Bundestagswahl 2025: Die Illusion der Mitbestimmung

Björn Hendrig
Wahlzettel und Edding mit angekreuztem Kreis als Aufdruck

Die Bundestagswahl 2025 steht vor der Tür. Wieder versprechen Politiker echte Mitbestimmung. Doch wie viel Einfluss haben Bürger mit ihrem Kreuz wirklich?

Jetzt treten wieder die einschlägigen Herrschaften mit ihren Parteien an, um die nächsten vier Jahre dem Volk vorzuschreiben, was es zu tun und zu lassen hat. Immerhin darf das Volk diese Figuren und ihre Organisationen wählen. Doch wehe, wenn es das nicht tut.

Also predigen Politiker, Medien und Experten aus dem Geistesleben: Geht wählen! Leider entpuppen sich die einschlägigen Argumente dafür als ziemlich haltlos. Eine kleine Auswahl am Beispiel der Liste der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg und eine Zugabe von Alina Stiegler für die Tagesschau:

"Weil es mein Recht und Privileg ist!"

Wenn man etwas darf, ist das Grund genug, es auch zu tun? Unsinn, natürlich nicht. Da muss man schon einen Vorteil für sich erkennen. Das ändert auch nicht der mit einer unverhohlenen Drohung verbundene Verweis auf andere Staaten, in denen man nicht wählen darf – nach dem Motto: Wir könnten auch anders… Damit wird deutlich: Hier gewährt eine Gewalt ihren Untertanen, sich die Gewalthaber der kommenden Jahre aussuchen zu dürfen.

Diese Erlaubnis sollen die Bürger als Privileg empfinden. Denn denkbar ist auch, auf die Wahl zu verzichten und einfach die Gewalt sich unabhängig von einer allgemeinen Zustimmung bilden zu lassen. Eine schöne Auskunft darüber, wie das Verhältnis zwischen Herrschern und Beherrschten beschaffen ist.

Mit ihrem Wahlkreuz unterschreiben die Bürger, dass die Macht über sie auch in den nächsten vier Jahren in Ordnung geht. Ganz ohne Androhung von Gewalt, sondern aus freien Stücken.

"Weil jede Stimme zählt!"

Rein mathematisch stimmt der Satz. Und bei der Auszählung geht hierzulande normalerweise alles mit rechten Dingen zu. Bei rund 59 Millionen Wahlberechtigten könnten aber Zweifel aufkommen, was ein Wahlkreuz bewirkt. Denn weder wird es den Ausschlag geben über die Machtverteilung noch wird es darüber bestimmen, was die neuen Machthaber mit ihrer Macht anstellen.

"Weil andere entscheiden, wenn ich nicht wähle!"

Wenn Pest und Cholera zur Wahl stehen, und sich die einen für Pest, die anderen für Cholera entscheiden – welcher Schaden entsteht für den, der keine der beiden wählt? Gut, er kann sich nachher nicht darüber beschweren, dass Pest oder Cholera ihre Wahlversprechen nicht eingehalten haben und er nun schwer enttäuscht ist.

Aber ansonsten passiert mit ihm nur das, was auch mit den Wählern geschieht: Er bekommt eine Regierung verpasst, die garantiert frei von Wähleraufträgen alles unternimmt, um für noch mehr Macht und Reichtum in wenigen Händen zu sorgen.

"Weil Wählen mich vor Extremismus schützt!"

Logisch, zur Bundestagswahl treten auch nur Parteien an, die sich zur Verfassung bekennen – also an diesem Staat grundsätzlich nichts ändern wollen. "Wenn Wahlen etwas ändern würden, wären sie längst verboten", soll der Schriftsteller Kurt Tucholsky Anfang der 1930er-Jahre einmal gesagt haben. Ob er oder doch jemand anderes das geäußert hat: Es kandidieren nur Herrschaften, die zu 100 Prozent hinter dieser Sorte Staat stehen.

Ähnlichkeiten mit einem einstigen Staat in Ostdeutschland, wo auch 100 Prozent Zustimmung zum System gefordert waren, sind nicht zufällig. Sondern sie verdanken sich dem Bemühen von Herrschenden, prinzipielle Kritiker zu unterdrücken und sie vom Zugang zur Macht auszuschließen.

"Weil Nichtwählen aus Protest nicht funktioniert!"

