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Colonia Dignidad und deutsche Justiz: kein Wille zur Aufklärung

Massengrab auf dem Gelände der Colonia Dignidad, hier mit Bilden von Verschwundenen. Bild: Zazil-Ha Troncoso 2, CC BY-SA 4.0

Die Juristische und parlamentarische Aufarbeitung der Verbrechen in der ehemaligen Deutschensiedlung in Chile steht aus. Ein bearbeiteter Buchauszug

In der ehemaligen Deutschensiedlung Colonia Dignidad (CD) wurden jahrzehntelang schwere Straftaten und Menschenrechtsverletzungen begangen: Siedlungsbewohner:innen wurden ihrer Freiheit beraubt, sexueller Gewalt ausgesetzt, sie wurden misshandelt und mussten unentlohnt arbeiten; unter der Militärdiktatur (1973-1990) diente das Terrain im Süden Chiles als Folter- und Tötungsstätte. Die bundesdeutsche Diplomatie blieb lange untätig.

Auch die juristische Aufarbeitung der CD-Verbrechen war langwierig und hat bislang erst einen geringen Teil der Einzeltaten untersucht. Während es in Chile erst ab 1996 und verstärkt nach 2005 gelang, diverse Verbrechenskomplexe zu untersuchen und einige Täter:innen dafür zur Rechenschaft zu ziehen, blieben die strafrechtlichen Untersuchungen in der Bundesrepublik bis heute ergebnislos.

Die für die Verfahren zuständige Justiz von Nordrhein-Westfalen eröffnete zwar ab 1961 diverse Ermittlungsverfahren. Diese wurden jedoch allesamt mit Verweis auf einen fehlenden hinreichenden Tatverdacht eingestellt.


Bei diesem Text handelt es sich um einen bearbeiteten Buchauszug aus:

Jan Stehle: Der Fall Colonia Dignidad [1]- Zum Umgang bundesdeutscher Außenpolitik und Justiz mit Menschenrechtsverletzungen 1961-2020

Transcript-Verlag, 1. Oktober 2021, 644 Seiten, ISBN: 978-3-8394-5871-6


Viele von der chilenischen Justiz gesuchte Beschuldigte haben sich daher in den letzten Jahrzehnten nach Deutschland abgesetzt, um sich den chilenischen Verfahren zu entziehen. Die Bundesrepublik liefert dem Grundgesetz entsprechend keine deutschen Staatsbürger:innen an Staaten außerhalb der EU aus und ist so zum sicheren Hafen für vermeintliche Täter:innen der CD geworden.

Ein Großteil der Verbrechen der CD wurde von deutschen Staatsbürger:innen auf chilenischem Staatsgebiet begangen, Opfer dieser Taten waren Chilen:innen und Deutsche. Aufgrund dessen stellt sich die Frage, welche Justiz für die Strafverfolgung zuständig ist.

Nach dem Territorialitätsprinzip war und ist die chilenische Justiz für die Untersuchung und Ahndung sämtlicher auf chilenischem Territorium begangener Taten zuständig. Gleichzeitig kann nach dem sogenannten Personalitätsprinzip bei Taten im Ausland, die von deutschen Staatsangehörigen oder gegen deutsche Staatsangehörige begangen wurden, das deutsche Strafrecht zur Anwendung kommen.

Daher haben wir es bei vielen der CD-Verbrechen - zumindest theoretisch - also mit einer doppelten Zuständigkeit von chilenischer und bundesdeutscher Justiz zu tun. In der Praxis hat die Frage der Zuständigkeit den Fall CD in allen Phasen begleitet.

