Clash im Internet?
Reflexionen zur Formatierung der Entwicklungsländer, ausgehend von der "Sinisierung" des Cyberspace
Man weiß: Eine nicht formatierte Diskette erkennt der Computer nicht. Das ist auch der Grund der bekannten Disketten-Formatierung, und zwar nach einer bestimmten Norm. Diese "Regel" ist - im übertragenen Sinn - für den Anschluss ganzer Regionen und Gesellschaften unserer Welt an das Internet gültig. Man hat aber nur eine Möglichkeit: Entweder lässt man sich "formatieren"; der Standard des Systems Internet wird einen akzeptieren. So kann man sich unter Anerkennung dieses Standards an das System anschließen. Oder aber: Man lehnt die "Formatierung" ab; dann kann man allerdings nur draußen vor der Tür bleiben, da das System einen nicht erkennen kann.
Für Manuel Castells (The Rise of the Network Society. Information Age.) hat die Globalisierung mit ihrem Informationskapitalismus (Information Capitalism) eine Art "Vierte Welt" hervorgebracht. Diese so genannte "Vierte Welt", schreibt Castells, sei die Welt jener wirtschaftlich rückständigen Regionen und Länder, deren kulturelle Werte nicht vom Informationskapitalismus anerkannt werden könnten, da der Westen oder die "Räuberstaaten" (predatory states) gegen die "subalternen" Kulturen der "Vierten Welt" voreingenommen, wenn nicht sogar herablassend eingestellt seien. In der Tat sind im Zuge des "Globalisierungsprozesses" die Werte, Normen und Spielregeln des westlich geprägten Informationskapitalismus so dominant geworden, dass scheinbar alle Länder mit ihren sehr unterschiedlichen Kulturtraditionen sich daran halten müssen.
Angesichts des dem Internet zuzuschreibenden soziokulturellen Einflusses oder der Infiltration der westlichen Kultur im Internetzeitalter befinden sich also fast alle Entwicklungsländer mehr oder minder in einem Dilemma: Einerseits können sie sich eine Ablehnung der "Formatierung" offenbar nicht leisten, weil eine Politik des entschiedenen Widerstands gegen die "Formatierung" wirtschaftlich und politisch nachteilige Konsequenzen haben könnte. Und sie gelingt ihnen vor allem auch darum kaum, weil die "Formatierung" im Sinne der Durchsetzung westlich-konsumistischer Werte auch eine Frage der sich weltweit medial durchsetzenden Diskursformen, inklusive der visuellen Sprache der Medien (auch jener des Internet!).
Aber das "Sich-formatieren-lassen" ist in gewisser Hinsicht auch eine unangenehme Sache. Man tut es manchmal recht unfreiwillig, unterwirft sich jedoch der herrschenden Auffassung, im Zuge der Globalisierung müsse jedes Land oder jede Region die eigene, herkömmliche Kultur mit einer einheitlichen Norm messen und messen lassen. Dieser "TÜV-Test" führt offenkundig zu einer Identifikation - zu einer Identifikation mit jener Norm, die von den vermeintlich Stärkeren geschaffen ist. Andererseits aber, so schreibt Derrick de Kerckhove in seinem Artikel Jenseits des Globalen Dorfes:
Je bewusster wir uns der globalen Zusammenhänge werden, desto eifriger sind wir dabei, unsere regionale Identität zu wahren - daher das Paradoxe am globalen Dorf.
Wo es in diesem Kontext, statt zu gleichberechtigtem Austausch, zu einem Aufeinanderprall unterschiedlicher kultureller Normen und Werte kommt, gewissermaßen einer kulturellen Attacke seitens der die Globalisierung vorantreibenden Kräfte, sehen dann manche schnell einen Clash of Civilizations: quasi eine Kraftprobe zwischen unterschiedlichen Paradigmen und Wertvorstellungen. In solchen Kontexten ist eine durch technologische Standards und damit einhergehende kulturelle Bedeutungen erzwungene "Identifikation" oft ein Prozess neuer Identitätsbildung, die mit soziokulturellen Erschütterungen des Althergebrachten und Spezifischen, ja mit sozialen Verwerfungen, um nicht zu sagen, mit Qualen, verbunden ist.
Trojanisches Pferd?
Scheinbar bedeutet das Informationszeitalter den Zwang zur Annahme oder Entwicklung einer neuen Norm, an der nun alles gemessen wird. Bis zum Jahr 2000 betrugen die chinesischsprachigen Online-Angebote nur ca. 4% der Angebote an weltweiten Websites, während die chinesischsprachige Bevölkerung ca. 30% der Menschen auf unserer Erde ausmacht. Dieser Digital Divide tut nicht wenigen der von der "Modernisierung" ideologisch umgekrempelten Chinesen weh.
Entsprechend wird inzwischen oft behauptet, dass aufgrund der kulturellen Bedingtheit jeder Technologie deren Übernahme auch die Übernahme der entsprechenden kulturellen Implikationen bedeute. Die Etablierung des Internet in China müsse demzufolge mit einer Übernahme westlicher Wertvorstellungen einhergehen. China würde also im Zuge seiner technologischen Modernisierung automatisch zu einem Bestandteil des von Marshall McLuhan eingeführten global village nach westlichem Vorzeichen. Es ist dies wirklich - bei aller der jüngsten Debatte in China einbeschriebenen Fetischisierung und Überbewertung von Technologien - ein ernstes Thema: Ob man will oder nicht, scheint den meisten die Globalisierung eine unwiderrufliche Tendenz zu sein. Das Reich der Mitte will dabei - glaubt man den politischen Autoritäten, den Medien und inzwischen auch dem Mann auf der Straße - keine ausgeschlossene "Insel", mithin keine Ausnahme, bleiben.
