Chomsky: "Es gibt das Risiko, dass der Westen bis nach Russland vordringen könnte"

Wolodymyr Selenskyj besucht Butscha, wo er mit Bewohner:innen und Journalisten spricht. Bild: Public Domain

Noam Chomsky sagt: Der Westen könnte in der Ukraine fortschrittlichere Waffen einsetzen und den Krieg bis nach Russland ausweiten. Warum die ablaufende Neujustierung der Weltordnung in der Katastrophe enden könnte. (Teil 2 und Schluss)

Das Interview mit Noam Chomsky führt der Politikwissenschaftler C.J. Polychroniou. Das Interview erscheint in Kooperation mit der US-Nachrichtenseite Truthout. Der erste Teil des Interviews mit Chomsky zum Ukraine-Krieg wurde am Montag auf Telepolis veröffentlicht. Übersetzung: David Goeßmann.

Sieben Monate nach Putins verbrecherischem Einmarsch in die Ukraine hat der Krieg einen Wendepunkt erreicht. Mit Putins Aufruf zur "Teilmobilisierung" ist er nach Russland zurückgekehrt, und eine Annexion von Teilgebieten in der Ukraine findet statt. Was bedeutet die Aufstockung der russischen Streitkräfte in der Ukraine für Russland und die Ukraine? Sind Putins Befehle zur militärischen Einberufung ein Eingeständnis, dass Russland in der Ukraine keine "militärische Spezialoperation" mehr durchführt?

Noam Chomsky: Was in Russland geschieht, ist unklar. Es gibt Berichte über Proteste und Zwangsrekrutierungen sowie Aufrufe, "Mütterchen Russland" gegen eine weitere westliche Invasion zu verteidigen, die man aber – wie frühere Versuche, die bis zu Napoleon zurückreichen –, niederschlagen werde. Solche Appelle könnten Gehör finden. Die historischen Erinnerungen wurzeln tief. Wie sich die Stimmung in Russland entwickeln wird, können wir aber nur vermuten.

Es war von Anfang an eine kriminelle Invasion und zu keinem Zeitpunkt eine "militärische Spezialoperation", aber im Kreml versucht man weiter, diesen Eindruck zu vermitteln. Es ist unwahrscheinlich, dass die Mobilisierung in nächster Zeit große Auswirkungen auf den Krieg haben wird. Die langfristigen Effekte sind unklar.

Noam Chomsky ist Professor für Linguist, US-Kritiker und Aktivist. Er hat rund 150 Bücher geschrieben.

Die Versäumnisse und die Inkompetenz des russischen Militärs haben die meisten der gut informierten Analysten überrascht. Das könnte auch auf die Mobilisierung, Ausbildung und Lieferung von Ausrüstung zutreffen. Eine nennenswerte Stärkung der russischen Streitkräfte durch die Mobilisierung wird wahrscheinlich weit in der Zukunft liegen und wohl erst nach den Wintermonaten zum Tragen kommen. Russland könnte Truppen aus anderen Regionen verlegen, aber ob die Führung die Fähigkeit oder den Willen dazu hat, kann ich nicht einschätzen.

Die Mobilisierung und die Annexion scheinen auf einen langwierigen Zermürbungskrieg hinzudeuten. Wenn es gelingt, den Krieg in eine andere Richtung zu lenken, erhöht sich das Risiko, dass der Westen den Einsatz mit fortschrittlicheren Waffen forciert und vielleicht sogar bis nach Russland vordringt, wie es Präsident Selenskyj gefordert hat, was bisher abgelehnt wurde. Es ist nicht schwer, sich Szenarien vorzustellen, die zu katastrophalen Folgen führen.

Und das ist nur der Anfang. Die Auswirkungen des Krieges gehen weit darüber hinaus: bis hin zu den Millionen von Menschen, die aufgrund der Einschränkung der Getreide- und Düngemittelausfuhren – die jetzt teilweise aufgehoben wurden, obwohl es kaum Informationen darüber gibt, wie viel –, vom Hungertod bedroht sind. Aber was am wichtigsten ist und am wenigsten diskutiert wird, ist die komplette Revision der an sich schon geringen internationalen Bemühungen, die Klimakrise zu bewältigen, ein kolossales Verbrechen gegen die Menschheit.