Stimmt: Wer nicht wählt, kann damit weder inhaltlich etwas ausdrücken noch kann er seinen Protest adressieren an eine oder mehrere gemeinte Politiker und Parteien.

Nur blöd, dass das für den Wähler genauso ausschaut. Mit seinem schlichten Wahlkreuz kann er der bevorzugten Herrschaftsclique nicht mitteilen, was er von ihr genau erwartet. Er kann auch nicht mit seiner Wahl für eine Seite einer ganz bestimmten anderen Seite sagen, dass er ihr einen Denkzettel verpasst – also zum Beispiel eigentlich gern wieder SPD gewählt hätte, aber dieses Mal doch die CDU sein Kreuz bekommt.

Eine Wahl ist für Protest tatsächlich nicht geeignet – und dafür auch nicht vorgesehen. Wer wirkungsvoll protestieren will, muss sich organisieren mit Gleichgesinnten und mit ihnen den nötigen Druck gegen die Adressaten des Protests aufbauen.

"Weil ich aktiv die Politik beeinflussen kann!"

Einmal abgesehen davon, dass man schlecht passiv beeinflussen kann: Wie soll ein anonymes Wahlkreuz Einfluss nehmen auf politische Entscheidungen? Die in den Bundestag gewählten Abgeordneten sind nur ihrem Gewissen verpflichtet – und nicht dem Willen ihrer Wähler.

Die Politiker entscheiden frei von Aufträgen der Wähler. Und bekanntlich fallen Wahlversprechen regelmäßig Koalitionsverhandlungen und Sachzwängen zum Opfer. Der Einfluss der Wähler kürzt sich darauf zusammen, als Stimmvieh für das Zustandekommen von regierungsfähigen Mehrheitsverhältnissen zu fungieren.

"Weil Wählen Bürgerpflicht ist!"

Das ist doch mal eine Ansage. Der Überzeugungskraft der Rede von "Recht" und "Privileg" beim ersten Argument wird hier nicht mehr getraut. Jetzt ist daraus eine Pflicht geworden:

Eine Demokratie kann nur dauerhaft bestehen, wenn sich die Bürgerinnen und Bürger an ihr beteiligen. Außerdem ist unsere Regierung dadurch legitimiert, dass möglichst viele sie gewählt haben.

Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg

Unabhängig von eigensüchtigen Überlegungen, was die Demokratie dem Wähler Schönes beschert, hat er gefälligst diese Staatsform mit seiner Teilnahme an der Wahl zu unterstützen! So sorgt er dafür, dass er regiert werden kann. Und zwar unwidersprechlich – denn dafür haben er und so viele andere gestimmt!

"Weil ich beeinflusse, wer Bundeskanzler:in wird!"

Scholz, Merz, Habeck, Weidel: Wen hätten wir denn gern? Wer ist sympathischer, netter, aber auch durchsetzungsstärker, dabei volksnäher, nahbarer, natürlich kompetenter, fähiger und vor allem mutiger gegen die vielen Bedrohungen von außen, seien es Russen, Chinesen oder Geflüchtete? So sehen die Beurteilungsmaßstäbe aus, nach denen der Wähler sich seine(n) Bundeskanzler:in aussuchen soll.

Seine Beeinflussung kürzt sich zusammen auf das Kreuz bei der Partei, die den gewünschten Kandidaten in ihren Reihen hat. Alles Weitere regeln die gewählten Herrschaften dann unter sich aus. Einschließlich der neuen Vorschriften, was das Volk in Zukunft zu leisten hat, damit Deutschland wieder vorankommt. Was nicht gleichbedeutend damit ist, dass die Mehrheit der Wähler vorankommt.

"Nichtwähler gefährden unsere Demokratie"

Fast 30 Prozent bei der Bundestagswahl 2009, nur etwas weniger vier Jahre später, und noch 23,4 Prozent beim letzten Urnengang 2021: Die Nichtwähler bilden eine stabile große "Partei".

Das Parlament verliere so an gesellschaftlicher Legitimation, gibt Alina Stiegler in ihrem Lehr-Video zum Thema Wahl zu bedenken. Dass Abgeordnete nicht die Mehrheit aller deutschen Bürger hinter sich wissen, ist allerdings bisher kein spürbares Problem. Sie entscheiden frei und munter über die Zumutungen fürs Volk und bekommen in puncto Legitimation keinen Widerspruch zu hören.

