Colonia Dignidad und deutsche Justiz: kein Wille zur Aufklärung

Seite 2: Flucht vor der Justiz nach Deustchland

Weitere entzogen sich jedoch der chilenischen Justiz durch Flucht nach Deutschland. Die NRW-Justiz erkannte dieses System nicht und stellte alle eigenen Ermittlungen wegen fehlenden hinreichenden Tatverdachts ein. Sie argumentierte, die Beweislage sei für hiesige Verfahrensstandards nicht ausreichend. Gleichzeitig bemühte sie sich kaum darum, eigene Erkenntnisse über die Taten zu erlangen.

Strukturermittlungen zur tieferen Durchleuchtung der Gruppierung, ihrer Mitglieder und Zusammenhänge unterblieben. Heute leben diverse CD-Mitglieder in der Bundesrepublik, die nach Erkenntnissen chilenischer Ermittler:innen und Richter:innen beispielsweise im engen Kontakt zu DINA-Agent:innen standen, die in der CD Verbrechen begingen.

Zu ihren Kenntnissen über Zusammenhänge und konkrete Verbrechen wurden diese Personen jedoch niemals befragt. Da über viele der bundesdeutschen Ermittlungsverfahren nur wenige Informationen zugänglich sind, lassen sich über die Gründe für die Einstellung der Verfahren nur Vermutungen anstellen: Die Staatsanwälte, die für die Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft Bonn zwischen 1977 und 2010 zuständig waren, sind teilweise immer noch im Justizapparat von NRW tätig.

Jegliche heutige richterliche Feststellung von Verbrechen der CD würde die damaligen Ermittlungen in Frage stellen und ein Eingeständnis dessen bedeuten, dass die NRW-Justiz jahrzehntelang Taten nicht aufklärte und Opfer nicht schützte.

Als Rechtfertigung für ein Unterlassen tiefergehender Ermittlungen von schweren Verbrechen können diese Erklärungsansätze jedoch nicht dienen. Es bleibt jedoch festzustellen, dass die deutsche Justiz bisher keinerlei Ergebnisse bei ihrem Umgang mit dem Fall CD hervorgebracht hat.

Während die weiteren behördlichen Ebenen - die chilenische Justiz und die deutsche und die chilenische Politik - sich zumindest in Ansätzen für die Verbrechen der CD zuständig fühlen, war die Mitwirkung der deutschen Justiz an einer Aufklärung der CD-Verbrechen und der Sanktionierung der Verantwortlichen ergebnislos. Bis heute sind keine Ansätze für eine Korrektur dieses Kurses zu erkennen.

Während der Militärdiktatur genoss die CD einen weitreichenden Schutz durch die chilenische Justiz. Die 1977 eingeleitete Untersuchung wegen der Ermordung des in der CD stationierten Kollaborateurs der Geheimpolizei DINA, Juan René Muñoz Alarcón, wurde rasch eingestellt. Die Verfahrensakten, die AA und AI erhielten, belegten jedoch den Aufenthalt von Muñoz Alarcón in der Siedlung und bestätigten somit die von aufklärerischen Akteur:innen veröffentlichten Informationen über eine Zusammenarbeit zwischen CD und Dina. Tiefergehende Untersuchungen zu CD-Verbrechen waren während der Diktatur in Chile nicht möglich.

Erst 1987 leitete das AA die Berichte der 1984/1985 aus der CD geflüchteten Hugo Baar und Lotti und Georg Packmor formell an die chilenische Justiz weiter. Das AA vermied dabei, selbst Anzeige zu erstatten oder Opfer dabei zu unterstützen, über Klagen eine Untersuchung zu forcieren.

Stattdessen drängte das AA die chilenische Seite auf diplomatischem Wege, selbst eine Untersuchung der CD einzuleiten. Nach mehreren Anläufen und erst nach dem 1988 durchgeführten Plebiszit, das das Ende der Diktatur einläutete, gab die Diktatur dem Druck der Bundesregierung nach.