Das Fehlen eines Rechtshilfeabkommens erschwerte eine Kooperation zwischen den Justizapparaten beider Länder. Die Folge waren langwierige und bürokratische Rechtshilfeersuchen in beide Richtungen. Diese brachten nur selten Fortschritte, führten jedoch oftmals zu einem jahrelangen Stillstand der Ermittlungen. Unterschiedliche Rechtskulturen führten zudem dazu, dass beide Seiten sich regelmäßig über die vermeintliche Untätigkeit der jeweils anderen Seite beschwerten. Auch Auseinandersetzungen über Formalien, etwa über die von Übersetzungen, zogen die Verfahren in die Länge.

Diese gegenseitigen Zuweisungen der Verantwortlichkeiten haben die Aufarbeitung der Verbrechen erschwert und teilweise blockiert. Davon profitierten die der Taten Beschuldigten aus den Reihen der CD.

Hinzu kamen auf beiden Seiten wechselnde politische Interessen und Allianzen. Eine Untersuchung und Ahndung der Verbrechen war beispielsweise zwischen 1973 und 1990 aufgrund der engen Zusammenarbeit zwischen der Militärdiktatur und der CD-Führung in Chile nahezu unmöglich.

Auch in den Jahren danach verhinderten die im Rahmen der Transición [chil. Übergang zur Demokratie] paktierten Machtverhältnisse eine Aufarbeitung der während der Militärdiktatur begangenen Menschenrechtsverbrechen. Erst ab 1996 führten die Ermittlungen wegen des sexuellen Missbrauchs an chilenischen Kindern zu einer Schwächung des CD-Unterstützungsnetzwerks und zu einem zaghaften Fortgang der Ermittlungen. Am Zustandekommen der Festnahme von Paul Schäfer 2005 in Argentinien waren weder chilenische noch deutsche Ermittler:innen beteiligt, sie erfolgte aufgrund privater Ermittlungen von Aufklärer:innen. Überhaupt scheint es seitens beider Staaten nur selten tatsächliche Fahndungen nach per Haftbefehl ausgeschriebenen Tatbeschuldigten im Ausland gegeben zu haben: Zwar wurde Paul Schäfer von der bundesdeutschen Justiz zwischen 1961 und 1970 und ab 1997 per Haftbefehl gesucht. Es wurde jedoch keine Zielfahndung nach ihm durchgeführt. Dies bedeutet, dass die bundesdeutsche Justiz offensichtlich keinerlei Anstrengungen zu seiner Festnahme unternahm und abwartete, ob er sich stellte oder beispielsweise bei einem Grenzübertritt festgenommen wurde - was nicht zu erwarten war.

Angesichts der Dimension der ihm vorgeworfenen Verbrechen erscheint dies absolut unangemessen. Auch die chilenische Justiz fahndete nicht eingehend im Ausland und verhinderte nicht, dass diverse Beschuldigte (oder wie im Fall Hartmut Hopp bereits Verurteilte) trotz Ausreiseverbots das Land verlassen und nach Deutschland reisen konnten.

Investitionen in juristische Gegenwehr

Die CD hat die juristische "Gegenarbeit" immer als zentrales strategisches Element begriffen und "investierte" umfangreich in anwaltliche Vertretung - Teile der Postsektengemeinschaft tun das bis heute. Opfer hatten hingegen nur begrenzten Zugang zu Rechtsanwält:innen, wurden eingeschüchtert und erhielten von behördlicher Seite kaum Unterstützung, um gegen die CD vorzugehen oder sich gegen sie zu wehren.

Ab den 1960er Jahren ergriff die CD aktiv die Initiative, um aufklärerische Bestrebungen zu diskreditieren: durch Verleumdungsklagen, Zivilklagen und Lobbyarbeit bei Richter:innen und Justizbeamt:innen. Sie nahm für ihre Strategie dutzende renommierte Anwält:innen in der Bundesrepublik und Chile unter Vertrag, nutzte alle Rechtsmittel aus und verzögerte und verhinderte so die Aufklärung.

Die Politik versteckte sich hinter der juristischen Ebene, um das Ausbleiben eigener Aufklärungstätigkeit zu rechtfertigen. Insbesondere das Auswärtige Amt (AA) begriff das Thema lange Zeit als Auseinandersetzung zwischen privaten Akteur:innen und griff nicht in diese ein.

