Chomsky: US-Außenpolitik angetrieben von Angst vor Chinas Aufstieg
Seite 2: Ohne eurasische Integration werden Europa und Russland geschwächt
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- Ohne eurasische Integration werden Europa und Russland geschwächt
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Die Angst vor China ist eher intuitiv und speist sich aus den tiefen rassistischen Strömungen, die die amerikanische Gesellschaft seit ihren Anfängen vergiftet haben. Im 19. Jahrhundert wurden Chinesen entführt und als Quasi-Sklaven zum Bau von Eisenbahnen eingesetzt, als sich die Nation bis zu ihren "natürlichen Grenzen" ausdehnte; der Schimpfname, der auf sie angewandt wurde ("Coolie"), war ein Import aus Großbritannien, wo chinesische Arbeiter ebenfalls als Quasi-Sklavenarbeiter den britischen Reichtum erwirtschafteten.
Chinesen, die versuchten, sich niederzulassen, waren bösartigen rassistischen Angriffen ausgesetzt. Der Chinese Exclusion Act von 1882 verhängte ein zehnjähriges Einreiseverbot für chinesische Arbeiter, und das rassistische Einwanderungsgesetz von 1924, das sich in erster Linie gegen Italiener und Juden richtete (und schickte damit viele von ihnen in die Gaskammern, als ihnen die Einreise in die USA verweigert wurde), verbot die Einreise von Chinesen vollständig.
Die Hysterie um die Gelbe Gefahr wurde in den 1950er-Jahren nach dem überwältigenden Sieg Chinas gegenüber MacArthurs Armee in Korea neu entfacht. Die Befürchtungen werden immer wieder geäußert und sind sehr unterschiedlicher Natur. So warnte Lyndon Johnson davor, dass "sie" ohne überlegene Luftstreitkräfte über uns hinwegfegen und uns alles nehmen würden, was "wir" haben, wenn wir "sie" in Vietnam nicht aufhalten.
In anderer Formation treten sie heute auf, wenn der Kongress seine von der republikanischen Partei auferlegte Blockade plötzlich aufgibt, um Gesetze zum Wiederaufbau der kollabierenden Infrastruktur und der Chipindustrie zu verabschieden, nicht weil das für die Menschen in den USA Sinn macht, sondern um der Herausforderung, die die chinesische Entwicklung darstellt, zu entgegnen.
Es gibt andere Konflikte, die eine unmittelbare Bedrohung für unser Überleben darstellen. Gegenwärtig ist das Russland. Der Vorsitzende des ständigen Geheimdienstausschusses des Repräsentantenhauses, Adam Schiff, beruft sich auf kulturell tief verwurzelte Ängste, wenn er warnt, dass Russen unsere Küsten angreifen werden, wenn wir sie nicht in der Ukraine aufhalten.
An furchterregenden Feinden herrschte nie Mangel, aber die "heidnischen Chinesen" haben schon immer besondere Ängste hervorgerufen.
Wenden wir uns von der verständlichen Paranoia der Herrschenden gegenüber den Armen, die die Reichen ausplündern wollen, dem zweiten Thema zu: Weltordnung und Imperialismus im 21. Jahrhundert und die intensiven geopolitischen Bedenken der USA und Großbritanniens gegenüber einem aufstrebenden China.
Es ist nützlich, sich an die Erfahrungen unserer Vorgänger in Sachen globaler Dominanz zu erinnern. Als Insel vor der Küste Europas bestand Großbritanniens Hauptanliegen darin, die Vereinigung Europas zu einer Macht zu verhindern, die es nicht kontrollieren kann. In ähnlicher Weise können die USA und ihre Gebiete in der westlichen Hemisphäre als eine "Insel" vor der Küste der eurasischen Landmasse betrachtet werden. Nach der "Kernland-Theorie" von Halford Mackinder – einem Begründer der modernen Geopolitik, dessen Gedanken jetzt von globalen Strategen wieder aufgegriffen werden –, bildet Eurasien die Grundlage für die Weltbeherrschung.
In Anlehnung an die Logik des imperialen Britanniens würden wir also erwarten, dass die USA versuchen werden, die Vereinigung des "Kernlandes" als unabhängige Kraft zu verhindern, die nicht der US-Herrschaft unterworfen ist. Die Selbstverteidigungsoperationen an den westlichen und östlichen Enden des Kernlandes fallen ebenfalls in diese Kategorie.