Die chilenische Justiz eröffnete jedoch keine strafrechtliche, sondern lediglich eine verwaltungsrechtliche Untersuchung. Der Abschlussbericht von Richter Robert stellte administrative Unregelmäßigkeiten fest und führte zur Einleitung zweier Strafverfahren, die jedoch bald wieder eingestellt wurden.

Einerseits führte der Bericht zu dem ersten Beschluss der chilenischen Justiz, der die CD in Ansätzen infrage stellte und gab der ersten post-diktatorialen Regierung Handreichungen für die Auflösung der SBED. Andererseits wurde eine umfassende strafrechtliche Untersuchung vermieden.

Die Festnahme Schäfers 2005 führte in Chile zu einem überwältigenden Medienaufsehen, in deren Folge zahlreiche juristische Untersuchungen an Fahrt gewannen.

Die chilenische Justiz entschied, die Mehrzahl der Strafverfahren, insbesondere zu den CD-Diktaturverbrechen, bei einem einzelnen Richter - Jorge Zepeda Arancibia - zu bündeln. Zepeda stand unter hohem Druck, Ermittlungsergebnisse zu präsentieren und war dabei auf sich alleine gestellt: er verfügte lediglich über einen Sekretär und über wechselnde Polizeiermittler:innen, denen er nicht immer vertraute.

Zepeda vernahm dutzende Colonos und nahm einige Führungsmitglieder in Untersuchungshaft. Es gibt Hinweise darauf, dass er mindestens einem Colono auch Strafmilderung oder -verschonung im Gegenzug für Aussagen zusicherte.

Die Inhaftierten begannen auszusagen

Während Mitglieder der Führungsebene über die CD-Diktaturverbrechen bis dahin geschwiegen hatten, so begannen die Inhaftierten und einige andere nun zu reden: Mehrere Colonos machten weitreichende Angaben über die Verbringung von politischen Gefangenen in die CD.

Dies geschah einerseits, um sie unter Folter zu verhören und um weitere Widerständler:innen zu identifizieren. Einige Dutzend Gefangene wurden den Aussagen zufolge von Militärs oder DINA-Agent_innen in die CD gebracht, um sie dort umgehend zu töten und im Wald zu verscharren.

Ermittler:innen wurden von Colonos zu Orten geführt, an denen Massengräber existiert haben sollen. Forensiker konnten feststellen, dass dort tatsächlich im Zeitraum 1973-1978 Grabungen stattgefunden hatten.

Sie konnten jedoch keine Leichen oder biologische Überreste von Menschen finden. Laut Aussagen der CD-Mitglieder wurden mehrere Jahre nach der Erschießung und Vergrabung die Leichen mehrerer Dutzend Ermordeter wieder ausgegraben und verbrannt, um Spuren der Taten zu verwischen.

Bei den übereinstimmenden Aussagen der Colonos über diese Taten fehlten entscheidende Details: Informationen über die Identität der Opfer und der materiellen Täter:innen der Mordhandlungen wurden nicht preisgegeben.

Alle Colonos, die über die Vorgänge aussagten, gaben an, lediglich an einzelnen Vorgängen beteiligt gewesen zu sein, beispielsweise an dem Verbringen der Gefangenen zum Ort der Erschießung, an dem Zuschütten der zuvor ausgehobenen Gruben oder an dem Verbrennen von Leichen einige Jahre später.

Diese Handlungen wertete Zepeda in den meisten Fällen jedoch nicht als Beihilfe oder Verschleierung der Mordtaten. Lediglich bei einem Colono - Gerhard Mücke - kam es zu einer Verurteilung.

1977 hatten Amnesty International (AI) und die Zeitschrift Stern Zeug:innenaussagen zusammengetragen, die sowohl externe Verbrechen – im Rahmen der Zusammenarbeit zwischen CD und DINA – als auch interne Verbrechen, Freiheitsberaubung und Körperverletzung, beschrieben.