1985 entschied sich das AA erstmals, die Berichte der aus der CD Geflüchteten Hugo Baar und Georg und Lotti Packmor der Justiz zu übersenden. Dies führte zur Einleitung des Bonner Ermittlungsverfahrens, das - zumindest formell - bis 2010 geführt wurde.

Das Warten auf den Ausgang der oftmals jahrzehntelang schwebenden Verfahren diente den politischen Behörden als Rechtfertigung, um nicht selbst tätig zu werden.

Obwohl das AA keine ständige Detailkenntnis über den Fortgang der Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Bonn hatte, so kannte sie doch aus den übersandten Einstellungsverfügungen und weiteren Quellen die Grundhaltung der Bonner Staatsanwälte: Diese hielten die Vorwürfe für nicht erwiesen und argumentierten, es könne sich dabei lediglich um gruppeninterne Streitigkeiten handeln.

Sie bewerteten detailreiche Schilderungen über Verbrechen von Personen, die aus der CD geflüchtet waren, gleich stark wie unter Druck durch die CD-Führung herbeigeführte eidesstattliche Versicherungen. In diesen bekundeten Menschen, die die Justiz niemals zu Gesicht bekam und die in der CD Verbrechen ausgesetzt waren, sie seien frei und es ginge ihnen gut.

Die Bonner Staatsanwaltschaft begriff die CD nicht als kriminelle Gruppierung. Diese Haltung hatte weitreichende Konsequenzen: Fast drei Jahrzehnte hindurch (1970 bis 1997) gab es keinen Haftbefehl gegen Paul Schäfer und andere Personen aus der Führung der CD.

Diese konnten sich frei bewegen und gleichzeitig verkünden, alle Vorwürfe gegen sie seien bösartige Verleumdungen. Der 1997 gegen Paul Schäfer erlassene Haftbefehl kam erst nach einem chilenischen Fahndungsersuchen und hatte keinerlei Konsequenzen, da keine Zielfahndung gegen Schäfer eingeleitet wurde.

Gegen die CD-Mitglieder, die den Untergrund Schäfers in Argentinien organisierten, Kinder entführten, falsche Papiere besorgten und Gelder in verschiedenen Ländern versteckten, wurde von deutscher Seite gar nicht gefahndet.

Schäfer konnte sich so in seinem Versteck sicher fühlen, bis Aufklärer:innen ihn auffanden und die argentinische Kriminalpolizei kontaktierten, die ihn festnahm. Bis zur Einstellung des letzten Ermittlungsverfahrens 2019 verfolgte die NRW-Justiz eine Haltung, die CD-Verbrechen als Einzeltaten begriff, die in einem fernen Land begangen wurden und in Teilen bereits verjährt waren.

Eigene Ermittlungen zu den Taten waren begrenzt oder unterbleiben ganz. Zwar wurden Rechtshilfeersuchen an die chilenische Justiz gerichtet, deren Urteile und Feststellungen jedoch für die hiesigen Verfahren nicht verwertbar waren. Denn sie kamen in einer anderen Rechtskultur und mit anderem Fokus zustande.

Chile konzentrierte die eigenen Ermittlungen ab 1996 auf die Person von Paul Schäfer und untersuchte im Verfahren um sexuellen Missbrauch in der CD das System, das Schäfer die Verbrechen ermöglichte, indem es ihm die Kinder zuführte.

Dieses System organisierte die Entführung sowie Anwerbung von Kindern, die formale Absicherung durch von deren Eltern unterschriebene Einverständniserklärungen, Vollmachten und Sorgerechtsübertragungen - die oft unter Vorspiegelung falscher Tatsachen auf betrügerische Art und Weise zustande kamen. Hinzu kam die Sedierung der Missbrauchsopfer vor und nach den Taten. Die chilenische Justiz verurteilte 21 Personen, darunter 14 Colonos und sieben Unterstützer:innen der CD, wegen dieser Taten.

