Colonia Dignidad und deutsche Justiz: kein Wille zur Aufklärung

Massengrab auf dem Gelände der Colonia Dignidad, hier mit Bilden von Verschwundenen. Bild: Zazil-Ha Troncoso 2, CC BY-SA 4.0

Die Juristische und parlamentarische Aufarbeitung der Verbrechen in der ehemaligen Deutschensiedlung in Chile steht aus. Ein bearbeiteter Buchauszug

In der ehemaligen Deutschensiedlung Colonia Dignidad (CD) wurden jahrzehntelang schwere Straftaten und Menschenrechtsverletzungen begangen: Siedlungsbewohner:innen wurden ihrer Freiheit beraubt, sexueller Gewalt ausgesetzt, sie wurden misshandelt und mussten unentlohnt arbeiten; unter der Militärdiktatur (1973-1990) diente das Terrain im Süden Chiles als Folter- und Tötungsstätte. Die bundesdeutsche Diplomatie blieb lange untätig.

Auch die juristische Aufarbeitung der CD-Verbrechen war langwierig und hat bislang erst einen geringen Teil der Einzeltaten untersucht. Während es in Chile erst ab 1996 und verstärkt nach 2005 gelang, diverse Verbrechenskomplexe zu untersuchen und einige Täter:innen dafür zur Rechenschaft zu ziehen, blieben die strafrechtlichen Untersuchungen in der Bundesrepublik bis heute ergebnislos.

Die für die Verfahren zuständige Justiz von Nordrhein-Westfalen eröffnete zwar ab 1961 diverse Ermittlungsverfahren. Diese wurden jedoch allesamt mit Verweis auf einen fehlenden hinreichenden Tatverdacht eingestellt.


Bei diesem Text handelt es sich um einen bearbeiteten Buchauszug aus:

Jan Stehle: Der Fall Colonia Dignidad - Zum Umgang bundesdeutscher Außenpolitik und Justiz mit Menschenrechtsverletzungen 1961-2020

Transcript-Verlag, 1. Oktober 2021, 644 Seiten, ISBN: 978-3-8394-5871-6


Viele von der chilenischen Justiz gesuchte Beschuldigte haben sich daher in den letzten Jahrzehnten nach Deutschland abgesetzt, um sich den chilenischen Verfahren zu entziehen. Die Bundesrepublik liefert dem Grundgesetz entsprechend keine deutschen Staatsbürger:innen an Staaten außerhalb der EU aus und ist so zum sicheren Hafen für vermeintliche Täter:innen der CD geworden.

Ein Großteil der Verbrechen der CD wurde von deutschen Staatsbürger:innen auf chilenischem Staatsgebiet begangen, Opfer dieser Taten waren Chilen:innen und Deutsche. Aufgrund dessen stellt sich die Frage, welche Justiz für die Strafverfolgung zuständig ist.

Nach dem Territorialitätsprinzip war und ist die chilenische Justiz für die Untersuchung und Ahndung sämtlicher auf chilenischem Territorium begangener Taten zuständig. Gleichzeitig kann nach dem sogenannten Personalitätsprinzip bei Taten im Ausland, die von deutschen Staatsangehörigen oder gegen deutsche Staatsangehörige begangen wurden, das deutsche Strafrecht zur Anwendung kommen.

Daher haben wir es bei vielen der CD-Verbrechen - zumindest theoretisch - also mit einer doppelten Zuständigkeit von chilenischer und bundesdeutscher Justiz zu tun. In der Praxis hat die Frage der Zuständigkeit den Fall CD in allen Phasen begleitet.

Das Fehlen eines Rechtshilfeabkommens erschwerte eine Kooperation zwischen den Justizapparaten beider Länder. Die Folge waren langwierige und bürokratische Rechtshilfeersuchen in beide Richtungen. Diese brachten nur selten Fortschritte, führten jedoch oftmals zu einem jahrelangen Stillstand der Ermittlungen. Unterschiedliche Rechtskulturen führten zudem dazu, dass beide Seiten sich regelmäßig über die vermeintliche Untätigkeit der jeweils anderen Seite beschwerten. Auch Auseinandersetzungen über Formalien, etwa über die von Übersetzungen, zogen die Verfahren in die Länge.