Während riesige Ressourcen für die Zerstörung vergeudet werden und die fossile Brennstoffindustrie gut gelaunt die Erschließung neuer Gas- und Ölfelder feiert, um die Atmosphäre noch mehr mit Treibhausgase zu vergiften, teilen uns die Wissenschaftler mit, dass ihre düsteren Warnungen viel zu konservativ waren.

So haben wir vor kurzem erfahren, dass sich die Region des Nahen Ostens, nicht weit von der umkämpften Ukraine entfernt, fast doppelt so schnell erwärmt wie der Rest der Welt, mit einem geschätzten Anstieg von fünf Grad Celsius bis zum Ende des Jahrhunderts, und dass der Meeresspiegel im östlichen Mittelmeerraum bis Mitte des Jahrhunderts um einen Meter und bis zum Jahr 2100 um bis zu 2,5 Meter ansteigen wird. Das ist natürlich noch nicht alles. Die Folgen sind kaum abzuschätzen.

In der Zwischenzeit ist der Nahe und Mittlere Osten der globale Hotspot der Erderhitzung, die ihn an den Rand der Überlebensfähigkeit und bald darüber hinaus schiebt. Und während Israel und der Libanon vielleicht schon bald im Meer versinken, streiten sie sich, wer die Ehre haben wird, die beiden Länder durch die Ausbeutung der fossilen Brennstoffe an ihren Seegrenzen zu vernichten – ein Wahnsinn, der sich weltweit wiederholt. Angesichts solcher Realitäten stellt die Eskalation des Ukraine-Kriegs ein Ausmaß an Schwachsinn dar, das sich nur schwer in Worte fassen lässt.

Gefährliches Säbelrasseln auch gegenüber China

Einigen Berichten zufolge führt die ukrainische Regierung Hinterzimmer-Verhandlungen über die Lieferung moderner Waffen aus amerikanischer Produktion. Darüber hinaus haben Präsident Selenskyj und seine Regierung ein Dokument mit langfristigen Sicherheitsgarantien des Westens vorgelegt, das die künftige Sicherheit der Ukraine direkt an die Präsenz von Nato-Truppen im Land knüpfen würde. Moskau hat den Vorschlag – welche Überraschung – sofort zurückgewiesen. Der Vizepräsident des russischen Sicherheitsrates bezeichnete ihn als "Prolog zum dritten Weltkrieg". Ist der so genannte Kiewer Sicherheitsvertrag ein Weg zu einer Friedenslösung oder führt er dazu, den Konflikt nicht nur auf unbestimmte Zeit fortzusetzen, sondern ihn auch auf eine höhere Stufe zu eskalieren?

Noam Chomsky: Es ist schwer vorstellbar, dass eine russische Regierung Nato-Truppen in der Ukraine dulden würde. Das wissen hochrangige US-Beamte, die sich in der Region auskennen, schon seit dreißig Jahren, und jetzt ist es noch unwahrscheinlicher.

Was Russland tolerieren könnte, ist eine abgeschwächte Version dieser Forderung: langfristige Sicherheitsgarantien mit dem, was in der Diplomatie "strategische Zweideutigkeit" genannt wird, verbunden mit der Beendigung der Pläne für eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine. In der Vergangenheit hat Selenskyj etwas in dieser Richtung vorgeschlagen. Ob das eine Option weiter ist, können wir natürlich erst wissen, wenn man sich um eine diplomatische Lösung bemüht, wie es offenbar im April letzten Jahres zwischen der Ukraine und Russland geschehen ist.

Die Biden-Regierung, insbesondere das Pentagon, hat darauf geachtet, ihre Beteiligung am Krieg nicht zu schnell zu eskalieren, um eine russische Reaktion zu verhindern, die bisher nicht eingetreten ist, was Washington und London durchaus verblüfft. Der Kongress ist eine andere Sache. Er scheint wild entschlossen zu sein, in die Katastrophe zu stürzen. Forderungen nach Flugverbotszonen und anderen sehr gefährlichen Initiativen wurden vom Pentagon blockiert, aber das Säbelrasseln geht weiter. Das gilt auch für China, oder, um es gemäß den Beschlüssen des jüngsten Nato-Gipfels auszudrücken, für den "indopazifischen Raum des Nordatlantiks".

Der Besuch von Nancy Pelosi in Taiwan war schon waghalsig genug, aber die Falken im US-Kongress, über Parteigrenzen hinweg, sind entschlossen, die Möglichkeit eines finalen Atomkriegs noch weiter zu erhöhen.

