Chile: Kommen die Monster zurück?
- Chile: Kommen die Monster zurück?
- Das sind die demokratischen Neuerungen der neuen Verfassung in Chile
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Lateinamerikanisches Land stimmt über Grundgesetz ab – und über Neoliberalismus. Polarisierung vor Verfassungsplebiszit. Wird das Erbe der Pinochet-Diktatur überwunden?
Am 4. September werden die Chilenen über eine neue Verfassung entscheiden. Sollte die Mehrheit zustimmen, würde damit die alte, von der Pinochet-Diktatur im Jahr 1980 auferlegte Verfassung abgelöst.
Bereits vor zwei Jahren stimmte eine überwältigende Mehrheit von 80 Prozent für eine Änderung der Magna Carta, des Eckpfeilers des Neoliberalismus, der von dem Wirtschaftswissenschaftler Milton Friedman entwickelt und durch die berühmte Shock Doctrine umgesetzt wurde.
Chile war während der Diktatur das Versuchslabor von Friedmans "Chicago-Boys", die das Land in einen neoliberalen "feuchten Traum" verwandelten, in dem die Privatwirtschaft alle Rechte, aber kaum Pflichten hatte, Ressourcen nach Belieben ausgebeutet werden durften und wo sogar das Wasser privatisiert wurde.
Zurzeit ist die Ratifizierung des von einer verfassungsgebenden Versammlung ausgearbeiteten neuen Verfassungstextes aber fraglich, und das Land könnte erneut in eine politische Krise geraten.
Der italienische Philosoph Antonio Gramsci schrieb in seinen Gefängnisheften einmal: "Die alte Welt stirbt, die neue Welt ist noch nicht geboren. Und in diesem Halbdunkel erscheinen Monster".1 Woraus bestehen die Monster, die Chile heute Angst machen?
Die Revolte von 2019
Um zu verstehen, was derzeit in Chile passiert, müssen wir in den Oktober 2019 zurückgehen. Damals löste eine geringfügige Preiserhöhung der öffentlichen Verkehrsmittel Proteste in einer Schwere und Einmütigkeit aus, wie sie in der Geschichte des Landes bis dahin noch nie vorgekommen waren. Die Chilenen, die es gewohnt waren, sich einfach über das Wirtschaftswachstum zu freuen, rebellierten plötzlich gegen die krassen sozialen Ungleichheiten, die sich hinter diesen Zahlen verbergen.
So wurde Chile von einer "Oase der Stabilität in einem aufgewühlten Lateinamerika", zum ersten Land, das sich gegen die damalige Welle rechter Regierungen in Lateinamerika auflehnte.
Trotz der Unterdrückungsversuche durch die Regierung von Sebastián Piñera und vieler Menschenrechtsverletzungen durch die Polizei gelang es den Demonstranten, Chiles Parlament, den "Congreso Nacional" dazu zu bringen, eine die Protestbewegung zufriedenstellende institutionelle Lösung anzubieten: Die Einberufung eines Plebiszits zur Änderung einer skandalösen Verfassung, die als einzige Verfassung der Welt sogar das Wassersystem privatisiert.
"Wenn Chile die Wiege des Neoliberalismus war, wird es auch sein Grab sein", versprach der neue progressive Präsident Gabriel Boric im Frühjahr.
Das lange verfassungsrechtliche Problem
Anders als die Spanier 1978 oder die Brasilianer 1988 hat Chile nach dem Ende der Diktatur keine neue Verfassung ausgearbeitet. Trotz der erfolgreichen Kampagne zur Entmachtung des blutigen Diktators Augusto Pinochet (siehe Pablo Larraíns Film "No", der 2013 für einen Oscar nominiert wurde), handelte die Diktatur die Beibehaltung der während ihres Regimes installierten Verfassung aus.
Diese Pinochet-Verfassung stellte das Privateigentum über die sozialen Rechte und begünstigte die private Erbringung von Basisdienstleistungen. Gleichzeitig wurden diese Themen durch ein System von hohen Quoren für eine eventuelle Änderung der politischen Debatte de facto entzogen.
Obwohl es durch Verfassungsreformen gelang, einige autoritäre Enklaven zu beseitigen, blieb das grundsätzliche Vetorecht intakt, das den alten Eliten der äußersten Rechten zugutekommt.