Der Konflikt um die Vereinigung der Kernländer war ein wichtiges Thema in der Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg. In den Jahren des Kalten Krieges gab es einige europäische Initiativen zum Aufbau eines geeinten Europas, das Russland einschließt und eine unabhängige Kraft im Weltgeschehen sein würde. Solche Ideen wurden vor allem von Charles de Gaulle vorgebracht und fanden auch in Deutschland Widerhall. Sie wurden zugunsten des atlantischen Systems zurückgedrängt, das auf der Nato basiert und weitgehend von Washington aus gesteuert wird.
Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion erlangte die Einigung der Kernländer neue Bedeutung. Die Idee eines "gemeinsamen europäischen Hauses" von Lissabon bis Wladiwostok wurde von Michail Gorbatschow propagiert, der auf den Übergang zur Sozialdemokratie in Russland und seinen früheren Herrschaftsgebieten sowie auf eine gleichberechtigte Partnerschaft mit den USA bei der Schaffung einer Weltordnung, die auf Zusammenarbeit statt auf Konflikt beruht, zusteuern wollte. Das sind Themen von großer wissenschaftlicher Bedeutung, die der Historiker Richard Sakwa in außergewöhnlicher Tiefe untersucht hat.
Die USA – die Insel vor der Küste Eurasiens – lehnten diese Initiativen erwartungsgemäß ab. Während des gesamten Kalten Krieges stellten sie angesichts der Machtverhältnisse und der vorherrschenden Doktrin über die Weltverschwörung des Kremls kein großes Problem dar. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion nahm die Aufgabe neue Formen an.
Nach einigem Zögern verfolgten die USA schnell die Politik der "Erweiterung" des atlantischen Machtsystems, an der Russland nur untergeordnet beteiligt sein sollte. Vorschläge für eine gleichberechtigte Partnerschaft wurden auch in den Putin-Jahren bis in die jüngste Zeit immer wieder von Russland angeboten. Sie waren "ein Gräuel für diejenigen, die an eine dauerhafte Hegemonie des atlantischen Machtsystems glauben", stellt Sakwa fest.
Putins Einmarsch in die Ukraine, nachdem er die zaghaften Bemühungen Frankreichs und Deutschlands, den kriminellen Einmarsch abzuwenden, zurückgewiesen hatte, erledigte zumindest vorläufig eine Partnerschaft. Nun hat sich Europa erst einmal der atlantischen Doktrin unterworfen und sogar das formale US-Ziel der "Schwächung Russlands" übernommen, koste es, was es wolle – in der Ukraine und weit darüber hinaus.
Das gilt für den Moment. Ohne Integration werden das von Deutschland dominierte Europa und Russland sehr wahrscheinlich geschwächt werden. Russland mit seinen enormen natürlichen Ressourcen wird wohl weiter in das massive eurasische Entwicklungsprojekt Chinas, die Neue Seidenstraßen-Initiative, abdriften, die sich nun auf Afrika und sogar Lateinamerika ausdehnt.
Die Versuchung für Europa, sich dem Seidenstraßen-System anzuschließen, ist bereits groß und wird sich wahrscheinlich noch verstärken. Das auf Deutschland basierende integrierte Produktionssystem in Europa, das sich von den Niederlanden bis zu den ehemaligen osteuropäischen Satelliten Russlands erstreckt, ist zum erfolgreichsten Wirtschaftssystem der Welt geworden. Es stützt sich in hohem Maße auf den riesigen Exportmarkt und die Investitionsmöglichkeiten in China sowie auf Russlands reiche natürliche Ressourcen, einschließlich der für den Übergang zu erneuerbaren Energien benötigten Metalle.
Der Verzicht auf all dies sowie auf den Zugang zum expandierenden globalen Seidenstraßen-System wäre ein hoher Preis dafür, dass man sich an Washingtons Rockschöße klammert. Solche Überlegungen werden nicht ausbleiben, wenn das Weltsystem nach der Covid-Krise und dem Einmarsch Russlands in der Ukraine Gestalt annimmt.
Die Frage der eurasischen Integration in ein gemeinsames europäisches Haus stellt sich zugleich in einem allgemeineren Rahmen, der nicht einen Moment lang vergessen werden darf. Entweder werden die Großmächte bei der Bewältigung bedrohlicher globaler Krisen zusammenarbeiten oder sie werden gemeinsam ins Nichts verschwinden.
