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Bundestagsgutachten stützt Kritik an geplanter Änderung des Infektionsschutzgesetzes

Parlamentsexperten verweisen auf einschlägige Gerichtsentscheide. Einschränkung von Grundrechten kann nicht nur mit Inzidenzwert begründet werden

Ein neues Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags stärkt Kritikern eines Kabinettsentwurfs zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes den Rücken. Das siebenseitige Papier, das Telepolis exklusiv vorliegt und das diesem Artikel zum Download anhängt, verweist auf mehrere Gerichtsentscheide, die teils erhebliche Zweifel an der alleinigen Begründung von Grundrechtseinschränkungen durch einen Inzidenzwert äußern, auch wenn damit die Virusverbreitung gehemmt werden soll.

"In der Rechtsprechung wurde das alleinige Abstellen auf Inzidenzwerte als Voraussetzung von Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie bereits öfter kritisiert", heißt es in dem Gutachten, das unmittelbar vor der geplanten Novelle des Infektionsschutzgesetzes verfasst worden war. Gerichte hätten vor allem Zweifel an der Verhältnismäßigkeit von Schutzmaßnahmen in größeren Gebieten wie Kreisen geäußert, sofern dies allein mit dem Inzidenzwert in diesem Gesamtgebiet begründet werde.

Entsprechende Beschlüsse haben Gerichte in München, Münster und Lüneburg [1] gefasst [2]. In der Fachliteratur äußerte unter anderem der Würzburger Jurist Henrik Eibenstein Kritik am Inzidenzwert als alleinigem Maßstab für eine Beschneidung von Grundrechten im Zuge der Corona-Maßnahmen (COVuR 2020, 688).

Ungeachtet dieser Einwände hatte das Bundeskabinett am Dienstag den Entwurf für eine erneute Änderung des Infektionsschutzgesetzes vorgelegt [3]. Vorgesehen sind darin unter anderem Ausgangsbeschränkungen zwischen 21 Uhr und fünf Uhr morgens, wenn binnen drei aufeinanderfolgender Tage 100 Neuinfektionen mit dem neuartigen Corona-Virus Sars-CoV-2 oder seiner Varianten pro 100.000 Einwohner verzeichnet werden. Ab einem Inzidenzwert von 200 Neuinfektionen sollen auch Schulen wieder geschlossen werden.

Diese und weitere Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie sollen laut der Gesetzesnovelle in ganzen Landkreisen gelten. Damit nimmt die Bundesregierung trotz bekannter juristischer Einwände in Kauf, dass auch die Grundrechte von Bürgerinnen und Bürgern beschnitten werden, an deren Wohnort die Infektionszahlen unter einer kritischen Grenze liegen.

Unbehagen in Regierungsfraktionen, Kritik aus der Opposition

Selbst in den Regierungsfraktionen sorgte dies am Dienstag offenbar für Unbehagen. "Im weiteren Verfahren werden wir noch mal intensiv prüfen, dass neben dem Inzidenzwert weitere Kriterien herangezogen werden", sagte SPD-Fraktionsvize Dirk Wiese. Auch aus der oppositionellen FDP-Fraktion wurde Kritik laut. "Das Gesetz soll an die nackte Inzidenzzahl als Tatbestand geknüpft sein. Die aber ist unzuverlässig und bildet die Lage vor Ort nicht ausreichend klar ab", sagte deren Parlamentarischer Geschäftsführer Marco Buschmann [4] der Tageszeitung Welt.

Der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach verteidigte die geplanten flächendeckenden Ausgangsbeschränkungen gegenüber der Augsburger Allgemeinen [5] hingegen und verwies auf entsprechende Maßnahmen in Portugal, Großbritannien und Frankreich. Dort hätten Ausgangsbeschränkungen "eine wichtige Rolle bei der Eindämmung der Infektionen gespielt".

In seinem Gutachten hatte der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags unter anderem auf einen Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs [6] verwiesen. Dort hatten die Richter im Hinblick auf die Verhältnismäßigkeit ausgeschlossen, die Überschreitung des Schwellenwerts auf der jeweiligen Kreisebene als alleiniges Kriterium für die Verhängung eines Beherbergungsverbots heranzuziehen. Dafür sei eine weitere behördliche Begründung notwendig.

In einer anderen Entscheidung kritisierte dasselbe Gericht, dass dem In- bzw. Außerkrafttreten bestimmter Maßnahmen "keine erneute konkrete Gefährdungsbeurteilung des Verordnungsgebers zugrunde liege, sondern nur eine abstrakte Gefährdungsbeurteilung", schreiben die Bundestagsjuristen. Zudem seien Herleitung oder Begründung der Grenzwerte nicht nachvollziehbar.

