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China: Partner, Konkurrent oder Rivale?

Auszug aus dem Friedensgutachten 2021: Welche Rolle spielt die EU zwischen den Großmächten USA und China

Bei diesem Beitrag handelt es sich um einen Auszug aus dem Kernkapitel Friedensgutachtens 2021, herausgegeben vom Bonn International Center for Conversion, der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, dem Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg und dem Institut für Entwicklung und Frieden.

Um die gesamte Studie beim Transcript-Verlag zu bestellen, folgen Sie bitte dem Link unter dem Bild des Titelblatts.


Der Umgang mit China erfordert von der EU eine grundsätzliche Positionierung, stellt sich aber je nach Einzelthema sehr unterschiedlich dar, was Kooperations- und Konfliktpotenziale angeht. Diese Komplexität sollte berücksichtigt werden und in eine China-Politik münden, die europäische Autonomie und Flexibilität bewahrt, ohne fundamentale Werte zu opfern. Hierfür ergeben sich auf der Ebene friedenspolitisch relevanter Einzelthemen jeweils unterschiedliche Ziele und Handlungsspielräume.

Europa zwischen Großmächten

Der Aufstieg Chinas ist ein Megatrend, der das weltweite Machtgefüge stärker beeinflusst als irgendein anderes Phänomen seit dem Ende des Kalten Krieges. Während die Etablierung Chinas als neue Supermacht lange als wahrscheinliche, aber dennoch abstrakte Möglichkeit galt, scheint diese Realität inzwischen in greifbare Nähe gerückt: Gemäß einer Umfrage des European Council on Foreign Relations (ECFR) im Januar 2021 erwartet inzwischen eine Mehrheit der europäischen Bürger, dass China bis 2030 die USA als führende Weltmacht ablösen wird .1 [1]

Dieser Prozess der Wachablösung oder zumindest Etablierung auf Augenhöhe ist von zentraler Bedeutung für Fragen der internationalen Friedens- und Sicherheitspolitik, da er zunächst einmal den Konflikt zwischen den beiden Großmächten selbst verschärft. 2020 kam es zu einem rapiden Anstieg der Spannungen, die sich aus fundamentalem strategischem Misstrauen, expansiven sicherheitspolitischen Erwägungen und ideologischen Konflikten speisten. Auf amerikanischer Seite mehren sich Stimmen, die eine "strategische Entkopplung" beider Staaten fordern und aus sicherheitspolitischen Erwägungen dafür plädieren, die bislang florierenden Wirtschaftsbeziehungen einzuschränken.


Das Friedensgutachten 2021 ist erhältlich beim transcript Verlag [2]


In China wiederum wachsen der Glaube an die Überlegenheit des eigenen Systems und der Verdacht, dass der eigene Aufstieg durch solche Maßnahmen hintertrieben werden soll. Die neu gewählte US-Regierung könnte eine weitere Eskalation vermeiden und punktuell auf Entspannung setzen, das tiefgreifende beiderseitige Misstrauen wird jedoch eine Konstante bleiben.

Diese Spannungen erreichen zwar noch nicht das Ausmaß eines neuen "Kalten Krieges", begründen aber einen global strukturbildenden Großmachtkonflikt, in dem auch Europa seine Rolle erst noch finden muss. Sowohl China als auch die USA unter der neuen Biden-Regierung werben inzwischen intensiv um europäische Unterstützung, was zuletzt in den Verhandlungen um ein europäisch-chinesisches Investitionsabkommen deutlich wurde.

Generell lässt sich raten, diese Position bewusst zu nutzen und so lange wie möglich zu bewahren, anstatt sich vorschnell und vollumfänglich auf eine Seite zu schlagen. Dies sollte nicht als Aufruf zu einer Politik der Neutralität oder "Äquidistanz" missverstanden werden. Die Beibehaltung einer robust institutionalisierten transatlantischen Partnerschaft ist im europäischen Interesse und wird auch in Zukunft eine größere Nähe begründen.

Dem Vorhaben der Biden-Regierung, die unter Trump geschädigte gemeinsame Wertebasis wiederherzustellen, sollte ebenfalls mit Sympathie begegnet werden. Auch wenn sich Europa stärker emanzipiert und sich dadurch die internationale Struktur hin zu einem strategischen Dreieck verschiebt, wird dieses asymmetrisch sein.

