Christian Lindner auf der Suche: Wer ist die "arbeitende Mitte"?

Der Finanzminister will der Mitte helfen und die kalte Progression neu justieren. Was ist mit den Rändern? Die Reichen und die Übergewinne sollen von der Steuer verschont bleiben. Und die Niedriglöhner?

Es gehe um Geringverdiener, aber auch die "arbeitende Mitte" hat Finanzminister Christian Lindner gesagt und angekündigt, die sogenannte kalte Progression anzufassen. Die schröpft dann besonders, wenn die progressive Steuerlast nicht an die Preissteigerungen angepasst wird. Wovon man gegenwärtig ausgehen kann. "Inflation frisst Gehaltserhöhung", ließe sich das einfach umschreiben.

Interessant an Lindners Ankündigung ist der nun häufig von ihm im Mund geführte Begriff der "arbeitenden Mitte". Was und wen immer er damit meint, eine Mitte setzt Ränder voraus, sonst wäre es ja keine Mitte. Oder, wenn man sie sich nicht als Mittelpunkt eines Kreises vorstellt, ein Oben und ein Unten, vorn oder hinten.

Gegenwärtig beginnt man mit 14 Prozent Steuer auf Einkommen ab 9.985 Euro und ab 277.826 Euro bis unendlich beträgt die Einkommenssteuer 45 Prozent. Grüne und SPD sagen, eine Abschaffung der kalten Progression würde ihrer Ansicht nach eher höheren Einkommen zugutekommen. Jedenfalls mehr als den kleinen und mittleren.

Der Ökonom Joseph A. Schumpeter nannte Besteuerung den "Donner der Weltgeschichte". Das sieht Christian Lindner vielleicht genauso, versteht darunter aber etwas anderes. Trotz stetig steigender Ungleichheit verzichten fortgeschrittene Demokratien, wie sie die Bundesrepublik eine ist, auf höhere Reichensteuern. Die ist mit einer FDP in der Regierung nun auch wahrlich nicht zu machen.

Das Erstaunliche an der Reichensteuer

Das Erstaunliche daran ist, dass eine wirkliche Reichensteuer sehr wenige Menschen beträfe. Schließlich befindet sich die Verteilung des Reichtums in einer solchen Unwucht, dass es an möglicherweise ausbleibenden Wähler:innenstimmen, täte man den sehr Vermögenden so etwas an, nicht liegen kann.

Allerdings gibt es natürlich organisierten Widerstand seitens der Unternehmen, der weit über klassische Lobbyarbeit hinausgeht, es gibt ein über Jahre formuliertes und verbreitetes Framing (höhere Steuern für Reiche vernichten Arbeitsplätze oder: Unternehmen verlassen das Land, wenn sie zu viel Steuern zahlen müssen).

2017 veröffentlichte der Soziologe Cristobal Young eine Studie, für die 3,7 Millionen Einkommensmillionäre in den USA und deren "Migrationsverhalten" angeschaut wurden. 2,4 Prozent wechselten innerhalb eines Jahres den Bundesstaat. 84 Prozent der Welt-Milliardäre, so eine Untersuchung der Forbes-Liste, lebten noch in ihrem Geburtsland, nur fünf Prozent seien ausgewandert, nachdem sie reich geworden seien.

Aber was einmal zur Wahrheit erklärt wurde, ist nur schwer aus der Welt zu kriegen. Das Kapital flieht und mit ihm fliehen die Reichen, wenn höhere Steuern drohen. Eine Bambi-Geschichte.

Zurück zur "arbeitenden Mitte"

Auch wenn Christian Lindner diese ominöse Gruppe zum vorrangigen Ziel seiner Bemühungen macht: Die Ränder werden größer. Nicht erst seit der Pandemie oder mit Beginn des Ukraine-Krieges. Seit 1993 fallen hierzulande die Realeinkommen, nimmt die Lohnspreizung sowohl innerhalb der Unternehmen als auch zwischen den Branchen stetig zu.

Produktivität und Einkommen lösen sich voneinander, und man kann sagen, dass sie sich seit den 1990er Jahren entkoppeln. Produktivität und Wertschöpfung stiegen, Reallöhne sanken. Das bekam besonders die sogenannte "untere Mittelschicht" zu spüren. Also möglicherweise Lindners "arbeitende Mitte".