Auch das Oberverwaltungsgericht Lüneburg [7] hatte neben dem Inzidenzwert die "Einbeziehung aller anderen für das Infektionsgeschehen relevanten Umstände" gefordert. Die Lüneburger Richter hatten zugleich die Validität der Inzidenzwerte hinterfragt. Eine in Bund-Länder-Verhandlungen festgelegte "politische Zahl" sei rechtlich wohl nicht haltbar.

"Nur eine Anknüpfung an tatsächliche Gegebenheiten sei geeignet, die durch die Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie hervorgerufenen erheblichen Grundrechtseinschränkungen zu rechtfertigen", gibt der Wissenschaftliche Dienst den Beschluss wieder.

Einfluss von Bundestag und Bundesrat unklar

Während damit die Argumentationsgrundlage der geplanten erneuten Änderung des Infektionsschutzgesetzes infrage gestellt wird, sorgen Pläne des Bundes, die Corona-Maßnahmen in untergeordneten Verwaltungsgliederungen per Verordnung durchzusetzen, für weitere Debatten.

Zwar gesteht der Änderungsentwurf der Regierung einen sogenannten Parlamentsvorbehalt ein, also die notwendige Zustimmung von Bundestag und Bundesrat. FDP-Fraktionsgeschäftsführer Buschmann aber hält diese Regelung für zu vage und die zu erwartenden Entscheidungsfristen für zu kurz: "So wird vermutlich in der Praxis jedes Mal die Zustimmung des Parlaments fingiert sein, wenn eine solche Verordnung kurz nach einer regulären Sitzungswoche erlassen wird, ohne dass parlamentarische Beratungen zu der Rechtsverordnung stattgefunden haben."

Würde der Regierungsentwurf umgesetzt, "dann wäre so, als ob im Landkreis Ischgl eine Ski-Piste mit Après-Ski-Festhallen neben einem Konzertsaal mit R-Wert 0,3 steht, die Regierung das alles über einen statistischen Kamm schert und Konzerte ebenso wie das Skifahren verbietet", sagte der Linken-Bundestagsabgeordnete Diether Dehm, der das Gutachten in Auftrag gegeben hatte, gegenüber Telepolis.

Es zeige den Widersinn der Regierungspolitik, wenn nach der Änderung des Infektionsschutzgesetzes massive Einschränkungen wie Ausgangssperren in ganzen Landkreisen gelten sollen, meinte Dehm: "Damit würde Menschen Freiheiten genommen, aber das zugespitzte Infektionsgeschehen geht munter weiter, zudem ignoriert die Bundesregierung verfassungsrechtliche Bedenken."

Ohnehin sieht der linke Kulturpolitiker Inzidenz- oder R-Werte "immer in Relation zu den mutwillig krankgekürzten Intensivstationen und Gesundheitsämtern, die ja längere Infektionsketten nachvollziehen sollen". Würden Gesundheitsämter und Intensivstationen so wie vor Einsparungen funktionieren, "wären die entsprechenden Werte ganz andere", ist sich Dehm sicher.

Zum Inzidenzwert als Grundlage für Maßnahmen zur Abwehr der Corona-Pandemie. Wissenschaftliche Dienste. Deutscher Bundestag. Sachstand [8]

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https://www.heise.de/-6014990

Links in diesem Artikel:
[1] https://dejure.org/dienste/vernetzung/rechtsprechung?Gericht=OVG%20Niedersachsen&Datum=15.10.2020&Aktenzeichen=13%20MN%20371/20
[2] https://dejure.org/dienste/vernetzung/rechtsprechung?Gericht=OVG%20Niedersachsen&Datum=29.10.2020&Aktenzeichen=13%20MN%20393/20
[3] https://www.heise.de/tp/features/Die-Bundesnotbremse-Langsam-mit-grossen-rechtlichen-Auswirkungen-6014945.html
[4] https://www.welt.de/politik/deutschland/article230236867/Lockdown-Regierung-beschliesst-verbindliche-Notbremse-fuer-ganz-Deutschland.html
[5] https://www.augsburger-allgemeine.de/politik/Bundes-Notbremse-soll-Ausgangsbeschraenkungen-bringen-id59483121.html
[6] https://dejure.org/dienste/vernetzung/rechtsprechung?Gericht=VGH%20Bayern&Datum=28.07.2020&Aktenzeichen=20%20NE%2020.1609
[7] http://www.rechtsprechung.niedersachsen.de/jportal/portal/page/bsndprod.psml?doc.id=MWRE210000208&st=null&showdoccase=1
[8] https://www.heise.de/downloads/18/3/0/8/7/8/7/8/WD_3-046-21.pdf