Flucht vor der Justiz nach Deustchland

Weitere entzogen sich jedoch der chilenischen Justiz durch Flucht nach Deutschland. Die NRW-Justiz erkannte dieses System nicht und stellte alle eigenen Ermittlungen wegen fehlenden hinreichenden Tatverdachts ein. Sie argumentierte, die Beweislage sei für hiesige Verfahrensstandards nicht ausreichend. Gleichzeitig bemühte sie sich kaum darum, eigene Erkenntnisse über die Taten zu erlangen.

Strukturermittlungen zur tieferen Durchleuchtung der Gruppierung, ihrer Mitglieder und Zusammenhänge unterblieben. Heute leben diverse CD-Mitglieder in der Bundesrepublik, die nach Erkenntnissen chilenischer Ermittler:innen und Richter:innen beispielsweise im engen Kontakt zu DINA-Agent:innen standen, die in der CD Verbrechen begingen.

Zu ihren Kenntnissen über Zusammenhänge und konkrete Verbrechen wurden diese Personen jedoch niemals befragt. Da über viele der bundesdeutschen Ermittlungsverfahren nur wenige Informationen zugänglich sind, lassen sich über die Gründe für die Einstellung der Verfahren nur Vermutungen anstellen: Die Staatsanwälte, die für die Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft Bonn zwischen 1977 und 2010 zuständig waren, sind teilweise immer noch im Justizapparat von NRW tätig.

Jegliche heutige richterliche Feststellung von Verbrechen der CD würde die damaligen Ermittlungen in Frage stellen und ein Eingeständnis dessen bedeuten, dass die NRW-Justiz jahrzehntelang Taten nicht aufklärte und Opfer nicht schützte.

Als Rechtfertigung für ein Unterlassen tiefergehender Ermittlungen von schweren Verbrechen können diese Erklärungsansätze jedoch nicht dienen. Es bleibt jedoch festzustellen, dass die deutsche Justiz bisher keinerlei Ergebnisse bei ihrem Umgang mit dem Fall CD hervorgebracht hat.

Während die weiteren behördlichen Ebenen - die chilenische Justiz und die deutsche und die chilenische Politik - sich zumindest in Ansätzen für die Verbrechen der CD zuständig fühlen, war die Mitwirkung der deutschen Justiz an einer Aufklärung der CD-Verbrechen und der Sanktionierung der Verantwortlichen ergebnislos. Bis heute sind keine Ansätze für eine Korrektur dieses Kurses zu erkennen.

Während der Militärdiktatur genoss die CD einen weitreichenden Schutz durch die chilenische Justiz. Die 1977 eingeleitete Untersuchung wegen der Ermordung des in der CD stationierten Kollaborateurs der Geheimpolizei DINA, Juan René Muñoz Alarcón, wurde rasch eingestellt. Die Verfahrensakten, die AA und AI erhielten, belegten jedoch den Aufenthalt von Muñoz Alarcón in der Siedlung und bestätigten somit die von aufklärerischen Akteur:innen veröffentlichten Informationen über eine Zusammenarbeit zwischen CD und Dina. Tiefergehende Untersuchungen zu CD-Verbrechen waren während der Diktatur in Chile nicht möglich.

Erst 1987 leitete das AA die Berichte der 1984/1985 aus der CD geflüchteten Hugo Baar und Lotti und Georg Packmor formell an die chilenische Justiz weiter. Das AA vermied dabei, selbst Anzeige zu erstatten oder Opfer dabei zu unterstützen, über Klagen eine Untersuchung zu forcieren.

Stattdessen drängte das AA die chilenische Seite auf diplomatischem Wege, selbst eine Untersuchung der CD einzuleiten. Nach mehreren Anläufen und erst nach dem 1988 durchgeführten Plebiszit, das das Ende der Diktatur einläutete, gab die Diktatur dem Druck der Bundesregierung nach.