Diese gegenseitigen Zuweisungen der Verantwortlichkeiten haben die Aufarbeitung der Verbrechen erschwert und teilweise blockiert. Davon profitierten die der Taten Beschuldigten aus den Reihen der CD.

Hinzu kamen auf beiden Seiten wechselnde politische Interessen und Allianzen. Eine Untersuchung und Ahndung der Verbrechen war beispielsweise zwischen 1973 und 1990 aufgrund der engen Zusammenarbeit zwischen der Militärdiktatur und der CD-Führung in Chile nahezu unmöglich.

Auch in den Jahren danach verhinderten die im Rahmen der Transición [chil. Übergang zur Demokratie] paktierten Machtverhältnisse eine Aufarbeitung der während der Militärdiktatur begangenen Menschenrechtsverbrechen. Erst ab 1996 führten die Ermittlungen wegen des sexuellen Missbrauchs an chilenischen Kindern zu einer Schwächung des CD-Unterstützungsnetzwerks und zu einem zaghaften Fortgang der Ermittlungen. Am Zustandekommen der Festnahme von Paul Schäfer 2005 in Argentinien waren weder chilenische noch deutsche Ermittler:innen beteiligt, sie erfolgte aufgrund privater Ermittlungen von Aufklärer:innen. Überhaupt scheint es seitens beider Staaten nur selten tatsächliche Fahndungen nach per Haftbefehl ausgeschriebenen Tatbeschuldigten im Ausland gegeben zu haben: Zwar wurde Paul Schäfer von der bundesdeutschen Justiz zwischen 1961 und 1970 und ab 1997 per Haftbefehl gesucht. Es wurde jedoch keine Zielfahndung nach ihm durchgeführt. Dies bedeutet, dass die bundesdeutsche Justiz offensichtlich keinerlei Anstrengungen zu seiner Festnahme unternahm und abwartete, ob er sich stellte oder beispielsweise bei einem Grenzübertritt festgenommen wurde - was nicht zu erwarten war.

Angesichts der Dimension der ihm vorgeworfenen Verbrechen erscheint dies absolut unangemessen. Auch die chilenische Justiz fahndete nicht eingehend im Ausland und verhinderte nicht, dass diverse Beschuldigte (oder wie im Fall Hartmut Hopp bereits Verurteilte) trotz Ausreiseverbots das Land verlassen und nach Deutschland reisen konnten.

Investitionen in juristische Gegenwehr

Die CD hat die juristische "Gegenarbeit" immer als zentrales strategisches Element begriffen und "investierte" umfangreich in anwaltliche Vertretung - Teile der Postsektengemeinschaft tun das bis heute. Opfer hatten hingegen nur begrenzten Zugang zu Rechtsanwält:innen, wurden eingeschüchtert und erhielten von behördlicher Seite kaum Unterstützung, um gegen die CD vorzugehen oder sich gegen sie zu wehren.

Ab den 1960er Jahren ergriff die CD aktiv die Initiative, um aufklärerische Bestrebungen zu diskreditieren: durch Verleumdungsklagen, Zivilklagen und Lobbyarbeit bei Richter:innen und Justizbeamt:innen. Sie nahm für ihre Strategie dutzende renommierte Anwält:innen in der Bundesrepublik und Chile unter Vertrag, nutzte alle Rechtsmittel aus und verzögerte und verhinderte so die Aufklärung.

Die Politik versteckte sich hinter der juristischen Ebene, um das Ausbleiben eigener Aufklärungstätigkeit zu rechtfertigen. Insbesondere das Auswärtige Amt (AA) begriff das Thema lange Zeit als Auseinandersetzung zwischen privaten Akteur:innen und griff nicht in diese ein.