Europa muss seine Rolle im Großmachtkonflikt finden

Stärkere europäische Autonomie sollte sich jedoch vor allem in der eigenständigen Formulierung chinapolitischer Ziele niederschlagen. Dafür gibt es mehrere Gründe:

  1. Erstens maximiert Flexibilität den eigenen Einfluss in separaten Verhandlungen über konkrete Sachthemen und, damit einhergehend, die europäische Gestaltungsfähigkeit im Allgemeinen.
  2. Zweitens kann sich Europa so für eine Vermittlerrolle zwischen Washington und Peking anbieten, zur Deeskalation von Spannungen beitragen und ihre besonderen Stärken als Zivilmacht ausspielen.
  3. Drittens steht Europa – im Gegensatz zu den USA egal unter welcher Regierung – in China nicht im Verdacht, einen Einhegungskurs zu verfolgen; das daraus erwachsende größere Vertrauen würde sich jedoch schnell verflüchtigen, wenn die EU rückhaltlos auf die US-Linie einschwenkte.
  4. Viertens kann diese Wahrnehmung genutzt werden, um gegenüber China robuste Kritik an strittigen Fragen vor allem in der Menschenrechtspolitik zu äußern, die umso glaubwürdiger ist, wenn sie nicht als Vehikel für machtpolitische Interessen abgetan werden kann.

Ein solcher Kurs bietet daher zahlreiche Vorteile, um den positiven europäischen Einfluss in einer Welt zu bewahren, die zunehmend von Unsicherheit und Spaltung geprägt ist. Er entspricht den Bemühungen der EU wie auch einflussreicher Mitgliedsstaaten, unter dem Schlagwort der "strategischen Autonomie" die Stärkung der eigenen Kapazitäten und Handlungsfähigkeit zu forcieren.

Dieser Kurs stellt jedoch weitaus größere Ansprüche an die Leistungsfähigkeit europäischer Außenpolitik. Vor allem gilt es, im Verhältnis zu China verschiedene Sachthemen trennscharf voneinander abzugrenzen. Solche Prozesse sind angesichts der Komplexität EU-interner Entscheidungsfindungen langwierig, wurden aber inzwischen angestoßen.

Seit 2019 besteht mit dem "EU-China Strategic Outlook" ein gesamteuropäischer Ansatz, der die Vielschichtigkeit der Beziehungen unterstreicht und sie je nach Thema als partnerschaftlich, kompetitiv oder als Rivalität bezeichnet.2 [3] Eine solch differenzierte Sichtweise ist notwendig und angemessen, gerade weil immer mehr internationale Politikfelder, in denen sich jedoch sehr unterschiedliche Gewichtungen von normativen Überzeugungen und Interessen zeigen, von chinesischem Handeln beeinflusst werden.

Eine Aufspaltung der China-Politik in verschiedene Felder sollte daher nicht als Zeichen einer prinzipienlosen Beliebigkeit gesehen werden, sondern vielmehr als Möglichkeit, über separate Kanäle genau kalibrierte Botschaften zu senden. Dies erfordert jedoch auch eine klare Sicht auf chinesische Motivationen und ihre Vereinbarkeit mit europäischen Zielvorstellungen.

China als illiberale oder antiliberale Macht?

Die stetige Entfaltung chinesischer Macht in der Welt begründet seit einigen Jahren ein reges Interesse an den dahinterstehenden Visionen und normativen Vorstellungen. Von zentraler Wichtigkeit ist, inwieweit ein stärkeres China bereit ist, die existierende und nicht zuletzt von Europa mitgetragene liberale Weltordnung zu akzeptieren und in welchem Bereich ein fundamentaler Wandel angestrebt wird.

Generell lässt sich konstatieren, dass – ebenfalls im Gegensatz zum Kalten Krieg – kein allumfassender Widerspruch zwischen liberalen und chinesischen Ordnungsbildern besteht. China verdankt seinen eigenen Aufstieg einer globalisierten, vernetzten und wirtschaftlich offenen Welt.

Auf internationaler Bühne fordert China konsistent, diese Merkmale der internationalen Ordnung zu bewahren, zuletzt in expliziter Abgrenzung zu den protektionistischen Bestrebungen der Trump-Regierung und anderer westlicher Politiker. Insbesondere durch die "Belt-and-Road"-Initiative (BRI), die "Neue Seidenstraße", die der Globalisierung wortwörtlich neue Wege bahnen soll, wird diese Forderung auch praktisch untermauert.

