Chomsky: "Viel Schlimmeres" droht angesichts Ukraine-Eskalation

Einschläge in der Ukraine. Bild: Armyinform.com.ua

Ziel ist weiter, Russland zu schwächen. Ein Wahnsinns-Kurs, sagt Noam Chomsky. Warum liberale Intellektuelle die offizielle Politik stützen, egal, was daraus folgt. (Interview Teil 1)

Der Krieg in der Ukraine läuft seit einem Jahr, und ein Ende der Kämpfe, des Leids und der Zerstörung ist nicht in Sicht. Tatsächlich könnte die nächste Phase des Krieges zu einem Blutbad werden und Jahre dauern, da sich die USA und Deutschland bereit erklärt haben, die Ukraine mit Kampfpanzern zu versorgen, und Wolodymyr Selenskyj den Westen nun auffordert, Langstreckenraketen und Kampfjets zu schicken.

Noam Chomsky ist Professor für Linguist, US-Kritiker und Aktivist. Er hat rund 150 Bücher geschrieben.

Es wird immer offensichtlicher, dass es sich hier um einen Krieg zwischen den USA und der Nato auf der einen Seite und Russland auf der anderen handelt, argumentiert Noam Chomsky im folgenden Interview, in dem er die Idee entschieden zurückweist, dass es angesichts des russischen Einmarsches in der Ukraine keine Verhandlungslösung für den Konflikt geben könne.

Das Interview mit Noam Chomsky führt der Politikwissenschaftler C.J. Polychroniou. Es erscheint in Kooperation mit dem US-Magazin Truthout, wo Sie die englische Version finden.

