China: Partner, Konkurrent oder Rivale?

Auszug aus dem Friedensgutachten 2021: Welche Rolle spielt die EU zwischen den Großmächten USA und China

Bei diesem Beitrag handelt es sich um einen Auszug aus dem Kernkapitel Friedensgutachtens 2021, herausgegeben vom Bonn International Center for Conversion, der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, dem Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg und dem Institut für Entwicklung und Frieden.

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Der Umgang mit China erfordert von der EU eine grundsätzliche Positionierung, stellt sich aber je nach Einzelthema sehr unterschiedlich dar, was Kooperations- und Konfliktpotenziale angeht. Diese Komplexität sollte berücksichtigt werden und in eine China-Politik münden, die europäische Autonomie und Flexibilität bewahrt, ohne fundamentale Werte zu opfern. Hierfür ergeben sich auf der Ebene friedenspolitisch relevanter Einzelthemen jeweils unterschiedliche Ziele und Handlungsspielräume.

Europa zwischen Großmächten

Der Aufstieg Chinas ist ein Megatrend, der das weltweite Machtgefüge stärker beeinflusst als irgendein anderes Phänomen seit dem Ende des Kalten Krieges. Während die Etablierung Chinas als neue Supermacht lange als wahrscheinliche, aber dennoch abstrakte Möglichkeit galt, scheint diese Realität inzwischen in greifbare Nähe gerückt: Gemäß einer Umfrage des European Council on Foreign Relations (ECFR) im Januar 2021 erwartet inzwischen eine Mehrheit der europäischen Bürger, dass China bis 2030 die USA als führende Weltmacht ablösen wird .1

Dieser Prozess der Wachablösung oder zumindest Etablierung auf Augenhöhe ist von zentraler Bedeutung für Fragen der internationalen Friedens- und Sicherheitspolitik, da er zunächst einmal den Konflikt zwischen den beiden Großmächten selbst verschärft. 2020 kam es zu einem rapiden Anstieg der Spannungen, die sich aus fundamentalem strategischem Misstrauen, expansiven sicherheitspolitischen Erwägungen und ideologischen Konflikten speisten. Auf amerikanischer Seite mehren sich Stimmen, die eine "strategische Entkopplung" beider Staaten fordern und aus sicherheitspolitischen Erwägungen dafür plädieren, die bislang florierenden Wirtschaftsbeziehungen einzuschränken.


Das Friedensgutachten 2021 ist erhältlich beim transcript Verlag


In China wiederum wachsen der Glaube an die Überlegenheit des eigenen Systems und der Verdacht, dass der eigene Aufstieg durch solche Maßnahmen hintertrieben werden soll. Die neu gewählte US-Regierung könnte eine weitere Eskalation vermeiden und punktuell auf Entspannung setzen, das tiefgreifende beiderseitige Misstrauen wird jedoch eine Konstante bleiben.

Diese Spannungen erreichen zwar noch nicht das Ausmaß eines neuen "Kalten Krieges", begründen aber einen global strukturbildenden Großmachtkonflikt, in dem auch Europa seine Rolle erst noch finden muss. Sowohl China als auch die USA unter der neuen Biden-Regierung werben inzwischen intensiv um europäische Unterstützung, was zuletzt in den Verhandlungen um ein europäisch-chinesisches Investitionsabkommen deutlich wurde.

Generell lässt sich raten, diese Position bewusst zu nutzen und so lange wie möglich zu bewahren, anstatt sich vorschnell und vollumfänglich auf eine Seite zu schlagen. Dies sollte nicht als Aufruf zu einer Politik der Neutralität oder "Äquidistanz" missverstanden werden. Die Beibehaltung einer robust institutionalisierten transatlantischen Partnerschaft ist im europäischen Interesse und wird auch in Zukunft eine größere Nähe begründen.

Dem Vorhaben der Biden-Regierung, die unter Trump geschädigte gemeinsame Wertebasis wiederherzustellen, sollte ebenfalls mit Sympathie begegnet werden. Auch wenn sich Europa stärker emanzipiert und sich dadurch die internationale Struktur hin zu einem strategischen Dreieck verschiebt, wird dieses asymmetrisch sein.

