöldestillat Masut blieb das Badewasser vielerorts lau. Schulen und Kindergärten ohne Möglichkeit zur Verwendung alternativer Brennstoffe schickten ihre Zöglinge in sogenannte Holzferien, auf Gas angewiesene Fabriken vor allem der Schwerindustrie stellten ihren Betrieb ein. Die industriellen Brotbäcker sahen sich wegen eingeschränkter Produktionskapazitäten zur Erhöhung des Brotpreises veranlasst.

Ob nun „der Russe“ oder „der Ukrainer“ an den Hähnen drehte und den Gasstrom nach Bulgarien zum versiegen brachte, blieb lange ungeklärt und wurde zur Gretchenfrage. Die beiden größten Gewerkschaften des Landes riefen in Sofia zu Protestkundgebungen vor der ukrainischen Botschaft auf, vor dem russischen Konsulat in Bulgariens Schwarzmeerkapitale Varna schoben wütende Bürger Russlands Ministerpräsident Vladimir Putin den Schwarzen Peter zu. „Der ukrainisch-russische Gaskrieg“ machte Bulgariens fatale Abhängigkeit von russischem, durch die Ukraine transportiertem Gas augenfällig. Von den ca. 570 Mio Kubikmetern Gas im einzigen Gasspeicher des Landes im nordwestbulgarischen Tschiren konnte der nationale Gasversorger Bulgargaz täglich lediglich 4,5 Mio Kubikmeter Gas ausliefern, ein Drittel des Bedarfs.

Gibt es auf diesem Dampfer einen Kapitän? So hinterfragen Beobachter das Krisenmanagement der bulgarischen Staatsführung seit Ausbruch der Gaskrise kritisch. Widersprüchliche Verlautbarungen zu im Land vorhandenen Gas- und Brennstoffreserven, das Ausmaß der Schäden für die Volkswirtschaft oder mögliche Schadensersatzansprüche sorgten in den folgenden Tagen für einen informationellen Super-Gau. „Wir wurden vor dem Lieferstopp nicht gewarnt“, klagte Bulgariens sozialistischer Ministerpräsident Sergej Stanischev in seiner ersten Stellungnahme zur Gasblockade. „Am 18. Dezember hat uns Gazprom in einem Brief mitgeteilt, dass es Probleme geben könnte“, verlautete dagegen Wirtschafts- und Energieminister Petar Dimitrov.

Am Wochenende erreichte die allgemeine Verwirrung schließlich ihren Kulminationspunkt: „Es ist die politische Entscheidung getroffen worden, dass die Ukraine Bulgarien aus eigenen Beständen täglich 2,5 Mio Kubikmeter Gas liefern wird“, kündigte Regierungschef Stanischev am Samstagnachmittag an. „Eine solche Lieferung ist aus technischen Gründen gar nicht möglich“, erklärte Energieminister Dimitrov einen Tag später.

Nach der ukrainisch-russischen Vereinbarung zu Beobachtern an ukrainischen Transitleitungen hat Gazprom die Wiederaufnahme der Gaslieferungen am Morgen des 13. Januars versprochen, ein Ende des Ausnahmezustands in Bulgarien zeichnet sich damit ab. Eine Woche ohne Gaslieferungen hat dem Balkanland eine eindrückliche Lektion über seine nationale Energiesicherheit erteilt und die politischen Auseinandersetzungen zur nationalen Energiestrategie im Vorfeld des Wahlkampfs zu den Parlamentswahlen im Juni angeheizt.

„Ich will nicht, dass unsere Kinder von einer russischen Pipeline abhängen“, sagt Martin Dimitrov, vor kurzem neugewählter Parteiführer der rechts-konservativen Union Demokratischer Kräfte (SDS). Er und seine Kollegen von der parlamentarischen Opposition werfen der regierenden Koalition aus Sozialisten, Zaristen und Türken vor, nach dem ukrainisch-russischen Gasstreit im Januar 2006 Investitionen in die Kapazitätserweiterung des Gasspeichers Tschiren und Verknüpfungen des nationalen Gasnetzes mit den Binnennetzen Rumäniens und Griechenlands versäumt zu haben. Auf dem Treffen der EU-Energieminister am Montag in Brüssel wollte Wirtschaft- und Energieminister Petar Dimitrov nun die EU um finanzielle Unterstützung in Höhe von über 400 Mio € für diese Investitionsmaßnahmen zur Reduktion der Abhängigkeit Bulgariens von Rußlands Gas bitten.

Martin Dimitrov wirft der Regierung außerdem vor, im Sommer 2006 den bis 2010 gültigen Liefervertrag mit Gazprom ohne Not neuverhandelt zu haben. Den Bulgarien durch nachteilige Konditionen entstandenen finanziellen Schaden beziffert er auf eine Milliarde €. Tatsächlich akzeptierte der seinerzeitige Wirtschafts- und Energieminister Rumen Ovtscharov bei der Vertragsverhandlung mit Gazprom deutlich höhere Lieferpreise. Gegenüber seinen Kritikern verteidigte sich Ovtscharov damals, nur durch die Vereinbarung neuer langfristiger Konditionen habe die Sicherheit der Gaslieferungen garantiert werden können. Die Stichhaltigkeit dieser Argumentation wurde durch die Ereignisse der vergangenen Tage indes in Frage gestellt. Immer wieder kam es in den letzten Monaten zwischen Opposition und Regierung zum Streit um den Gazprom-Vertrag; verlangten oppositionelle Abgeordnete Einsicht in den Vertrag, wurde ihnen diese von der Regierung unter Hinweis auf ein angebliches „Geschäftsgeheimnis“ verwehrt.