Die nach diesen Berichten eingeleiteten strafrechtlichen Ermittlungen gegen die CD wurden von der Bonner Staatsanwaltschaft mit Verweis auf entlastende Erklärungen von Botschafter Strätling und schriftliche Entlastungserklärungen von Colonos rasch eingestellt.

Ein von der CD initiiertes Zivilverfahren gegen AI und den Verlag Gruner und Jahr hingegen lief über einen Zeitraum von 20 Jahren. Ausgangspunkt dieses Bonner Zivilverfahrens war eine von der CD beantragte einstweilige Verfügung, mit der die Weiterverbreitung der AI-Broschüre unterbunden und die Feststellung, die CD sei ein Folterlager der DINA, untersagt werden sollten.

Das LG Bonn stimmte dem Antrag der CD zu und brachte damit aufklärerische Akteur:innen über einen Zeitraum von 20 Jahren zum Schweigen. Durch ein im Anschluss eröffnetes Zivilverfahren konnte die CD den Spieß umdrehen: Die Beweislast über die Existenz der Verbrechen lag nun bei den beklagten Aufklärer:innen. Die Beweiserbringung war jedoch während der Jahre der chilenischen Diktatur - und auch während der ersten Jahre der Transición - nicht möglich.

Durch die schützende Hand der chilenischen Justiz war eine formaljuristische Beweisführung über gemeinsam mit der DINA in der CD begangene Foltertaten unmöglich.

Dem Bonner Landgericht lagen jedoch diverse Schilderungen von Folterüberlebenden und einem ehemaligen DINA-Agenten vor, die ein deutliches Bild von der Existenz des Folterlagers zeichneten.

Die CD-Anwälte verfolgten die Strategie, das Verfahren mit Diskussionen über Formalia in die Länge und die Glaubwürdigkeit der belastenden Zeug:innen in Zweifel zu ziehen - und sie waren damit erfolgreich. Statt den Opfern Glauben zu schenken, gab die Kammer diesen Diskussionen breiten Raum und ließ so Jahre verstreichen.

In diesem und auch in dem 1985 von der Bonner Staatsanwaltschaft eröffneten Verfahren gegen die CD führten Rechtshilfeersuchen, die jahrelang von der chilenischen Seite nicht beantwortet wurden, sogar zu einer Verzögerung der strafrechtlichen Ermittlungen um mehrere Jahre.

Das AA nutzte das Bonner Zivilverfahren, um das eigene Nicht-Handeln zu legitimieren. Es argumentierte damit, dass es sich bei dem schwebenden Verfahren um eine Auseinandersetzung zwischen privaten Akteur:innen handele, deren Ausgang abgewartet werden müsse.

Folglich könne man erst nach einer Entscheidung der Bonner Richter weitere Schritte in Erwägung ziehen und müsse bis dahin "in dubio pro reo" äußerste Zurückhaltung üben.

Das Bonner Zivilverfahren ermöglichte der kriminellen Organisation CD die Sicherung der eigenen straflosen Existenz, indem es die Durchsetzung von Menschenrechten auf juristischem Wege verhinderte: Die Bonner Richter:innen untersagten einer Menschenrechtsorganisation und einem Presseorgan 20 Jahre lang die Verbreitung von Informationen über Verbrechen, die in einer Militärdiktatur begangen wurden - und ersuchten auf dem Wege der Rechtshilfe die Justiz selbiger Diktatur um Unterstützung bei der Untersuchung der von ihr mitbegangenen Verbrechen. Ein folgenreiches Paradoxon.

2011 entzog sich Hartmut Hopp der chilenischen Justiz und flüchtete in die Bundesrepublik. Die nach Strafanzeigen von Aufklärer:innen eröffneten Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Krefeld trugen die Struktur der vorangegangenen Verfahren weiter. Die Taten wurden weiterhin als Einzelvorgänge betrachtet, strukturelle Ermittlungen fanden nicht statt.