Von der möglichen Abschaffung oder temporären Abschaffung oder Neujustierung der kalten Progression haben die ganz unten wenig oder, wenn sie ganz und gar prekär sind, gar nichts. Aber Christian Lindner spricht ja von jener Mitte, zu der er möglicherweise die 7,8 Millionen Niedriglohnjobs, die es 2021 gab, nicht zählt. Kann man mit Niedriglohn arbeitende Mitte im Sinne des Finanzministers sein? Da arbeitet man doch nur. Aber eben eher am Rand der Existenz.

Lindner hält gleichzeitig an der Rückkehr zur Schuldenbremse fest. Demzufolge ist es nur logisch, dass seine Versprechen an die Geringverdiener und die arbeitende Mitte – den Unterschied macht er ja zumindest – nicht allzu viel bringen können.

Krisenpolitik à la FDP: Es gibt keine Übergewinne, sondern nur Gewinne

Denn er sagt auch, eine sogenannte Übergewinnsteuer für Unternehmen, die in der aktuellen Situation besonders hohe Gewinne erwirtschaften, wie sie unter anderem sogar die SPD immer wieder ins Spiel bringt, sei mit ihm nicht zu machen. Es gebe nach dem Steuerrecht, sagt Lindner, keine Übergewinne, sondern nur Gewinne.

Der Staat weiß nicht, was ein Übergewinn ist.

Da hat er recht. Im Moment weiß der Staat das nicht.

In einem Wirtschaftssystem, das darauf aufbaut, dass ein Teil der lebendigen Arbeit angeeignet wird, um ihn in Gewinn umzumünzen, kann ein solcher Gewinn nicht per se zum Übergewinn erklärt werden. Egal, wie hoch er ist. Das wäre schon ein Eingriff in die DNA einer Wirtschaftsweise, die – egal, wie gut das abgefedert ist – auf Ausbeutung beruht.

"Übergewinne werden erzielt, wenn eine Gesamtkapitalrendite erwirtschaftet wird, die größer ist als die Kapitalkosten der Forderungen der Unternehmung. Sie stehen als Residualgröße den Eigenkapitalgebern zu", lautet die Definition.

Es wäre also eine Frage der politischen und gesellschaftlichen Übereinkunft, auszuhandeln, ab wann diese Residualgröße den Eigenkapitalgebern nicht mehr zusteht. Zum Beispiel, weil eine besondere Krisensituation zu verzeichnen ist.

Im strengen Lindnerschen Sinne gibt es auch kein Übergewicht, sondern nur Gewicht. Einigt man sich jedoch darauf, dass es beim Fliegen von A nach B sehr wohl Übergewicht beim Gepäck geben kann, für das dann extra zu zahlen ist, weil es gute Gründe gibt, das so zu regeln, hat man eine Übereinkunft.

Der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages beschreibt eine Abgabe auf Übergewinn als Steuer, die den über einen "Normalgewinn" hinausgehenden Gewinn belastet. In der Corona-Pandemie, als die Debatte aufkam, hätte man dies bestimmen können, indem Gewinne aus Vorkrisen (oder jetzt Vorkriegs-)zeiten herangezogen werden, um daraus Renditen definieren zu können, die als "normal" gelten.

Die Ökonomin Dominika Langenmayr wiederum erklärte in der Zeitschrift Capital, warum sie es eher mit Lindner hält:

…es sollte keine politische Entscheidung sein, welche Unternehmen böse oder gute Gewinne machen und dass man einzelne Branchen auf einmal höher besteuert, egal ob das jetzt die Mineralölbranche, die Waffenindustrie oder die chemische Industrie ist.

Denn Übergewinne setzten das Signal, dass dieser Markt attraktiv ist und andere in ihn eintreten sollten. Die Existenz von Übergewinnen sei also wichtig für das Funktionieren des Marktes.

So wichtig vielleicht wie Randexistenzen für die "arbeitende Mitte", die sich ja an irgendwas festhalten muss, um als solche von einem Finanzminister verortet werden zu können.

Kathrin Gerlof ist freie Autorin, Journalistin und Chefredakteurin der monatlich erscheinenden Wirtschaftszeitung OXI Wirtschaft anders denken.