Der Krieg in der Ukraine ist nun ein Jahr alt, und es ist nicht nur kein Ende der Kämpfe in Sicht, sondern der Strom an Waffen aus den USA und Deutschland in die Ukraine nimmt zu. Man fragt sich, was als Nächstes auf der Agenda der Nato und der USA steht. Das ukrainische Militär zu einem Vergeltungsschlag auf Moskau und andere russische Städte ermuntern? Wie beurteilen Sie die jüngsten Entwicklungen im russisch-ukrainischen Konflikt?
Noam Chomsky: Wir sollten mit der Frage beginnen, was nicht auf der Agenda der Nato und den USA steht. Die Antwort darauf ist einfach: Bemühungen, dem Schrecken ein Ende zu setzen, bevor er noch viel schlimmer wird.
"Viel schlimmer" betrifft vor allem die zunehmende Verwüstung der Ukraine, die zwar schrecklich genug ist, aber bei Weitem nicht das Ausmaß der US-britischen Invasion im Irak oder natürlich der amerikanischen Zerstörung Indochinas erreicht, die für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg in einer eigenen Liga spielt.
Damit ist die Liste, die für uns von extremer Bedeutung sein sollte, nicht annähernd erschöpft. Um nur einige wenige Beispiele zu nennen: Im Februar 2023 schätzt die Uno die Zahl der zivilen Todesopfer in der Ukraine auf etwa 7.000. Das ist sicherlich eine starke Unterschätzung.
Wenn wir die Zahl verdreifachen, erreichen wir die Zahl der Todesopfer der von den USA unterstützten israelischen Invasion des Libanon im Jahr 1982. Multipliziert man diese Zahl mit 30, so kommt man auf die Zahl der Opfer von Ronald Reagans Gemetzel in Mittelamerika, einer der kleineren Eskapaden Washingtons. Und so geht es weiter.
Aber diese Vergleiche führen zu nichts und sind für Repräsentanten der westlichen Doktrin schäbig. Wie kann man es wagen, die Verbrechen des Westens zu erwähnen, wenn die offizielle Aufgabe darin besteht, Russland als einzigartig grausam anzuprangern! Außerdem gibt es für jedes unserer Verbrechen eine ausgefeilte Apologetik, ein Rechtfertigungs-Programm.
Die angebotenen Legitimierungen fallen aber in sich zusammen, sobald man sie einer Überprüfung unterzieht, wie vielfach, bis in die Einzelheiten hinein, dargelegt werden konnte. Aber all das ist irrelevant innerhalb eines gut funktionierenden ideologischen Systems, in dem "unpopuläre Ideen zum Schweigen gebracht und unbequeme Fakten im Dunkeln gehalten werden können, ohne dass ein offizielles Verbot nötig ist", um George Orwells Beschreibung in seiner (unveröffentlichten) Einleitung zu Farm der Tiere zu zitieren, mit der er die Situation im freien Englands beschrieb.
"Viel schlimmer" geht auch weit über die Grausamkeiten und Opfer in der Ukraine hinaus. Es betrifft zudem die Menschen, die aufgrund der Verminderung der Getreide- und Düngemittellieferungen aus der fruchtbaren Schwarzmeerregion verhungern müssen, die wachsende Gefahr, dass die Staaten die Eskalationsleiter bis zum Atomkrieg hinaufsteigen (was gleichbedeutend mit einem finalen Krieg wäre), und, was wohl das Schlimmste ist, die Kehrtwende bei den, wenn auch begrenzten Bemühungen, die drohende Katastrophe der globalen Erwärmung abzuwenden.
Letzteres müsste eigentlich nicht weiter erläutert werden. Aber leider ist dem nicht so. Wir können die Euphorie der fossilen Brennstoffindustrie über die in die Höhe schießenden Gewinne und die verlockenden Aussichten auf weitere Jahrzehnte der Zerstörung menschlichen Lebens auf der Erde nicht ignorieren, während sie ihr kaum vorhandenes Engagement für nachhaltige Energie ad acta legt und die Profite für fossile Brennstoffe in die Höhe schießen.
Und wir können den Erfolg des Propagandasystems nicht ignorieren, das es geschafft hat, die Nöte und Sorgen der allgemeinen Bevölkerung, die Opfer des Klimawandels ist, aus den Köpfen zu verbannen. In der jüngsten Pew-Umfrage über die Einstellung der US-Bürger zu dringenden Problemen der Zeit wurde nicht einmal nach einem möglichen Atomkrieg gefragt. Der Klimawandel steht ganz unten auf der Prioritätenliste; bei den Republikanern sind es 13 Prozent, die dem zustimmen.
Dabei handelt es sich doch nur um das wichtigste Thema der Menschheitsgeschichte, eine weitere unangenehme Tatsache, die effektiv unterdrückt werden konnte.
Die Umfrage fiel zufällig mit der letzten Neujustierung der Weltuntergangsuhr zusammen, die auf 90 Sekunden vor Mitternacht vorgerückt wurde. Ein weiterer Rekord, der von den üblichen Sorgen angetrieben wird: Atomkrieg und Umweltzerstörung. Wir können noch einen dritten Missstand hinzufügen: dass jegliches Bewusstsein zum Schweigen gebracht worden ist, dass unsere gesellschaftlichen Institutionen uns in diese Katastrophen treiben.
Kehren wir zum Ausgangspunkt zurück: Wie wird nun die Politik ausgerichtet, um noch "viel Schlimmeres" zu bewirken, indem der Konflikt eskaliert wird? Die offizielle Begründung von Regierungs- und Nato-Stellen lautet bis heute: Russland soll massiv geschwächt werden. Die liberale Klasse an Kommentatoren bietet den humanen Spin dafür an: Wir müssen dafür sorgen, dass die Ukraine in einer stärkeren Position für eventuelle Verhandlungen gerät.
Oder in einer schwächeren Position! Eine Alternative, die nicht in Betracht gezogen wird, obwohl sie nicht unrealistisch ist.