Regiert muss werden, und dafür bietet das Wahlrecht die Gewähr. Apropos Wahlrecht: Es gibt keine Untergrenze für die Wahlbeteiligung. Es können mithin noch viel mehr Menschen nicht wählen gehen, dennoch ist die Wahl gültig. So ist sichergestellt: Nichtwähler gefährden nicht die Demokratie.

"Die wählen, bestimmen die Themen"

Bei der Bundestagswahl 2021 gingen mehr ältere Menschen zur Wahl als jüngere. Das war bei der Wahl 2013, auf die sich Alina Stiegler in ihrem Video von 2017 bezieht, noch deutlicher ausgeprägt. Daraus folgert sie: Die Älteren "bestimmen die Themen", weil mehr unter den Wählern vertreten.

Dass sich deshalb die antretenden Parteien besonders als die richtige Adresse für die Alten hübsch machen, nennt sich Wahlkampf. Was sie dann in der Regierung aber bezüglich dieser Wählergruppe beschließen, hat damit nichts zu tun. Und gefragt werden die Alten natürlich nicht.

Der Wähler hat nach der Wahl nichts mehr zu melden. Dieses Schicksal teilt er mit dem Nichtwähler. Wählen gehen, weil man eventuell "die Themen bestimmt"? Ein bescheidener Grund, buchstäblich und auch im übertragenen Sinn. Und untertänig: Denn ein Anspruch auf Mitentscheidung ist damit ausdrücklich nicht verbunden – und hochoffiziell ausgeschlossen.

"Wer nicht wählt, macht damit die stärker, die er vielleicht auf keinen Fall wählen würde"

Dafür macht Alina Stiegler eine Rechnung auf: Wenn 100 Menschen wählen gingen, und vier davon eine – dem vorgestellten Wähler nicht genehme – Partei wählten, käme diese Partei auf einen Anteil von vier Prozent. Wählten indes nur 50, erzielte die unerwünschte Partei mit ihren vier Stimmen einen Anteil von acht Prozent!

Also wenn ein Wähler beispielsweise auf keinen Fall der AfD seine Stimme geben würde, müsste er auf jeden Fall irgendwelche anderen Parteien wählen? Obwohl er auch die anderen Parteien nicht wählen wollte? So führt die Wahlarithmetik der entscheidenden Mehrheiten in der Demokratie ins Absurde.

Aber eigentlich will diese Logik nur die schlichte Botschaft loswerden: Wählen gehen! Für diese politmoralische Anmache ist noch die seltsamste Rechnung gut.

"Auf der ganzen Welt kämpfen viele Menschen für freie Wahlen"

Ein echt demokratisches Argument: So viele können sich nicht irren, die Mehrheit hat recht! Es soll Zeiten gegeben haben in Deutschland, da die überwiegende Mehrheit auch für etwas gekämpft hat – für "Raum im Osten". Da würde heute natürlich niemand der schieren Masse, die damals nationalsozialistisch dachte und handelte, recht geben.

Dass die Erde eine Scheibe ist, behaupteten einst auch ziemlich viele… Mehrheit ist kein Argument – für Wahlfans offenbar schon. Also: Stelle dir vor, lieber Bürger: Was dir der Staat hier erlaubt, dürfen die in vielen anderen Staaten nicht! Warum das so ist und was man davon eigentlich hat – egal. Hauptsache man tut der herrschenden Gewalt den Gefallen und versichert ihr mit dem Wahlkreuz seine weitere Gefolgschaft.

"In der Wahl sind wir alle gleich"

Stimmt, jeder Bürger hat nur ein Wahlkreuz. Gleich, ob er Unternehmer oder Angestellter ist, ob Vermieter oder Mieter, ob Gläubiger oder Schuldner, ob Millionär, Gutverdiener, Niedriglohnempfänger, Arbeitsloser oder die vielen anderen mehr, die es in der Konkurrenz um Geld gegeneinander treibt. Mit der Folge der ziemlich gegensätzlichen Interessen, die sie in der Gesellschaft verfolgen – mit ebenso ziemlich unterschiedlichen Mitteln.