Die Parole von der so entstehenden globalen "Schicksalsgemeinschaft" spiegelt chinesische Vorstellungen einer von Beziehungen und Verknüpfungen geprägten Welt wider, in der dasjenige Land im Mittelpunkt steht, in dem die meisten Linien zusammenlaufen. Die Konstruktion von Transportkorridoren, die auf China ausgerichtet sind, erfüllt daher neben wirtschaftlichen auch politische Ordnungsziele.3 [4]

Zusätzlich zur Etablierung eigener, chinesisch geprägter Institutionen wie der Asian Infrastructure Investment Bank (AIIB) zur Finanzierung der BRI betont Peking seinen Führungsanspruch auch verstärkt innerhalb des Systems der Vereinten Nationen (VN). China beteiligt sich an Friedenssicherungs- und Stabilisierungseinsätzen, betont globale Entwicklungsziele und den Kampf gegen Herausforderungen wie Klimawandel und Corona-Pandemie.

Auf diese Weise macht China zunehmend Einfluss geltend und verwirklicht sein eigenes, lange gehegtes Rollenbild als "verantwortungsvolle Macht".4 [5] Auch in diesem Bereich gelang es in den vergangenen Jahren, von den USA geräumte Bereiche zu besetzen und eigenes Personal in zahlreichen VN-Agenturen zu installieren; VN-interne Diskurse werden parallel immer stärker von chinesischen Konzepten und bevorzugten Redewendungen durchdrungen.5 [6]

Im Gegensatz zu diesen Bereichen, in denen China überwiegend in existierende Weltordnungsstrukturen hineinwächst und diese auch stärkt, werden andere Elemente des liberalen Modells klar zurückgewiesen. Dies betrifft vor allem die Annahme universell gültiger normativer Prinzipien wie Menschenrechte und politischer Teilhabe sowie die Pflicht zur deren globaler Durchsetzung.

Motiviert durch den Erhalt des eigenen Systems, aber auch von genuinen Überzeugungen, stellt Peking dem Status quo eine zunehmend klare Alternative gegenüber, die vor allem nationalstaatliche Souveränität, Wertneutralität bezüglich politischer Systeme, effektive Staatsgewalt statt individueller Rechte sowie das Primat wirtschaftlicher Entwicklung betont.

So macht sich China im VN-Menschenrechtsrat stark für eine Interpretation des Begriffs der Menschenrechte, welche die ökonomischen Rechte und insbesondere ein "Recht auf Entwicklung" ins Zentrum stellt.6 [7] Legitim ist nach diesen Kriterien vor allem der wirtschaftlich erfolgreiche Entwicklungsstaat, dessen Souveränität von außen nicht angetastet werden darf – was nicht nur dem Schutz von Chinas eigenem Regime dient, sondern auch ähnlich verfassten Staaten in aller Welt.

Diese Agenda erfordert jedoch aus chinesischer Sicht keinen Systemwettbewerb durch die Konversion anderer Staaten, sondern sie lässt sich durch die schleichende Schwächung liberaler Ordnungsvorstellungen und ihres weltweiten normativen Druckpotenzials erreichen.

Während der Aufbau einer neuen, China-zentrischen Weltordnung ein langfristiges Projekt ist, das bislang kaum Unterstützung erfährt, kann Peking für das Ziel einer nicht-liberalen Ordnung auf deutlich größeren Rückhalt in zahlreichen postkolonialen Staaten und Entwicklungsländern bauen, teils aber auch bei illiberalen Regimen in westlichen Ländern. Eine solche Koalition konnte Peking bereits mobilisieren, um von Deutschland und anderen europäischen Staaten vorgebrachte Kritik am eigenen Vorgehen in Xinjiang und Hongkong mit Zuspruch aus dem Globalen Süden zu kontrastieren.7 [8]

Im Umgang mit China stellt sich die Herausforderung, in zahlreichen einzelnen (friedens-)politischen Themenbereichen nicht nur die kurzfristige Interessenlage auszuloten, sondern auch zu überlegen, wie diese Interaktionen die Welt, in der wir leben, und die, in der wir in Zukunft leben wollen, prägen. Eine für alle Politikbereiche verbindliche China-Strategie als Leitschnur kann und wird es angesichts dieser Komplexität nicht geben.