Mit Dämonisierungen wird von Wahnsinns-Kurs abgelenkt

Angesichts solcher schlagkräftigen Argumente müsse man sich auf die Entsendung US-amerikanischer und deutscher Panzer, wahrscheinlich bald auch von Kampfjets, und anderen Formen direkter Beteiligung der USA und der Nato am Krieg konzentrieren.
Was wahrscheinlich als Nächstes kommt, wird dabei gar nicht verheimlicht. Die Presse hat gerade berichtet, dass das Pentagon ein streng geheimes Programm zum Einsatz von "Kontrollteams" in der Ukraine fordert, um die Truppenbewegungen zu überwachen.
Außerdem wurde aufgedeckt, dass die USA Zielinformationen für alle Angriffe mit modernen Waffensystemen zur Verfügung stellen, "eine bisher nicht bekannte Praxis, die eine tiefere und operativ aktivere Rolle des Pentagons im Krieg offenbart." Irgendwann könnte es zu russischen Vergeltungsschlägen kommen, eine weitere Stufe auf der Eskalationsleiter.
Wenn der Krieg so weitergeht wie bisher, wird sich die Ansicht eines Großteils der Welt außerhalb des Westens bestätigen, dass es sich um einen US-amerikanisch-russischen Krieg mit ukrainischen Körpern – zunehmend Leichen – handelt.
Die Ansicht, um Botschafter Chas Freeman zu zitieren, dass die USA Russland bis zum letzten Ukrainer zu bekämpfen scheinen, gibt die Ansicht von Diego Cordovez und Selig Harrison wieder, dass die USA in den 1980er-Jahren Russland bis zum letzten Afghanen bekämpften.
Die offizielle Politik, die Russland ernsthaft schwächen möchte, hat durchaus Erfolge vorzuweisen. Wie viele Meinungsmacher betonen, haben die USA mit einem Bruchteil ihres astronomischen Militärbudgets in der Ukraine die militärischen Kapazitäten ihres einzigen Gegners in dieser Arena erheblich geschwächt – keine geringe Leistung.
Ein Glücksfall für wichtige Sektoren der US-Wirtschaft, einschließlich der fossilen Brennstoff- und der Rüstungsindustrie. Auf geopolitischer Ebene wird damit – zumindest vorübergehend – ein Problem gelöst, das während der gesamten Nachkriegszeit ein Hauptanliegen war: sicherzustellen, dass Europa im Rahmen des Nato-Systems unter amerikanischer Kontrolle bleibt, statt einen unabhängigen Kurs einzuschlagen und sich enger mit seinem rohstoffreichen Handelspartner im Osten zu integrieren.
Vorübergehend ist das Problem gelöst. Es ist nicht klar, wie lange das komplexe, auf Deutschland basierende Industriesystem in Europa bereit sein wird, den Niedergang, ja sogar eine gewisse Form der Deindustrialisierung hinzunehmen, indem es sich den USA und ihrem britischen Lakaien unterordnet.
Gibt es irgendeine Hoffnung für diplomatische Bemühungen, mit denen dem kontinuierlichen Abdriften in die Katastrophe, in Hinsicht auf die Ukraine und darüber hinaus, entkommen werden kann? Angesichts des mangelnden Interesses Washingtons gibt es nur wenige Medien, die dem nachgehen.
Aber es ist genug aus ukrainischen, US-amerikanischen und anderen Quellen durchgesickert, die recht klarmachen, dass es Möglichkeiten gegeben hat, sogar noch im vergangenen März. Seitdem haben wir an dieser Stelle immer wieder darauf hingewiesen. Jetzt kommen immer wieder neue Belege mit unterschiedlicher Qualität ans Tageslicht.
Gibt es noch Möglichkeiten für Diplomatie? Je länger die Kämpfe andauern, desto mehr verhärten sich die Positionen. Im Augenblick scheinen die ukrainische und die russische Position unversöhnlich zu sein.
Das ist keine neue Situation in der Weltpolitik. Es hat sich schon oft gezeigt, dass "Friedensgespräche möglich sind, wenn der politische Wille vorhanden ist, sich darauf einzulassen", so die Einschätzung zweier finnischer Analysten. Sie skizzieren Schritte, die unternommen werden können, um den Weg zu einer weiteren Annäherung zu ebnen.
Sie weisen zu Recht darauf hin, dass der politische Wille in einigen Kreisen vorhanden ist: Dazu gehören der Vorsitzende der Generalstabschefs der US-Streitkräfte und hochrangige Persönlichkeiten im Council of Foreign Relations.
Bislang sind jedoch Verunglimpfung und Dämonisierung die bevorzugte Methode, um davon abzulenken, wie sich die politisch Verantwortlichen einem Kurs Richtung dem "viel Schlimmerem" verpflichtet haben, oft begleitet von hochtrabender Rhetorik über den kosmischen Kampf zwischen den Mächten des Lichts und der Finsternis.
Diese Rhetorik ist all jenen nur allzu vertraut, die sich mit den "Heldentaten der USA" überall auf der Welt befasst haben. Erinnern wir uns zum Beispiel an Richard Nixons Aufruf an das amerikanische Volk, sich ihm bei der Zerstörung Kambodschas anzuschließen:

Wenn sich die mächtigste Nation der Welt, die Vereinigten Staaten von Amerika, im Ernstfall wie ein bemitleidenswerter, hilfloser Riese verhält, werden die Kräfte des Totalitarismus und der Anarchie freie Nationen und freie Institutionen in der ganzen Welt bedrohen.

