Chomsky: In der Ukraine ist eine diplomatische Lösung immer noch möglich
Seite 2: Russland soll härter bestraft werden als Deutschland im Versailler Vertrag
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- Russland soll härter bestraft werden als Deutschland im Versailler Vertrag
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Diese Provokationsakte der USA sind vermutlich auch der Grund, dass der russische Angriff nun ständig auch als "unprovoziert" bezeichnet wird – ein Begriff, der sonst kaum oder gar keine Verwendung findet, in diesem Fall aber in intellektuellen Kreisen fast automatisch eingefügt wird. Für Psychologen dürfte es kein Problem sein, dieses merkwürdige Verhalten zu erklären.
Obwohl die Provokationen trotz der Warnungen über viele Jahre hinweg konsequent und bewusst ausgeübt wurden, rechtfertigen sie natürlich in keiner Weise Putins Rückgriff auf "das schlimmste internationale Verbrechen" der Aggression gegen ein anderes Land. Provokationen können zwar zur Erklärung eines Verbrechens beitragen, aber sie sind keine Rechtfertigung für ein solches.
Was die Bezeichnung Russlands als "Pariastaat" betrifft, so halte ich einige Einschränkungen für angebracht. In Europa und dem englischsprachigen Raum ist Russland sicherlich nun ein Pariastaat, und zwar in einem Ausmaß, das selbst erfahrene Kalte Krieger verblüfft hat. Graham Fuller, über viele Jahre hinweg eine der führenden Persönlichkeiten der US-Geheimdienste, sagte vor kurzem:
Ich glaube, ich habe in meinem ganzen Leben noch nie eine so heftige US- Medienblitzkampagne gesehen wie die, die wir heute in Bezug auf die Ukraine erleben. Die USA setzen nicht nur ihre Interpretation der Ereignisse durch, sondern dämonisieren in großem Stil Russland als Staat, Gesellschaft und Kultur. Die Parteilichkeit ist außergewöhnlich – so etwas habe ich auch nicht erlebt, als ich während des Kalten Krieges mit russischen Angelegenheiten befasst war.
Nimmt man den Kaffeesatz wieder zur Hand, könnte man vielleicht vermuten, dass, wie bei der quasi-verordneten Bezugnahme auf die "unprovozierte" Invasion, wiederum Schuldgefühle hineinspielen.
Das ist die Haltung der USA wie auch, in unterschiedlicher Ausprägung, die ihrer engen Verbündeten. Der größte Teil der Welt steht jedoch weiterhin abseits und verurteilt die Aggression, unterhält aber normale Beziehungen zu Russland, so wie die Kritiker der amerikanisch-britischen Invasion im Irak normale Beziehungen zu den (völlig unprovozierten) Aggressoren unterhielten. Man macht sich zudem lustig über die jetzigen Proklamationen über Menschenrechte, Demokratie und "Unverletzlichkeit der Grenzen" vom Weltmeister in Sachen internationale Gewalt und Staatsstürze – Dinge, die der globale Süden aus reichlicher Erfahrung gut kennt.
Russland behauptet, dass die USA direkt in den Ukraine-Krieg verwickelt sind. Führen die USA einen Stellvertreterkrieg in der Ukraine?
Noam Chomsky: Dass die USA stark in den Krieg verwickelt sind, und das mit Stolz, steht nicht in Frage. Dass sie einen Stellvertreterkrieg führen, davon ist man außerhalb der europäisch-angloamerikanischen Welt überzeugt. Es ist nicht schwer zu verstehen, warum. Die offizielle US-Politik ist erklärtermaßen, dass der Krieg so lange fortgesetzt werden muss, bis Russland so stark geschwächt ist, dass es keine weiteren Aggressionen mehr unternehmen kann.
Diese Politik wird mit sich überschlagenden Erklärungen über einen kosmischen Kampf von Demokratie, Freiheit und dem Guten gegen das ultimative Böse gerechtfertigt, das auf globale Eroberung aus ist. Die heiß laufende Rhetorik ist nicht neu. Das Märchen von Gut gegen Böse erreichte im wichtigsten Dokument des Kalten Krieges, dem NSC 68, seinen Comedy-Style-Höhepunkt und ist auch sonst häufig aufzufinden.
Wörtlich genommen bedeutet die offizielle US-Politik, dass Russland härter bestraft werden muss als Deutschland im Versailler Vertrag von 1919. Die es betrifft werden dieses Ziel wahrscheinlich wörtlich nehmen, was natürlich Konsequenzen für ihre Reaktion hat.
Die Einschätzung, dass sich die USA einem Stellvertreterkrieg verschrieben haben, wird durch die öffentliche Debatte im Westen gestützt. Während ausgiebig darüber diskutiert wird, wie man die russische Aggression effektiver bekämpfen kann, findet man kaum ein Wort darüber, wie man dem Schrecken ein Ende bereiten könnte – ein Schrecken, der weit über die Ukraine hinausgeht. Diejenigen, die es wagen, diese Frage aufzuwerfen, werden in der Regel verunglimpft, selbst sonst so verehrte Persönlichkeiten wie Henry Kissinger – obwohl interessanterweise Aufrufe zu einer diplomatischen Lösung ohne die übliche Dämonisierung auskommen, wenn sie in den tonangebenden Zeitschriften des Establishments erscheinen.