Angesichts der erbitterten Gegensätze von heute mag es unmöglich erscheinen, sich eine solche Zusammenarbeit vorzustellen. Aber sie muss keine unerreichbare Idee sein. Im Jahr 1945 schien es nicht weniger unmöglich, sich vorzustellen, dass Frankreich, Deutschland, England und kleinere europäische Mächte in einem Westeuropa ohne Grenzen und mit einigen gemeinsamen Institutionen zusammenarbeiten könnten.
Das ist nicht ohne interne Probleme verlaufen, und Großbritannien hat sich vor kurzem zurückgezogen, was das Land dazu verdammt, ein wahrscheinlich verblassender Satellit der USA zu werden. Dennoch ist es eine verblüffende Umkehrung von Jahrhunderten brutaler gegenseitiger Zerstörung, die im 20. Jahrhundert ihren Höhepunkt erreichte.
Sakwa schreibt dazu: "Was für die eine Generation eine traurige Illusion ist, wird für die andere zu einem realistischen und notwendigen Projekt". Ein Projekt, das unerlässlich ist, wenn aus dem heutigen Chaos und der Gewalt eine lebenswerte Welt entstehen soll.
Die Beziehungen zwischen China und Russland haben sich nach dem Einmarsch Russlands in der Ukraine vertieft, auch wenn es wahrscheinlich Grenzen für die Partnerschaft gibt. Gibt es in dieser strategischen Beziehung zwischen zwei autokratischen Nationen noch etwas anderes als die Sorge um die Begrenzung von Macht und Einfluss der USA? Und inwieweit könnten die USA mögliche Spannungen und Spaltungen in den chinesisch-russischen Beziehungen ausnutzen, wie sie es in der Zeit des Kalten Krieges getan haben?
Noam Chomsky: Die Bilanz während des Kalten Krieges ist lehrreich. Selbst als Russland und China kurz vor einem Krieg standen, betonten die USA immer wieder die immense Bedrohung, die von der imaginären "chinesisch-sowjetischen Allianz" ausging. Ähnlich verhielt es sich mit Nordvietnam. Seine Führer erkannten, dass ihr wahrer Feind China war: Die USA konnten Vietnam mit ihren unvergleichlichen Gewaltmitteln verwüsten, aber die USA würden am Ende wieder verschwinden. China würde immer da sein, eine ständige Bedrohung. Die US-Planer weigerten sich, zuzuhören.
Henry Kissinger erkannte die Realität im Rahmen seiner Diplomatie zu spät, nutzte die Konflikte zwischen China und Russland aber aus. Ich glaube nicht, dass daraus Lehren für heute zu ziehen sind. Die Umstände sind ganz anders.
Putin und sein Kreis scheinen Visionen von einer russischen Sphäre zu haben, die einen unabhängigen Platz zwischen dem atlantischen und dem auf China basierenden globalen System einnimmt. Das scheint wahrscheinlich nicht erreichbar zu sein. Wahrscheinlicher ist, dass China Russland als Untergebenen akzeptieren wird, der Rohstoffe, fortschrittliche Waffen, wissenschaftliche Talente und vielleicht noch mehr liefert.
Die atlantischen Mächte und ihre asiatischen subimperialen Partner werden auf der Weltbühne immer mehr isoliert. Der Globale Süden steht meist abseits, beteiligt sich nicht an den Sanktionen gegen Russland und bricht auch seine Handels- und sonstigen Beziehungen nicht ab. Trotz ernster interner Probleme geht China mit seinen umfangreichen Entwicklungs-, Investitions- und Kreditprogrammen im Ausland und seinem technologischen Fortschritt im eigenen Land weiter voran. Das Land ist im schnell wachsenden Sektor nachhaltiger Energien weit vorn und hat die Welt gerade mit der Entwicklung eines hochwertigen Chips überrascht, der wahrscheinlich erst in Jahren in die Produktion geht, aber ein zentraler Bestandteil der modernen fortgeschrittenen Wirtschaft ist.
Es gibt viele Unwägbarkeiten, aber man kann davon ausgehen, dass sich diese Tendenzen fortsetzen werden. Wenn es zu einer Zäsur kommt, dann vielleicht deshalb, weil das auf Deutschland basierende Europa nicht gewillt ist, weiterhin unter den Auswirkungen zu leiden, die eine Unterordnung im atlantischen System erzeugt. Die Vorteile eines gemeinsamen europäischen Hauses könnten immer verlockender werden, was erhebliche Folgen für die Weltordnung hätte.