Die chilenische Justiz eröffnete jedoch keine strafrechtliche, sondern lediglich eine verwaltungsrechtliche Untersuchung. Der Abschlussbericht von Richter Robert stellte administrative Unregelmäßigkeiten fest und führte zur Einleitung zweier Strafverfahren, die jedoch bald wieder eingestellt wurden.

Einerseits führte der Bericht zu dem ersten Beschluss der chilenischen Justiz, der die CD in Ansätzen infrage stellte und gab der ersten post-diktatorialen Regierung Handreichungen für die Auflösung der SBED. Andererseits wurde eine umfassende strafrechtliche Untersuchung vermieden.

Die Festnahme Schäfers 2005 führte in Chile zu einem überwältigenden Medienaufsehen, in deren Folge zahlreiche juristische Untersuchungen an Fahrt gewannen.

Die chilenische Justiz entschied, die Mehrzahl der Strafverfahren, insbesondere zu den CD-Diktaturverbrechen, bei einem einzelnen Richter - Jorge Zepeda Arancibia - zu bündeln. Zepeda stand unter hohem Druck, Ermittlungsergebnisse zu präsentieren und war dabei auf sich alleine gestellt: er verfügte lediglich über einen Sekretär und über wechselnde Polizeiermittler:innen, denen er nicht immer vertraute.

Zepeda vernahm dutzende Colonos und nahm einige Führungsmitglieder in Untersuchungshaft. Es gibt Hinweise darauf, dass er mindestens einem Colono auch Strafmilderung oder -verschonung im Gegenzug für Aussagen zusicherte.

Die Inhaftierten begannen auszusagen

Während Mitglieder der Führungsebene über die CD-Diktaturverbrechen bis dahin geschwiegen hatten, so begannen die Inhaftierten und einige andere nun zu reden: Mehrere Colonos machten weitreichende Angaben über die Verbringung von politischen Gefangenen in die CD.

Dies geschah einerseits, um sie unter Folter zu verhören und um weitere Widerständler:innen zu identifizieren. Einige Dutzend Gefangene wurden den Aussagen zufolge von Militärs oder DINA-Agent_innen in die CD gebracht, um sie dort umgehend zu töten und im Wald zu verscharren.

Ermittler:innen wurden von Colonos zu Orten geführt, an denen Massengräber existiert haben sollen. Forensiker konnten feststellen, dass dort tatsächlich im Zeitraum 1973-1978 Grabungen stattgefunden hatten.

Sie konnten jedoch keine Leichen oder biologische Überreste von Menschen finden. Laut Aussagen der CD-Mitglieder wurden mehrere Jahre nach der Erschießung und Vergrabung die Leichen mehrerer Dutzend Ermordeter wieder ausgegraben und verbrannt, um Spuren der Taten zu verwischen.

Bei den übereinstimmenden Aussagen der Colonos über diese Taten fehlten entscheidende Details: Informationen über die Identität der Opfer und der materiellen Täter:innen der Mordhandlungen wurden nicht preisgegeben.

Alle Colonos, die über die Vorgänge aussagten, gaben an, lediglich an einzelnen Vorgängen beteiligt gewesen zu sein, beispielsweise an dem Verbringen der Gefangenen zum Ort der Erschießung, an dem Zuschütten der zuvor ausgehobenen Gruben oder an dem Verbrennen von Leichen einige Jahre später.

Diese Handlungen wertete Zepeda in den meisten Fällen jedoch nicht als Beihilfe oder Verschleierung der Mordtaten. Lediglich bei einem Colono - Gerhard Mücke - kam es zu einer Verurteilung.