Das gleichzeitige Nebeneinander von Partnerschaft, Wettbewerb und Rivalität mit China wird auch in Zukunft widersprüchliche, deshalb aber nicht notwendigerweise falsche Bilder des Landes zeichnen. Dies unterstreicht ein Blick auf fünf Einzelthemen, an der Schnittstelle von China- und Friedensforschung: die Umsetzung der BRI, Territorialkonflikte an Chinas Peripherie, der repressive Umgang mit innerstaatlichen Konflikten, die Teilnahme an internationalen Stabilisierungseinsätzen und die strategische Wirtschafts- und Handelspolitik.

Gemein ist diesen Themen, dass sie nicht nur einzelne Dimensionen der chinesisch-europäischen Beziehungen abbilden und daher als Beispiele für "Partnerschaft" oder "Rivalität" dienen können – vielmehr zeigen sich selbst innerhalb dieser eng umrissenen Felder diese widersprüchlichen Impulse.

Belt-and-Road-Initiative

Die chinesische BRI gilt seit ihrem offiziellen Start 2013 als Ausweis von Chinas globalen Ambitionen. Während das Projekt ursprünglich als reine Infrastrukturmaßnahme galt und vor allem durch das enorme Volumen darunter veranschlagter Investitionen hervorstach, kommt ihm in der öffentlichen Wahrnehmung inzwischen eine weit größere Rolle zu: Vor allem amerikanische Analysen interpretieren die BRI überwiegend als geopolitisches Projekt, mit dem China beabsichtigt, die beteiligten Staaten wirtschaftlich zu durchdringen, in seinen politischen Orbit zu ziehen und schlussendlich eine sinozentrische Weltordnung wiederherzustellen.8 [9]

In der Umsetzung bleiben chinesische Infrastrukturprojekte oft weit hinter etablierten internationalen Standards für Nachhaltigkeit, Transparenz, Umweltverträglichkeit und Konfliktsensitivität zurück. Zuletzt wurde häufig der Vorwurf laut, Peking betreibe eine "Schuldenfallen-Diplomatie" und vergebe gezielt Kredite an Staaten, die diese langfristig nicht bedienen können, um sich im Rahmen einer Restrukturierung politischen Einfluss zu sichern.

Vor allem das letzte Argument stützt sich auf eine sehr begrenzte empirische Basis und ignoriert, wie sehr die Implementierung der BRI in lokalen Kontexten von örtlichen politischen Eliten, die eigene Interessen verfolgen und häufig auch durchsetzen können, mitgeprägt wird. Zudem gerät außer Acht, dass zahlreiche BRI-Mitgliedsländer ein herausforderndes Umfeld darstellen, politisch wie wirtschaftlich sehr fragil sind und entsprechend große Risiken für Investitionen bergen.

Unter diesen Umständen ist chinesisches Kapital oft die einzige Möglichkeit, ambitionierte nationale Entwicklungsziele umzusetzen. Schließlich punkten chinesische Offerten mit ihrem expliziten Verzicht auf daran geknüpfte politische Reformbedingungen, was in souveränitätsorientierten postkolonialen Staaten auf reges Interesse stößt. Betrachtet man die BRI von der Nachfrageseite, also aus lokaler Perspektive, so müssen sich auch europäische Akteure fragen, ob die eigenen Entwicklungshilfe-Angebote diese Lücke nicht erst offengelassen haben.

Welchen Einfluss die BRI letztlich auf die Welt haben wird, wird demnach nicht nur von Strategen in Peking entschieden, sondern ergibt sich aus komplexen und lokal spezifischen Wechselwirkungen. Durch chinesische Investitionen fließen erhebliche Ressourcen in tief gespaltene Gesellschaften und eröffnen ihnen im besten Fall neue, gemeinsame Entwicklungsperspektiven - bergen aber auch das Potenzial, existierende Konflikte zu verschärfen, wenn Kosten und Nutzen sehr ungleich verteilt sind

Der Umgang mit solchen Herausforderungen ist für chinesische Unternehmen Neuland, wie auch für viele der betroffenen Länder selbst. Entsprechend mangelt es an Kapazitäten zur Konfliktanalyse, Stakeholder-Einbindung oder der Wahrnehmung sozialer Verantwortung. Wo in China selbst ein mächtiger Zentralstaat Entwicklungsziele festlegt und Infrastrukturprojekte durchführt, bietet sich in vielen BRI-Mitgliedsländern ein schwer zu durchdringendes Dickicht instabiler Institutionen, miteinander verfeindeter Gruppen und häufig wechselnder politischer Führungen.