Welche Begrifflichkeit man auch immer bevorzugt, die grundlegenden Fakten über die Politik und die Pläne der USA sind klar. "Stellvertreterkrieg" scheint mir ein angemessener Begriff zu sein, aber was zählt, sind Politik und Pläne.
Wie zu erwarten war, hat die Invasion auch zu einem langwierigen Propagandakrieg auf allen beteiligten Seiten geführt. In diesem Zusammenhang sagten Sie kürzlich, dass die Amerikaner durch das Verbot des Fernsehsenders Russia Today (RT) und anderen russischen Medien weniger Zugang zum offiziellen Gegner haben als die Sowjets in den 1970er Jahren. Können Sie das etwas näher erläutern, zumal Ihre Aussage über Zensur in den USA im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg völlig verzerrt wurde, so dass der Eindruck vermittelt wurde, Sie meinten, die Zensur in den USA sei heute schlimmer als im kommunistischen Russland?
Noam Chomsky: Auf der russischen Seite ist der Propagandakrieg im Inland extrem. Auf amerikanischer Seite gibt es zwar keine offiziellen Verbote, aber die Beobachtungen von Graham Fuller lassen sich kaum leugnen.
Buchstäbliche Zensur ist in den USA und anderen westlichen Gesellschaften selten. Doch wie George Orwell 1945 in seiner (unveröffentlichten) Einleitung zu seinem Buch "Farm der Tiere" schrieb, bestehe das "Düstere" freier Gesellschaften darin, dass die Zensur
weitgehend freiwillig ist. Unpopuläre Ideen können zum Schweigen gebracht und unbequeme Tatsachen im Dunkeln gehalten werden, ohne dass ein offizielles Verbot erforderlich ist.
Was im Allgemeinen ein wirksameres Mittel der Gedankenkontrolle ist als offene Gewalt.
Orwell bezog sich auf England, aber das Problem geht darüber hinaus. Um ein aktuelles Beispiel zu nennen: Der hoch angesehene Nahostwissenschaftler Alain Gresh wurde vom französischen Fernsehen zensiert, weil er sich kritisch zu Israels jüngsten terroristischen Verbrechen im besetzten Gaza geäußert hatte.
Gresh stellte fest, dass "diese Form der Zensur außergewöhnlich ist. In der Palästina-Frage wird sie nur selten auf so offensichtliche Weise praktiziert". Eine wirksamere Form der Zensur werde durch die sorgfältige Auswahl der Kommentatoren ausgeübt. Sie gelten als akzeptabel, so Gresh, wenn sie "die Gewalt bedauern" und gleichzeitig hinzufügen, dass Israel "das Recht hat, sich zu verteidigen", und die Notwendigkeit betonen, "Extremisten auf beiden Seiten zu bekämpfen", aber "es scheint keinen Platz für diejenigen zu geben, die Israels Besatzung und Apartheid radikal kritisieren."
In den Vereinigten Staaten sind solche Mittel, mit denen unpopuläre Ideen zum Schweigen gebracht werden und unbequeme Fakten im Dunkeln gehalten werden können, zu einer ausgefeilten, impliziten Technik entwickelt worden, wie man es in freien Gesellschaft erwarten kann, die nicht offensichtlich Meinungen unterdrücken können. Mittlerweile gibt es buchstäblich Tausende von Seiten, die diese Praktiken in allen Einzelheiten dokumentieren. Bewundernswerte Organisationen, die professionell Medienkritik betreiben wie FAIR in den USA und Media Lens in England, veröffentlichen regelmäßig weitere Analysen.
Die Vorteile westlicher Indoktrinationsmodelle gegenüber den plumpen, leicht zu durchschauenden Maßnahmen totalitärer Staaten sind breit diskutiert worden. Die ausgefeilteren Instrumente der freien Gesellschaft verbreiten ideologische Sichtweisen über implizite Annahmen in der Darstellung, wie Gresh sie schildert, nicht durch explizite Verbote. Die Regeln werden nicht als solche öffentlich festgelegt, sondern im Stillen vorausgesetzt. Debatten sind erlaubt, ja sogar erwünscht, aber innerhalb von Grenzen, die unausgesprochen und starr sind. Sie werden im Prozess verinnerlicht. Wie Orwell es ausdrückt, haben diejenigen, die einer subtilen Indoktrination unterworfen sind, z. B. im Zuge einer guten Ausbildung, ein Vorverständnis dafür entwickelt, dass es bestimmte Dinge gibt, die "man nicht sagen darf" – oder sogar, die man denken muss.
Die Formen der Indoktrination müssen nicht bewusst sein. Diejenigen, die sie anwenden, haben bereits verinnerlicht, dass es bestimmte Dinge gibt, die man "nicht sagen" – oder gar denken - sollte.
Solche Mittel sind besonders wirksam in einer hochgradig auf sich bezogenen Kultur wie der US-amerikanischen – in der nur wenige auf die Idee kommen, andere Informationsquellen außerhalb des eigenen Landes zu nutzen, vor allem die eines verachteten Landes –, und in der der Anschein grenzenloser Freiheit keinen Anreiz bietet, über den etablierten Rahmen hinauszugehen.