1985 entschied sich das AA erstmals, die Berichte der aus der CD Geflüchteten Hugo Baar und Georg und Lotti Packmor der Justiz zu übersenden. Dies führte zur Einleitung des Bonner Ermittlungsverfahrens, das - zumindest formell - bis 2010 geführt wurde.

Das Warten auf den Ausgang der oftmals jahrzehntelang schwebenden Verfahren diente den politischen Behörden als Rechtfertigung, um nicht selbst tätig zu werden.

Obwohl das AA keine ständige Detailkenntnis über den Fortgang der Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Bonn hatte, so kannte sie doch aus den übersandten Einstellungsverfügungen und weiteren Quellen die Grundhaltung der Bonner Staatsanwälte: Diese hielten die Vorwürfe für nicht erwiesen und argumentierten, es könne sich dabei lediglich um gruppeninterne Streitigkeiten handeln.

Sie bewerteten detailreiche Schilderungen über Verbrechen von Personen, die aus der CD geflüchtet waren, gleich stark wie unter Druck durch die CD-Führung herbeigeführte eidesstattliche Versicherungen. In diesen bekundeten Menschen, die die Justiz niemals zu Gesicht bekam und die in der CD Verbrechen ausgesetzt waren, sie seien frei und es ginge ihnen gut.

Die Bonner Staatsanwaltschaft begriff die CD nicht als kriminelle Gruppierung. Diese Haltung hatte weitreichende Konsequenzen: Fast drei Jahrzehnte hindurch (1970 bis 1997) gab es keinen Haftbefehl gegen Paul Schäfer und andere Personen aus der Führung der CD.

Diese konnten sich frei bewegen und gleichzeitig verkünden, alle Vorwürfe gegen sie seien bösartige Verleumdungen. Der 1997 gegen Paul Schäfer erlassene Haftbefehl kam erst nach einem chilenischen Fahndungsersuchen und hatte keinerlei Konsequenzen, da keine Zielfahndung gegen Schäfer eingeleitet wurde.

Gegen die CD-Mitglieder, die den Untergrund Schäfers in Argentinien organisierten, Kinder entführten, falsche Papiere besorgten und Gelder in verschiedenen Ländern versteckten, wurde von deutscher Seite gar nicht gefahndet.

Schäfer konnte sich so in seinem Versteck sicher fühlen, bis Aufklärer:innen ihn auffanden und die argentinische Kriminalpolizei kontaktierten, die ihn festnahm. Bis zur Einstellung des letzten Ermittlungsverfahrens 2019 verfolgte die NRW-Justiz eine Haltung, die CD-Verbrechen als Einzeltaten begriff, die in einem fernen Land begangen wurden und in Teilen bereits verjährt waren.

Eigene Ermittlungen zu den Taten waren begrenzt oder unterbleiben ganz. Zwar wurden Rechtshilfeersuchen an die chilenische Justiz gerichtet, deren Urteile und Feststellungen jedoch für die hiesigen Verfahren nicht verwertbar waren. Denn sie kamen in einer anderen Rechtskultur und mit anderem Fokus zustande.

Chile konzentrierte die eigenen Ermittlungen ab 1996 auf die Person von Paul Schäfer und untersuchte im Verfahren um sexuellen Missbrauch in der CD das System, das Schäfer die Verbrechen ermöglichte, indem es ihm die Kinder zuführte.

Dieses System organisierte die Entführung sowie Anwerbung von Kindern, die formale Absicherung durch von deren Eltern unterschriebene Einverständniserklärungen, Vollmachten und Sorgerechtsübertragungen - die oft unter Vorspiegelung falscher Tatsachen auf betrügerische Art und Weise zustande kamen. Hinzu kam die Sedierung der Missbrauchsopfer vor und nach den Taten. Die chilenische Justiz verurteilte 21 Personen, darunter 14 Colonos und sieben Unterstützer:innen der CD, wegen dieser Taten.