1977 hatten Amnesty International (AI) und die Zeitschrift Stern Zeug:innenaussagen zusammengetragen, die sowohl externe Verbrechen – im Rahmen der Zusammenarbeit zwischen CD und DINA – als auch interne Verbrechen, Freiheitsberaubung und Körperverletzung, beschrieben.

Die nach diesen Berichten eingeleiteten strafrechtlichen Ermittlungen gegen die CD wurden von der Bonner Staatsanwaltschaft mit Verweis auf entlastende Erklärungen von Botschafter Strätling und schriftliche Entlastungserklärungen von Colonos rasch eingestellt.

Ein von der CD initiiertes Zivilverfahren gegen AI und den Verlag Gruner und Jahr hingegen lief über einen Zeitraum von 20 Jahren. Ausgangspunkt dieses Bonner Zivilverfahrens war eine von der CD beantragte einstweilige Verfügung, mit der die Weiterverbreitung der AI-Broschüre unterbunden und die Feststellung, die CD sei ein Folterlager der DINA, untersagt werden sollten.

Das LG Bonn stimmte dem Antrag der CD zu und brachte damit aufklärerische Akteur:innen über einen Zeitraum von 20 Jahren zum Schweigen. Durch ein im Anschluss eröffnetes Zivilverfahren konnte die CD den Spieß umdrehen: Die Beweislast über die Existenz der Verbrechen lag nun bei den beklagten Aufklärer:innen. Die Beweiserbringung war jedoch während der Jahre der chilenischen Diktatur - und auch während der ersten Jahre der Transición - nicht möglich.

Durch die schützende Hand der chilenischen Justiz war eine formaljuristische Beweisführung über gemeinsam mit der DINA in der CD begangene Foltertaten unmöglich.

Dem Bonner Landgericht lagen jedoch diverse Schilderungen von Folterüberlebenden und einem ehemaligen DINA-Agenten vor, die ein deutliches Bild von der Existenz des Folterlagers zeichneten.

Die CD-Anwälte verfolgten die Strategie, das Verfahren mit Diskussionen über Formalia in die Länge und die Glaubwürdigkeit der belastenden Zeug:innen in Zweifel zu ziehen - und sie waren damit erfolgreich. Statt den Opfern Glauben zu schenken, gab die Kammer diesen Diskussionen breiten Raum und ließ so Jahre verstreichen.

In diesem und auch in dem 1985 von der Bonner Staatsanwaltschaft eröffneten Verfahren gegen die CD führten Rechtshilfeersuchen, die jahrelang von der chilenischen Seite nicht beantwortet wurden, sogar zu einer Verzögerung der strafrechtlichen Ermittlungen um mehrere Jahre.

Das AA nutzte das Bonner Zivilverfahren, um das eigene Nicht-Handeln zu legitimieren. Es argumentierte damit, dass es sich bei dem schwebenden Verfahren um eine Auseinandersetzung zwischen privaten Akteur:innen handele, deren Ausgang abgewartet werden müsse.

Folglich könne man erst nach einer Entscheidung der Bonner Richter weitere Schritte in Erwägung ziehen und müsse bis dahin "in dubio pro reo" äußerste Zurückhaltung üben.

Das Bonner Zivilverfahren ermöglichte der kriminellen Organisation CD die Sicherung der eigenen straflosen Existenz, indem es die Durchsetzung von Menschenrechten auf juristischem Wege verhinderte: Die Bonner Richter:innen untersagten einer Menschenrechtsorganisation und einem Presseorgan 20 Jahre lang die Verbreitung von Informationen über Verbrechen, die in einer Militärdiktatur begangen wurden - und ersuchten auf dem Wege der Rechtshilfe die Justiz selbiger Diktatur um Unterstützung bei der Untersuchung der von ihr mitbegangenen Verbrechen. Ein folgenreiches Paradoxon.

2011 entzog sich Hartmut Hopp der chilenischen Justiz und flüchtete in die Bundesrepublik. Die nach Strafanzeigen von Aufklärer:innen eröffneten Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Krefeld trugen die Struktur der vorangegangenen Verfahren weiter. Die Taten wurden weiterhin als Einzelvorgänge betrachtet, strukturelle Ermittlungen fanden nicht statt.