Europa muss seine Rolle im Großmachtkonflikt finden

Stärkere europäische Autonomie sollte sich jedoch vor allem in der eigenständigen Formulierung chinapolitischer Ziele niederschlagen. Dafür gibt es mehrere Gründe:

  1. Erstens maximiert Flexibilität den eigenen Einfluss in separaten Verhandlungen über konkrete Sachthemen und, damit einhergehend, die europäische Gestaltungsfähigkeit im Allgemeinen.
  2. Zweitens kann sich Europa so für eine Vermittlerrolle zwischen Washington und Peking anbieten, zur Deeskalation von Spannungen beitragen und ihre besonderen Stärken als Zivilmacht ausspielen.
  3. Drittens steht Europa – im Gegensatz zu den USA egal unter welcher Regierung – in China nicht im Verdacht, einen Einhegungskurs zu verfolgen; das daraus erwachsende größere Vertrauen würde sich jedoch schnell verflüchtigen, wenn die EU rückhaltlos auf die US-Linie einschwenkte.
  4. Viertens kann diese Wahrnehmung genutzt werden, um gegenüber China robuste Kritik an strittigen Fragen vor allem in der Menschenrechtspolitik zu äußern, die umso glaubwürdiger ist, wenn sie nicht als Vehikel für machtpolitische Interessen abgetan werden kann.

Ein solcher Kurs bietet daher zahlreiche Vorteile, um den positiven europäischen Einfluss in einer Welt zu bewahren, die zunehmend von Unsicherheit und Spaltung geprägt ist. Er entspricht den Bemühungen der EU wie auch einflussreicher Mitgliedsstaaten, unter dem Schlagwort der "strategischen Autonomie" die Stärkung der eigenen Kapazitäten und Handlungsfähigkeit zu forcieren.

Dieser Kurs stellt jedoch weitaus größere Ansprüche an die Leistungsfähigkeit europäischer Außenpolitik. Vor allem gilt es, im Verhältnis zu China verschiedene Sachthemen trennscharf voneinander abzugrenzen. Solche Prozesse sind angesichts der Komplexität EU-interner Entscheidungsfindungen langwierig, wurden aber inzwischen angestoßen.

Seit 2019 besteht mit dem "EU-China Strategic Outlook" ein gesamteuropäischer Ansatz, der die Vielschichtigkeit der Beziehungen unterstreicht und sie je nach Thema als partnerschaftlich, kompetitiv oder als Rivalität bezeichnet.2 Eine solch differenzierte Sichtweise ist notwendig und angemessen, gerade weil immer mehr internationale Politikfelder, in denen sich jedoch sehr unterschiedliche Gewichtungen von normativen Überzeugungen und Interessen zeigen, von chinesischem Handeln beeinflusst werden.

Eine Aufspaltung der China-Politik in verschiedene Felder sollte daher nicht als Zeichen einer prinzipienlosen Beliebigkeit gesehen werden, sondern vielmehr als Möglichkeit, über separate Kanäle genau kalibrierte Botschaften zu senden. Dies erfordert jedoch auch eine klare Sicht auf chinesische Motivationen und ihre Vereinbarkeit mit europäischen Zielvorstellungen.

China als illiberale oder antiliberale Macht?

Die stetige Entfaltung chinesischer Macht in der Welt begründet seit einigen Jahren ein reges Interesse an den dahinterstehenden Visionen und normativen Vorstellungen. Von zentraler Wichtigkeit ist, inwieweit ein stärkeres China bereit ist, die existierende und nicht zuletzt von Europa mitgetragene liberale Weltordnung zu akzeptieren und in welchem Bereich ein fundamentaler Wandel angestrebt wird.

Generell lässt sich konstatieren, dass – ebenfalls im Gegensatz zum Kalten Krieg – kein allumfassender Widerspruch zwischen liberalen und chinesischen Ordnungsbildern besteht. China verdankt seinen eigenen Aufstieg einer globalisierten, vernetzten und wirtschaftlich offenen Welt.

Auf internationaler Bühne fordert China konsistent, diese Merkmale der internationalen Ordnung zu bewahren, zuletzt in expliziter Abgrenzung zu den protektionistischen Bestrebungen der Trump-Regierung und anderer westlicher Politiker. Insbesondere durch die "Belt-and-Road"-Initiative (BRI), die "Neue Seidenstraße", die der Globalisierung wortwörtlich neue Wege bahnen soll, wird diese Forderung auch praktisch untermauert.

Die Parole von der so entstehenden globalen "Schicksalsgemeinschaft" spiegelt chinesische Vorstellungen einer von Beziehungen und Verknüpfungen geprägten Welt wider, in der dasjenige Land im Mittelpunkt steht, in dem die meisten Linien zusammenlaufen. Die Konstruktion von Transportkorridoren, die auf China ausgerichtet sind, erfüllt daher neben wirtschaftlichen auch politische Ordnungsziele.3

Zusätzlich zur Etablierung eigener, chinesisch geprägter Institutionen wie der Asian Infrastructure Investment Bank (AIIB) zur Finanzierung der BRI betont Peking seinen Führungsanspruch auch verstärkt innerhalb des Systems der Vereinten Nationen (VN). China beteiligt sich an Friedenssicherungs- und Stabilisierungseinsätzen, betont globale Entwicklungsziele und den Kampf gegen Herausforderungen wie Klimawandel und Corona-Pandemie.