Ein wichtiger Schritt in diese Richtung wurde am 14. September unternommen, als der Ausschuss für auswärtige Beziehungen des Senats den Taiwan Policy Act 2022 verabschiedete, der von den Ausschussvorsitzenden Robert Menendez (Demokraten) und Lindsey Graham (Republikaner) eingebracht wurde.

Das Gesetz sieht vor, dass Taiwan als "wichtiger Nicht-Nato-Verbündeter" eingestuft wird. Taiwan soll in den nächsten vier Jahren 4,5 Milliarden Dollar an Sicherheitshilfe erhalten, die Teil eines "umfassenden Ausbildungsprogramms mit der taiwanesischen Regierung" sein soll. Das Gesetz sieht auch "mehr Interoperabilität zwischen dem US-amerikanischen und dem taiwanesischen Militär (sowie) gemeinsame US-amerikanisch-taiwanesische Notfallübungen, Kriegsspiele und, wie es im Gesetzentwurf heißt, robuste, einsatzrelevante oder groß angelegte Militärübungen" vor, wie die Asia Times berichtet.

Darüber hinaus erklärt das Gesetz als US-Regierungspolitik, "der Bevölkerung Taiwans eine de facto diplomatische Behandlung zukommen zu lassen, die der für andere Länder, Nationen, Staaten, Regierungen oder verwandten Körperschaften gleichwertig ist" und "alle unangemessenen Beschränkungen" zu beseitigen, die US-Vertreter daran hindern, "direkt und regelmäßig mit ihren Amtskollegen der Regierung Taiwans zu interagieren".

Der ehemalige australische Verteidigungsminister Mike Scrafton bemerkt:

Die Chinesen können dies nur als eine provokative De-Facto-Anerkennung der Unabhängigkeit Taiwans betrachten.

Nach internationalem Recht, das Taiwan als Teil Chinas betrachtet, ist das "eine offenkundige Verletzung der Souveränität Chinas und eine grundlegende Schwächung der Ein-China-Politik". Einmal mehr zeigt sich, dass die "regelbasierte Ordnung" der USA unter Missachtung des Völkerrechts nichts anderes ist "als die Beibehaltung der US-Hegemonie".

Sollte das Gesetz verabschiedet werden, "wäre es ein Wendepunkt und spiegelt die Bereitschaft der USA wider, sich auf einen Krieg einzulassen, der für die Region und die Welt katastrophal wäre". Es sollte Australien dazu veranlassen, sein Engagement für das von den USA dominierte regionale System zu überdenken.

Der Wortlaut des Gesetzes scheint sich an den Programmen zu orientieren, die vor der russischen Invasion durchgeführt wurden, um die Ukraine zu einem "De-Facto-Nato-Mitglied" zu machen, wie es das US-Militär formulierte.

Die Biden-Regierung lehnt die Gesetzesinitiative des US-Kongresses ab, wie sie schon Pelosis Reise nach Taiwan nicht unterstützte. Eine Umsetzung der Menendez-Graham-Gesetzesinitiative wäre aber jenseits der politischen Selbstvermarktung ein schwerer Schlag gegen die "strategische Zweideutigkeit" der Ein-China-Politik, die den Frieden in einer unbeständigen Region seit einem halben Jahrhundert bewahrt hat.

Kampf um eine neue Weltordnung: Uni- vs. Multipolarität

Die Europäische Union setzt China und Indien unter Druck, eine Preisobergrenze für russisches Öl zu unterstützen. Russland hat natürlich erklärt, dass es kein Öl an Länder verkaufen wird, die eine Obergrenze festlegen. Daher stellt sich hier eine doppelte Frage: Erstens, wie wahrscheinlich ist es, dass China und Indien dem Vorschlag der EU zustimmen werden, zumal beide Länder ihre russischen Öl-Käufe seit Moskaus Einmarsch in der Ukraine nicht nur erhöht haben, sondern auch zu ermäßigten Preisen kaufen, und zweitens, was wären die politischen Auswirkungen, falls sie dem Druck nachgeben und doch mitmachen?