Diese Tatsachen sollen die bislang verbesserungsfähige Implementierung der BRI nicht entschuldigen, zeichnen jedoch ein differenzierteres Bild als die verbreitete Darstellung eines chinesischen Masterplans zur Erringung globaler Vorherrschaft. Politische Risiken werden auch in China zunehmend erkannt und haben bereits dazu geführt, dass Auslandsinvestitionen in besonders gefährdete Staaten gedrosselt wurden.

Das eigene finanzielle Risiko bedingt zudem ein chinesisches Interesse an der Stabilisierung dieser Länder und macht Peking ebenfalls zum Stakeholder. Vor Ort wird mit politischen Strategien zur Einbindung verschiedener politischer Gruppen experimentiert, wenngleich meist auf nationaler Ebene. Als Zukunftsziele wurden eine "grünere", nachhaltigere BRI und höhere Umweltstandards bei der Projektgestaltung versprochen, was einige der prominentesten Ursachen für lokale Beschwerden aufgreift.

Damit bietet sich zudem ein bislang wenig genutztes Potenzial, internationale Expertise insbesondere in den Bereichen Konfliktsensitivität und Nachhaltigkeit einzubinden. Idealerweise könnte dies in eine umfassende Kooperation münden, welche die europäische Entwicklungshilfe, Wissenschaft und auch Zivilgesellschaft einbezieht, die auf diesem Gebiet komplementäre Stärken haben.

Entsprechende Angebote sollten daher gemacht werden, von der Mitarbeit in bereits existierenden Kooperationsplattformen wie der "BRI International Green Development Coalition" bis hin zur aktiven Etablierung neuer Formate, wie sie im Bereich Konfliktsensitivität noch fehlen. Die chinesische Seite müsste jedoch eine größere Bereitschaft zur Öffnung der BRI und Akzeptanz für konstruktive Kritik zeigen.

Handels- und Technologiepolitik

Ein letztes Beispiel für das komplexe Zusammenspiel zwischen geteilten und widerstreitenden Interessen, wie auch deren stetiger Neuinterpretation, findet sich in den Handelsbeziehungen der EU mit China. Diese galten lange als harmonischstes Feld und exemplarisch für die viel beschworene "win-win-Kooperation".

Jedoch beurteilen die EU und China die Handelsbeziehungen zunehmend unter strategischen Gesichtspunkten. Insbesondere die coronapandemiebedingten Lieferkettenunterbrechungen und die schwerwiegenden Auswirkungen auf Gesundheit und Wirtschaft haben in den vergangenen Monaten Alarmglocken in den Hauptstädten Europas läuten lassen. Die ökonomische Abhängigkeit von China sei schlichtweg zu groß und sollte reduziert werden.

EU Anteil an Chinas Industriemaschinen-Importen, ausgewählte Kategorien. Quelle: UN comtrade database, comtrade.un.org [10]

Dabei gerät aus dem Blick, dass ökonomische Abhängigkeit beiderseitig verläuft, denn auch China braucht europäische Produkte und Technologie. Wie das Diagramm zeigt, hat der europäische Anteil von Chinas Industriegüterimporten in vielen Bereichen sogar zugenommen. Diese Abhängigkeit kann konflikthemmend wirken, denn wirtschaftliche Verflechtungen erhöhen die Kosten, einen Konflikt eskalieren zu lassen.

Abhängigkeit zwischen China und Europa kann Konflikte vermeiden

Doch ebendiese bilateralen wirtschaftlichen Beziehungen stehen sowohl in China als auch in der EU zunehmend auf dem Prüfstand. EU-China-Beziehungen sind zwar nach wie vor primär wirtschaftlicher Natur, aber menschenrechtliche, geopolitische und sicherheitspolitische Erwägungen treten zunehmend in den Vordergrund von Handels- und Technologiepolitik. Ökonomische und technologische Abhängigkeiten werden so zum Druckmittel der Durchsetzung nationaler Interessen.

Bereits seit Monaten arbeiten China und die EU an neuen Instrumenten, die zu einer wirtschaftlichen Entkopplung und damit zum Wegfall gemeinsamer Interessen beitragen können. Beispiele sind Exportkontrollen und verschärfte Investitionskontrollmechanismen. Noch sind die wirtschaftlichen Konsequenzen kaum spürbar, europäische Unternehmen haben sich nicht aus China zurückgezogen.

Im Gegenteil, angetrieben durch Chinas Wirtschaftswachstum steigen bilaterale Handels- und Investitionsvolumen weiterhin an. Aber die neuen Instrumente verschlechtern die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und erhöhen Unsicherheit, was Handel und Investitionen langfristig hemmen kann.