Viele Aussagen zum Fall Hartmut Hopp nicht angehört

So wurden beispielsweise zu den Mordvorwürfen gegen Hopp nicht die von den Opfervertreter:innen genannten Zeug:innen aus der CD-Führung befragt, von denen sich viele inzwischen in Deutschland niedergelassen hatten. Obwohl diese an der CD-Dina-Kooperation in diversen Formen beteiligt waren und teilweise bei der chilenischen Justiz bereits Aussagen dazu gemacht hatten, hielt es die NRW Justiz nicht für notwendig, tiefergehend und proaktiv den Kontext der Vorgänge zu untersuchen und über Strukturermittlungen den Blickwinkel zu erweitern.

Ihr Interesse galt vornehmlich der Frage, welche Beweise für eine materielle (Mit-)Täterschaft von Hartmut Hopp an einzelnen Mord-, Körperverletzungs- und Missbrauchstaten vorlagen. Eigene Ermittlungsschritte hierzu unternahm sie hingegen kaum.

Ähnlich verfuhr die Staatsanwaltschaft Münster in ihrem Ermittlungsverfahren wegen Mordes gegen Reinhard Döring. Sie vernahm keine Zeug:innen, nicht einmal den Beschuldigten selbst. Nach drei Jahren stellte sie das Verfahren ein.

2018 entschied das OLG Düsseldorf, das Ersuchen der chilenischen Justiz auf Vollstreckung einer rechtskräftigen Verurteilung Hartmut Hopps zu fünf Jahren Haft in Deutschland abzulehnen. Dieser Beschluss begrub Hoffnungen der Aufklärer:innen auf eine zumindest symbolische strafrechtliche Aufarbeitung.

An diesem Verfahren waren lediglich die StA Krefeld, die formell die antragstellende chilenische Justiz vertrat, sowie der betroffene Hartmut Hopp, bzw. sein Anwalt, beteiligt. Der chilenische Staat hätte sich über einen eigenen Anwalt beteiligen können, tat dies jedoch aus unbekannten Gründen nicht.

Nach dem IRG hätten die Düsseldorfer Richter:innen lediglich prüfen müssen, ob das Verfahren gegen Hopp in Chile formale Rechtsstandards einhielt. Sie folgten jedoch stattdessen der Argumentation des Verteidigers von Hopp, der anmahnte, dass die Beweisführung in Chile hiesigen Verfahrensgrundsätzen nicht entsprochen habe.

Anstelle der Argumentation des LG Krefeld als Vorinstanz zu folgen, die die Annahme des Vollstreckungsersuchens befürwortet hatte, argumentierte das OLG Düsseldorf, dass die im chilenischen Urteil vorgetragenen Beweise für eine Beihilfe Hopps nach hiesigen Verfahrensgrundsätzen für eine Verurteilung nicht ausgereicht hätten.

Die CD, so die Düsseldorfer Richter:innen, habe nicht allein kriminellen Zwecken gedient, sondern habe auch wohltätige Ziele verfolgt. Hopp könne daher nicht qua seiner Funktion als Mitglied der CD-Führung verurteilt werden, es müsse der Einzeltatnachweis geführt werden.

Da die CD nicht nur auf die Begehung von Verbrechen ausgerichtet gewesen sei, sondern auch wohltätige Arbeit geleistet habe, stufte die Kammer in ihrem Beschluss das Verhalten von Hopp als neutral und "sozialadäquat" ein.

Sogar das sogenannte Intensivinternat - eine real nicht existierende Institution, die nur dem Diskurs der sozialen Fassade diente, um den Missbrauch zu verdecken - sei eine sinnvolle Instanz gewesen.