Noam Chomsky: All das ist Teil der Neukonfiguration der Weltordnung, die schon seit einiger Zeit im Gange ist und durch Putins kriminelle Aggression vorangetrieben wurde. Eine Konsequenz ist, dass Europa Washington nun ohne jeglichen Widerstand folgt. Dieses höchst willkommene Geschenk wurde den USA von Wladimir Putin kostenlos überreicht, als er die Last-Minute-Bemühungen des französischen Präsidenten Macron, eine Invasion noch abzuwenden, mit offener Verachtung zurückwies. Es ist ein zentraler Beitrag zu Washingtons atlantischem Projekt globaler Hegemonie.

Die Kernfrage, um die es geht, ist meines Erachtens Unipolarität vs. Multipolarität. Seit die USA vor 80 Jahren die globale Dominanz von Großbritannien übernahmen, haben sie weit über das, wovon die Briten nur träumen konnten, eine unipolare Welt angestrebt und dieses Ziel in erheblichem Maße verwirklicht, und zwar auf eine Art und Weise, auf die wir nicht näher eingehen müssen. Dagegen hat es immer Widerstand gegeben.

In vielerlei Hinsicht war die bedeutendste und am wenigsten diskutierte Form des Widerstands das Bemühen der ehemaligen Kolonien, einen Platz in der internationalen Ordnung zu finden: UNCTAD (Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung), die Neue Internationale Wirtschaftsordnung, die Neue Internationale Informationsordnung und viele andere Initiativen.

Diese wurden vom imperialen Machtzentrum niedergeschlagen, manchmal bis hin zu Morden (siehe den bedeutsamen Fall von Patrice Lumumba), wenn andere Mittel nicht ausreichten. Einige Elemente haben überlebt, wie die BRICS (das Wirtschaftsbündnis von Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika). Das aufstrebende China führt die Bemühungen um eine multipolare Ordnung in der modernen Welt an.

Gegenwärtig manifestiert sich der Langzeitkonflikt auf viele Weisen. Eine davon ist das intensive Bemühen der USA, Chinas technologische Entwicklung zu behindern und es mit schwer bewaffneten US-Satelliten "einzukreisen". Eine andere ist das auf der Nato basierende, von den USA betriebene atlantische Projekt, das durch Putins Kriminalität neuen Auftrieb erhalten hat und vor kurzem offiziell auf den indopazifischen Raum ausgedehnt wurde.

Die größte Herausforderung stellt Chinas gigantisches Entwicklungs- und Investitionsprojekt dar – die von der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit unterstützte Neue-Seidenstraßen-Initiative –, die Zentralasien umfasst und inzwischen weit darüber hinausreicht. Auf ideologischer Ebene geht es um eine Konfrontation, die die auf den Vereinten Nationen basierende internationale Ordnung gegen das auf Regeln basierende internationale System (wobei die USA die Regeln festlegen) stellt. Letzteres wird in den USA ohne große Kontroverse oder auch nur Beachtung akzeptiert.

Die Probleme, die Sie in der Frage aufgeworfen haben, finden ihren Platz in diesem größeren Rahmen. Ihre Lösung hängt davon ab, wie sich der weitreichende Prozess der Neujustierung der internationalen Ordnung entwickeln wird. Eine höchst ungewisse Angelegenheit, die von großer Tragweite ist.

Es gibt noch eine grundlegendere Frage, die nicht übersehen werden kann. Solange die Großmächte keine Mittel und Wege finden, um den größten Bedrohungen in der Geschichte der Menschheit – Umweltzerstörung und Atomkrieg – entgegenzutreten, wird nichts anderes von Bedeutung sein.

Die Zeit dafür ist knapp.

Noam Chomsky (geb. 1928) ist emeritierter Professor für Linguistik und Philosophie am MIT, Lehrstuhlinhaber für Linguistik an der Universität von Arizona, wo er auch das Programm für Umwelt- und soziale Gerechtigkeit leitet. Chomsky ist einer der meistzitierten Wissenschaftler der modernen Geschichte und kritischer Intellektueller, der von Millionen von Menschen weltweit rezipiert wird. Er hat mehr als 150 Bücher, wissenschaftliche Standardwerke und viele Bestseller in den Bereichen Linguistik, politisches und soziales Denken, politische Ökonomie, Medienwissenschaft, US-Außenpolitik und Weltpolitik sowie Klimawandel veröffentlicht. Zuletzt erschien von ihm zusammen mit Marv Waterstone im Westend Verlag: "Konsequenzen des Kapitalismus. Der lange Weg von der Unzufriedenheit zum Widerstand".

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