Auf diese Weise macht China zunehmend Einfluss geltend und verwirklicht sein eigenes, lange gehegtes Rollenbild als "verantwortungsvolle Macht".4 Auch in diesem Bereich gelang es in den vergangenen Jahren, von den USA geräumte Bereiche zu besetzen und eigenes Personal in zahlreichen VN-Agenturen zu installieren; VN-interne Diskurse werden parallel immer stärker von chinesischen Konzepten und bevorzugten Redewendungen durchdrungen.5

Im Gegensatz zu diesen Bereichen, in denen China überwiegend in existierende Weltordnungsstrukturen hineinwächst und diese auch stärkt, werden andere Elemente des liberalen Modells klar zurückgewiesen. Dies betrifft vor allem die Annahme universell gültiger normativer Prinzipien wie Menschenrechte und politischer Teilhabe sowie die Pflicht zur deren globaler Durchsetzung.

Motiviert durch den Erhalt des eigenen Systems, aber auch von genuinen Überzeugungen, stellt Peking dem Status quo eine zunehmend klare Alternative gegenüber, die vor allem nationalstaatliche Souveränität, Wertneutralität bezüglich politischer Systeme, effektive Staatsgewalt statt individueller Rechte sowie das Primat wirtschaftlicher Entwicklung betont.

So macht sich China im VN-Menschenrechtsrat stark für eine Interpretation des Begriffs der Menschenrechte, welche die ökonomischen Rechte und insbesondere ein "Recht auf Entwicklung" ins Zentrum stellt.6 Legitim ist nach diesen Kriterien vor allem der wirtschaftlich erfolgreiche Entwicklungsstaat, dessen Souveränität von außen nicht angetastet werden darf – was nicht nur dem Schutz von Chinas eigenem Regime dient, sondern auch ähnlich verfassten Staaten in aller Welt.

Diese Agenda erfordert jedoch aus chinesischer Sicht keinen Systemwettbewerb durch die Konversion anderer Staaten, sondern sie lässt sich durch die schleichende Schwächung liberaler Ordnungsvorstellungen und ihres weltweiten normativen Druckpotenzials erreichen.

Während der Aufbau einer neuen, China-zentrischen Weltordnung ein langfristiges Projekt ist, das bislang kaum Unterstützung erfährt, kann Peking für das Ziel einer nicht-liberalen Ordnung auf deutlich größeren Rückhalt in zahlreichen postkolonialen Staaten und Entwicklungsländern bauen, teils aber auch bei illiberalen Regimen in westlichen Ländern. Eine solche Koalition konnte Peking bereits mobilisieren, um von Deutschland und anderen europäischen Staaten vorgebrachte Kritik am eigenen Vorgehen in Xinjiang und Hongkong mit Zuspruch aus dem Globalen Süden zu kontrastieren.7

Im Umgang mit China stellt sich die Herausforderung, in zahlreichen einzelnen (friedens-)politischen Themenbereichen nicht nur die kurzfristige Interessenlage auszuloten, sondern auch zu überlegen, wie diese Interaktionen die Welt, in der wir leben, und die, in der wir in Zukunft leben wollen, prägen. Eine für alle Politikbereiche verbindliche China-Strategie als Leitschnur kann und wird es angesichts dieser Komplexität nicht geben.

Das gleichzeitige Nebeneinander von Partnerschaft, Wettbewerb und Rivalität mit China wird auch in Zukunft widersprüchliche, deshalb aber nicht notwendigerweise falsche Bilder des Landes zeichnen. Dies unterstreicht ein Blick auf fünf Einzelthemen, an der Schnittstelle von China- und Friedensforschung: die Umsetzung der BRI, Territorialkonflikte an Chinas Peripherie, der repressive Umgang mit innerstaatlichen Konflikten, die Teilnahme an internationalen Stabilisierungseinsätzen und die strategische Wirtschafts- und Handelspolitik.

Gemein ist diesen Themen, dass sie nicht nur einzelne Dimensionen der chinesisch-europäischen Beziehungen abbilden und daher als Beispiele für "Partnerschaft" oder "Rivalität" dienen können – vielmehr zeigen sich selbst innerhalb dieser eng umrissenen Felder diese widersprüchlichen Impulse.