Während in Europa die Politisierung von Handel und Technologie erst seit Kurzem an Fahrt aufnimmt, unter anderem aufgrund der Lieferkettenunterbrechungen und wertebasierten Differenzen, setzt China schon lange auf ökonomische und technologische Unabhängigkeit. Um nationale Champions zu fördern, beschränkt die Regierung den Marktzugang ausländischer Unternehmen. Das trägt dazu bei, dass geteilte wirtschaftliche Interessen wegfallen.

Pekings Strategie "Made in China 2025" macht das Streben nach Unabhängigkeit explizit, die Kontrollierbarkeit von Technologie rückt in den Fokus von nationaler Sicherheit. Dieser Trend wird sich auch in diesem Jahr fortsetzen. Im vergangenen Dezember hat die chinesische Regierung auf der zentralen Arbeitskonferenz Wirtschaft die Stärkung nationaler Forschung und Technologie als höchste wirtschaftliche Priorität identifiziert. Durch Investitionen in nationale Forschung sollen Lieferketten von Kerntechnologien wie Halbleitern kontrollierbar gemacht und Wertschöpfungsketten nach China verlagert werden.

Diese Zielsetzungen erschweren die Mitwirkung ausländischer Unternehmen auf dem chinesischen Markt. US-Sanktionen, gerichtet gegen chinesische Technologiefirmen wie ZTE und Huawei, wirken lediglich als Katalysator für diese wirtschaftliche Entkopplung. In Zukunft soll Sanktionen keine Angriffsfläche geboten werden. Wirtschaftliche Verflechtungen, bei denen China auf Importe angewiesen ist – wie bei Halbleitern und Saatgut –, sind der Regierung deshalb ein Dorn im Auge.

Sitzt China dagegen selbst am längeren Hebel, nutzt Peking asymmetrische Handelsbeziehungen immer offensiver, um nationale Interessen durchzusetzen. Staaten wie Südkorea und Australien werden von China bestraft, wenn sie Kritik üben oder als Bedrohung gewertet werden. Ein beliebtes Mittel zur Bestrafung sind dabei Unternehmen des jeweiligen Landes, deren Abhängigkeit von chinesischen Konsumenten zur wirtschaftlichen Waffe wird.

Zunehmend ist auch Europa betroffen. Nachdem Schweden entschieden hatte, Huawei vom nationalen 5G-Ausbau auszuschließen, drohte Chinas Handelsministerium mit Vergeltung. Bereits im Dezember 2019 drohte der chinesische Botschafter Deutschland mit Konsequenzen für die Autoindustrie, sollte Berlin sich ähnlich entscheiden. Nur wenige Tage vor Abschluss des Investitionsabkommens mit der EU, das den Marktzugang für europäische Unternehmen in China verbessern soll, verschärfte Peking Kontrollmaßnahmen für ausländische Investitionen.

Handelsstruktur ausgewählter Länder und Wirtschaftsräume mit China
Anteil Chinas am Gesamthandel von: Anteil des jew. Landes am Gesamthandel Chinas
Australien 32,78 % Australien 3,67 %
EU-27 und Großbritannien 16,27 % EU-27 und Großbritannien 13,54 %
Südkorea 23,29 % Südkorea 6,23 %
USA  13,75 % USA  11,86 %
Quelle: UN comtrade database, comtrade.un.org [11]

Das gibt der Regierung ein neues Instrument an die Hand, um unliebsame ausländische Unternehmen in China und indirekt deren Herkunftsstaaten zu sanktionieren. Noch hat China davon abgesehen, diese Drohungen gegenüber EU-Mitgliedsstaaten umzusetzen. Die gegenseitige ökonomische Abhängigkeit wirkt, der Politisierung von Handel und Wirtschaft zum Trotz, als Konfliktbremse.

Die EU beliefert China nicht nur mit wichtigen Maschinen und Technologien, sondern hat im Vergleich mit Südkorea und Australien auch Wirtschaftsbeziehungen mit China, die auf gegenseitiger Abhängigkeit beruhen (siehe Tabelle). Nach Meinung der Autoren ist es angesichts der werte- und sicherheitsbasierten Neubewertung von Handelspolitik im Interesse der EU, wirtschaftliche Verflechtungen mit China zu vertiefen, solange Menschenrechte und nationale Sicherheit nicht beeinträchtigt werden.


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