Ein ständig wiederholter Chorgesang.
Der Einmarsch Putins in die Ukraine hat eindeutig in eine Sackgasse geführt. Aber wie bei jedem Krieg gibt es von allen Seiten Unehrlichkeit, Propaganda und Lügen. In einigen Fällen ist die Denkweise einiger Kommentatoren geradezu irrsinnig. Dabei gibt sie sich als analytischer Diskurs aus, der dann von Leitmedien der Welt veröffentlicht wird. "Russland muss diesen Krieg verlieren und sich entmilitarisieren", argumentierten die Autoren eines kürzlich in Project Syndicate erschienenen Artikels. Außerdem behaupten sie, der Westen strebe nicht an, dass Russland besiegt wird. Und sie zitieren Sie als einen derjenigen, die naiv genug sind zu glauben, dass der Westen verantwortlich für die Bedingungen ist, die Russlands Angriff auf die Ukraine provoziert haben. Was sagen Sie zu dieser Analyse des laufenden Krieges in der Ukraine, die vermutlich nicht nur von Ukrainern, sondern auch von vielen anderen in Osteuropa und den baltischen Staaten geteilt wird, ganz zu schweigen von den Vereinigten Staaten?
Noam Chomsky: Es hat wenig Sinn, mit irrwitzigen Vorstellungen Zeit zu verschwenden – Vorstellungen, die in diesem Fall auch die Zerstörung der Ukraine und großen Schaden weit darüber hinaus bedeuten würden.
Aber es ist kein völliger Irrsinn, der hier verbreitet wird. Die Kritiker haben recht, was mich betrifft, obwohl sie hinzufügen könnten, dass ich mit fast allen Historikern und einer Vielzahl prominenter politischer Intellektueller, die seit den 90er-Jahren den Verlauf kommentieren, einer Meinung bin, darunter führende US-Hardliner und Führungspersönlichkeiten des diplomatischen Corps, die sich mit Russland auskennen, von George Kennan und Reagans Botschafter in Russland, Jack Matlock, bis hin zu Robert Gates, dem Falken, der Verteidigungsminister unter Bush II war, und dem derzeitigen CIA-Chef, und viele mehr.
Die Liste umfasst tatsächlich jeden gebildeten Menschen, der in der Lage ist, die sehr klaren historischen und diplomatischen Dokumente unvoreingenommen zu überprüfen.
Es lohnt sich, ernsthaft über die Geschichte der letzten 30 Jahre nachzudenken, seit Bill Clinton einen neuen Kalten Krieg startete. Er brach das feste, unmissverständliche Versprechen der USA an Michail Gorbatschow, dass …

wir die Notwendigkeit verstehen, die mit Zusicherungen an die Länder im Osten verbunden ist. Wenn wir eine Präsenz in Deutschland aufrechterhalten, das Teil der Nato ist, wird es keine Ausdehnung der Nato-Zuständigkeit für Nato-Streitkräfte um einen Zentimeter Richtung Osten geben.

Denjenigen, die die Geschichte ignorieren wollen, steht es frei, das zu tun, allerdings um den Preis, dass sie nicht verstehen, was jetzt geschieht und wie die Aussichten sind, "viel Schlimmeres" zu verhindern.

Übersetzung: David Goeßmann

Hier geht es zum zweiten Teil des Interviews mit Noam Chomsky: "Warum Rufe nach einer stärkeren Nato falsch und verlogen sind".

Noam Chomsky (geb. 1928) ist emeritierter Professor für Linguistik und Philosophie am MIT, Lehrstuhlinhaber für Linguistik an der Universität von Arizona, wo er auch das Programm für Umwelt- und soziale Gerechtigkeit leitet. Chomsky ist einer der meistzitierten Wissenschaftler der modernen Geschichte und kritischer Intellektueller, der von Millionen von Menschen weltweit rezipiert wird. Er hat mehr als 150 Bücher, wissenschaftliche Standardwerke und viele Bestseller in den Bereichen Linguistik, politisches und soziales Denken, politische Ökonomie, Medienwissenschaft, US-Außenpolitik und Weltpolitik sowie Klimawandel veröffentlicht. Zusammen mit Vijay Prashad ist von ihm gerade erschienen: "The Withdrawal. Iraq, Libya, Afghanistan, and the Fragility of U.S. Power".