Diese Auffassung der Düsseldorfer Richter:innen ist vor dem Hintergrund aller bisher belegten historischen Tatsachen über die CD falsch.

Der OLG-Beschluss versagte den Opfern nicht nur in diesem Fall Gerechtigkeit, sondern besiegelte auch die strafrechtliche Aufarbeitung der CD-Verbrechen in Deutschland in Gänze: Wenige Monate nach der OLG-Entscheidung stellten auch die Staatsanwaltschaften in Münster und Krefeld ihre Ermittlungen gegen Reinhard Döring bzw. Hartmut Hopp ein.

Auch eine Beschwerde gegen die Einstellung der Ermittlungen gegen Hopp seitens der Opferanwältin sowie ein Antrag auf Erzwingung einer Anklage wurden 2020, bzw. 2021 abgewiesen.

Der Bundestag befasst sich seit 1966 bis heute mit dem Fall CD. Jedoch war das Thema lange Zeit randständig. In Phasen hoher medialer Aufmerksamkeit griffen einzelne Parlamentarier:innen es auf, meist in Form von schriftlichen oder mündlichen Fragen oder Kleinen Anfragen an die Bundesregierung. Diese Initiativen zielten auf eine Aufklärung der Vorgänge um die CD ab und kamen meist auf Anregung und unter Mitwirkung von Aufklärer:innen zustande.

Dies blieb jedoch lange Zeit weitgehend folgenlos für die politische und juristische Aufklärung. Die Bundesregierung beantwortete Fragen und Kleine Anfragen meist wortkarg, oftmals unter Verweis auf anhängige Justizverfahren und auf die Verantwortung chilenischer Stellen.

Auch wenn die Bundesregierung in der Regel antwortete, über keinerlei Erkenntnisse zu den betreffenden Vorgängen zu verfügen, konnten durch die Fragen einzelne Sachverhalte bestätigt werden, die Menschenrechtsaktivist_innen oder Journalist_innen zuvor recherchiert hatten.

Erst 2002 befasste sich der Bundestag in seiner Gesamtheit mit dem Fall CD und verabschiedete einen Entschließungsantrag, mit dem er die Bundesregierung zu konkreten Hilfs- und Aufklärungsmaßnahmen aufforderte.

Die Umsetzung dieser Maßnahmen unterblieb jedoch weitgehend. 2017, etwa ein Jahr nach der Rede von Bundesaußenminister Steinmeier zur CD, wurde ein weiterer Entschließungsantrag im Bundestag verabschiedet, erstmals einstimmig.

Der Antrag forderte die Bundesregierung zu einer Reihe von Maßnahmen zur Aufarbeitung der Verbrechen der CD auf. Während die darin enthaltene Forderung nach Förderung der strafrechtlichen Untersuchungen in Kooperation mit Chile bisher folgenlos blieb, wurden eine Reihe von anderen Maßnahmen eingeleitet, die bislang mit unterschiedlichem Erfolg umgesetzt werden.

Die allein vonseiten der Bundesregierung zu erbringenden Maßnahmen, wie die Finanzierung eines Oral History Projekts und die Einrichtung eines Hilfsfonds für einige Opfergruppen, werden bereits umgesetzt.

Für die mit der chilenischen Regierung im Rahmen einer Gemischten Kommission diskutierten und gemeinsam einzuleitenden Maßnahmen kam es bislang jedoch noch nicht zu konkreten Resultaten.

Dazu gehören die Errichtung eines Gedenkortes sowie eines Dokumentationszentrums; die Feststellung, Sicherung und Auswertung von Spuren und Dokumenten von auf dem CD-Gelände begangenen Verbrechen; sowie eine Überprüfung der Vermögenswerte der CD und der aus ihr hervorgegangenen Gesellschaften. Hier zeigt sich, wie bei der bilateralen Behandlung des Themas weiterhin Fragen der Zuständigkeit und Verantwortung eine Aufklärung und Aufarbeitung behindern.


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