Während inzwischen der unbestrittene Globalisierungsfaktor Internetkommunikation immer mehr Menschen fasziniert und anscheinend sogar die Lebensweise mancher Menschen verändert, haben nicht wenige Chinesen, allem voran die als "altertümlich" apostrophierten kritischen Intellektuellen längst den "Wind der Geschichte" gespürt und über die Konsequenzen des vom Internet ausgehenden "Effekts" auf die spezifische Kultur Chinas reflektiert. Mehr noch: Manche haben sogar eine Art Kulturkrise herausgefühlt, und es gibt inzwischen nicht wenige, die meinen, dass im Informationszeitalter die geographischen Hindernisse des Kulturaustauschs beseitigt seien und der sich unglaublich beschleunigende und immer massivere kulturelle Ansturm des Westens allmählich die Kulturen der Dritten Welt zersetze oder marginalisiere. Die in dem medialen Ansturm implizierten, sehr partikulären und einer bestimmten Zeit und Gesellschaftsformation zugehörigen westlichen Normen und Werte erwiesen sich gleichsam als herangaloppierendes "Trojanische Pferd"; sie seien Ausdruck eines westlichen kulturellen Kolonialismus.
Sprachbarrieren im globalen Dorf
"Das Computer-Englisch hat allen den Krieg erklärt, die dieser Sprache nicht mächtig sind", schreibt Hu Yong in seinem Buch Ein andersartiger Raum (Bielei Kongjian). "Lerne unsere englische Sprache, damit wir dich verstehen können - so heißt es. Sonst werden deine Worte für immer auf verlorenem Posten bleiben."
In der chinesischen Internet-Debatte betrachtet man die vorherrschende Nutzung des Englischen nicht selten als Ausdruck einer Art "Sprachhegemonie", als "imperialistische Spur im Cyberspace", ja als Reflex eines "Kulturimperialismus". Angesichts der Tatsache, dass auch in Asien die englische Sprache und nicht die geographische und kulturelle Situierung der Nutzer die Verhältnisse im Cyberspace determiniere, warnte man in China schon früh vor "schlimmen Folgen" der Dominanz des Englischen und der englischsprachigen Anbieter.
Doch auch diejenigen - Traditionalisten wie Linke -, die in China lauthals "No English, no business, no net" schreien, stehen bei aller Vergegenwärtigung des Verlusts kultureller Eigenheiten, mitten in der lebendigen, sich verändernden Geschichte. In der Tat: Heute kommt kaum noch ein Intellektueller, ein Forscher, ein Kunstschaffender ohne das Internet aus. Und dann, im Cyberspace, einbezogen in die Gegebenheiten der Internetkommunikation, sind sie - wie viele andere Chinesen - immer wieder mit einer "Sprachbarriere", den Mühen des Zurechtkommens mit dem Englischen, konfrontiert. Ohne englische Sprachkenntnisse fühlt man sich im Cyberspace nicht wohl. Aber nicht nur dort.
Ein Amerikaner sagte neulich, ganz im Ernst, einem chinesischen Journalisten: "Ich verstehe kein einziges Wort Chinesisch. Aber ich habe ohne großes Problem hier ein paar Jahre gearbeitet und gelebt." Er meint natürlich: In einer der Großstädte Chinas. Ein Chinese in Amerika hätte sich zweifellos ohne englische Sprachkenntnisse nicht so lange Zeit ohne Probleme durchschlagen können, außer vielleicht in China Town. Nehmen wir ein anderes Beispiel: Ein chinesischer Künstler kam nach langer Zeit aus Amerika zurück. Als er gefragt wurde, wie er sich dort ohne englische Sprachkenntnisse so lange Zeit aufhalten konnte, war er nicht so cool und selbstsicher wie jener Amerikaner. Seine Antwort war eine rhetorische Frage: Leben dort nicht auch Taubstumme? Angesichts seines verlegenen Lächelns spürt man, ihm war die Frage unangenehm.
In der chinesischen Debatte über das, was man als Problem der Dominanz der englischen Sprache im Internet thematisiert, hören wir manchmal eine ziemlich melancholische Stimme: Die erlebte "Invasion" durch eine Sprache verletze sicher nicht das Völkerrecht. Aber für eine unabhängige Nation sei die von dieser "Invasion" verursachte Verletzung des kulturellen Selbstbewusstseins oder Selbstverständnisses vielleicht noch größer als die durch einen Krieg ausgelöste Traumatisierung.
Besonders in der gegenwärtigen Diskussion über die hybride Sprache im chinesischen Internet, vor allem in den chatrooms, sind solche klagenden Stimmen oft zu hören. Die Angehörigen der Internetgeneration dagegen - diese new species, wie man oft sagt - schwärmen vom "American way of life", pflegen das, was man inzwischen in China einen e-lifestyle nennt und würzen ihre chinesische Sprache mit Versatzstücken eines "Internet-Jargons".