Pipelines und Atomkraft

Kontroversen um die nationale Energiestrategie gibt es nicht erst seit der Gas-Blockade dieser Tage. Als Russlands scheidender Staatspräsident Vladimir Putin am 18. Januar 2008 in Sofia weilte, wurden bilaterale Verträge für drei milliardenschwere Energieprojekte unterzeichnet. Sein bulgarischer Amtskollege Georgi Parvanov feierte damals die Vereinbarungen zum Bau des AKW Belene mit russischer Technologie, zur Errichtung der Bulgarien auf dem Grund des Schwarzen Meeres mit Russland verbindenden Gaspipeline Juschen Potok (Südstrom) und der russisch geführten Ölpipeline vom bulgarischen Schwarzmeer-Hafen Burgas ins griechische Alexandroupolis als „Grand-Slam“. Bulgarien werde künftig zum wesentlichen Energiezentrum auf dem Balkan, beschwor er.

Dagegen kritisierten Oppositionspolitiker wie der frühere Ministerpräsident Ivan Kostov von der rechten Partei Demokraten für ein Starkes Bulgarien (DSB) die ihrer Ansicht nach fahrlässige Ausrichtung der nationalen Energiewirtschaft auf Russland. Bulgarien, so warnten sie, drohe zu „Russlands Trojanischem Pferd in der EU“ zu werden. Erst im Dezember hat RWE-Vorstandschef Jürgen Großmann nach heftigen Kontroversen im Aufsichtsrat des Unternehmens die RWE-Beteiligung an dem AKW Belene durch Übernahme eines 49%-igen Anteils durchgesetzt. Umweltschutzorganisationen wie Greenpeace hatten zuvor gegen das Engagement von RWE massiv protestiert, da sie die Errichtung eines Atomkraftwerks in dem erdbebengefährdeten Gebiet an der Donau für unverantwortlich halten.

Für die kommenden Jahre sind in Bulgarien aber keineswegs nur russisch dominierte Energieprojekte geplant. Im Rahmen ihrer Strategie zur Diversifizierung der Energiequellen unterstützt die EU die geplante Gasleitung Nabucco, die ab 2013 über 3300 Kilometer kaspisches Gas über die Türkei und Bulgarien nach Österreich liefern soll. Amerikanische Investoren verfolgen das AMBO -Projekt einer Öl-Pipeline von Burgas über Mazedonien zum albanischen Mittelmeerhafen Vlore.

In den letzten Monaten haben nicht nur Proteste von Umweltschützern, sondern auch die Verteuerung der Rohstoffpreise sowie der Ausbruch der internationalen Finanzkrise einige der in Bulgarien geplanten energiewirtschaftlichen Großprojekte in Frage gestellt. Würden sie alle tatsächlich dennoch wie geplant realisiert, könnte sich Bulgarien tatsächlich zu einem wichtigen Verteilzentrum für Energie in Südosteuropa entwickeln.

Vor der durch die Europäische Union im Rahmen der EU-Beitrittsverhandlungen geforderten Abschaltung der als unsicher geltenden Reaktorblöcke 1 – 4 des AKW Koslodujs schöpfte Bulgarien einen Großteil seines nationalen Selbstbewusstseins aus seiner unangefochten Position als führender Stromexporteur auf dem Balkan. Gegen die als „nationale Schmach“ empfundene Abschaltung der Reaktoren protestieren bulgarische Politiker und Medien in unregelmäßigen Abständen. Zuletzt war es Staatspräsident Georgi Parvanov, der am ersten Tag der Gasblockade die Reaktivierung zumindest des Reaktors 3 forderte: „Meine Nachforschungen haben ergeben, dass dies innerhalb eines Monats geschehen kann“, sagte er, stieß damit in Brüssel aber auf ablehnende Resonanz. Mit der Ankündigung der eigenmächtigen Wiederinbetriebnahme ihres aus denselben Gründen abgeschalteten Atomkraftwerks hat die Slowakei nun einen Präzedenzfall geschaffen, dem Bulgarien nachstreben dürfte.

Bulgarien hat die mit Abstand niedrigste Energieeffizienz aller Länder der Europäischen Union und verfügt gleichzeitig über günstige klimatische Voraussetzung zur Nutzung Erneuerbarer Energien wie Windkraft und Sonnenenergie. Für die verantwortlichen Energiepolitiker des Landes bestehen so theoretisch viele Handlungsmöglichkeiten zur Diversifizierung und Verbesserung ihrer Energiebilanz. An Maßnahmen zur Energieeinsparung und zur Förderung grüner Energieprojekte zeigen sie sich aber deutlich weniger interessiert als an Großprojekten konventioneller Energieträger. „Wir können unsere Energiebedarf nicht sichern, indem wir das ganze Land mit Windrädern überziehen“, gab Minister Petar Dimitrov im letzten Jahr auf einer Energiekonferenz seiner Überzeugung unmissverständlich Ausdruck.