Für die Wahl soll sprechen, dass diese – vornehm ausgedrückt – Unterschiede einmal alle paar Jahre nicht gelten. Da darf doch tatsächlich ein mittelloser Loser genau so ein Wahlkreuz abgeben wie ein stinkreicher Manager! Im Moment der Wahl darf sich jeder, auch wenn er nichts zu bestellen hat, wichtig fühlen. Danach gehen beide nach Hause – und der Loser bleibt Loser, der Manager Manager.

In der Wahl sind sie für einen Moment gleich, und im nächsten Moment wieder auf ihren sehr verschiedenen Kampf ums Geld verwiesen. Wer sich auf diesen Augenblick etwas einbilden will, der muss tatsächlich zur Wahl gehen.

Wenn die Begründungen fürs Wählen nichts taugen – was soll dann der Zirkus?

Für die Wähler springt bei der Wahl nichts heraus. Sie haben keinen Einfluss auf die Regierungsbildung, geschweige denn auf die Entscheidungen der neuen Herrschaft. Das ist auch genauso vorgesehen. Dennoch legen sich viele ins Zeug, das Volk von der Teilnahme an der Wahl zu überzeugen. Warum bloß?

Die Sorge um zu viele Nichtwähler gibt einen Hinweis: Offenbar legen die Politiker sehr viel Wert darauf, dass die Bürger in der überwiegenden Mehrheit mit ihrem Wahlkreuz ihnen den Auftrag erteilen, die Staatsgeschäfte zu betreiben. Gewissermaßen ein regelmäßiger Test darauf, ob das Volk das eingerichtete System – Demokratie und Kapitalismus – weiter akzeptiert.

Neu im Angebot: alternativer Nationalismus

In dieser Bundestagswahl 2025 kommt etwas Neues hinzu – die Konkurrenz von AfD und BSW bietet Alternativen der Herrschaftsausübung. Sie sehen Deutschland im Hintertreffen, weil die Nation sich zu sehr von den USA ihre Beziehungen zu den anderen Staaten der Welt diktieren lässt. Das Land werde in einen unsinnigen Krieg mit Russland gezogen, mit negativen Folgen für die Wirtschaft und den Staatshaushalt.

Damit steht dieses Mal mehr zur Wahl: Weiter als Juniorpartner der USA oder als selbstständigere Nation, mit einer anderen Europäischen Union (EU), die besser als Basis für Macht und Reichtum Deutschlands funktioniert als bisher?

Das verschafft diesen beiden Parteien die herzliche Abneigung und Bekämpfung durch das politische Establishment. Das Volk möge demnach dieses Mal bloß nicht falsch wählen, sich diesem Extremismus bitte schön verschließen.

Ein Verbotsverfahren gegen die AfD wird allerdings auf nach der Wahl verschoben. Womöglich würde das sonst der AfD sogar noch mehr Zulauf bringen, lautet die offen ausgesprochene Befürchtung mancher Politiker.

Bessere Lebensverhältnisse? Nicht einmal mehr ein Wahlversprechen

Doch die für die nächste Regierung in Frage kommenden Parteien sind sich einig: Deutschland muss aus der Krise raus, wieder ökonomisch Weltmacht sein und auch militärisch oben mitspielen können. Eine Verbesserung der Lebensverhältnisse für das gemeine Wahlvolk kommt dabei nicht vor, wird auch erst gar nicht versprochen. Wie auch: Noch mehr Ausbeutung und noch mehr Geld für Rüstung verheißen das genaue Gegenteil.

Einem Thema widmen sich CDU, SPD, FDP, Grüne, AfD und BSW dafür umso mehr – der Migration. Sie überbieten sich darin, wie man die Hungerleider und Kriegsflüchtlinge dieser Welt noch besser aus Deutschland heraushalten kann. Dieses Wahlversprechen dürften die Wahlsieger ausnahmsweise wirklich einhalten.

So geht Bundestagswahl 2025: Die Herrschafts-Kandidaten wetteifern darum, wem die Bürger am ehesten zutrauen, das Nötige gegen den Abstieg Deutschlands zu tun. Dieses Mal sind allerdings alternative Erfolgsvorschläge im Angebot. Und aus einer Kriegsbeteiligung kann ein Krieg werden.

Mit ihrem Wahlkreuz lassen die Bürger die Politiker machen – und die Politiker machen dann das mit den Bürgern, was sie wollen. Dafür taugt auch die kommende Bundestagswahl wieder ausgezeichnet.