"Corona-Aussöhnung": Geht das - und wenn ja, warum muss es?
In einem interdisziplinären Positionspapier fordern 16 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler das scheinbar Unmögliche. Nicht zuletzt, weil in Zukunft noch ganz andere Gefahren drohen
Eine "Corona-Aussöhnung", wie sie 16 Persönlichkeiten verschiedener Wissenschaftsbereiche aus Deutschland und Österreich in einem Positionspapier vom 7. Juli fordern, scheint auf den ersten Blick schon im privaten Bereich schwer bis unmöglich. Viele Freundschaften sind in der Corona-Krise zerbrochen oder auf Eis gelegt worden. Letzteres nicht nur direkt wegen der Kontaktbeschränkungen, sondern auch, weil Meinungsverschiedenheiten in "Sozialen Netzwerken" ungleich aggressiver ausgetragen werden als von Angesicht zu Angesicht - und weil dort "Freundesfreunde" immer wieder Öl ins Feuer gießen. Die Verbitterung wächst; für differenzierte Sichtweisen ist kaum noch Platz.
Feindbildpflege in Zeiten der Pandemie
Da werden Geimpfte zu gleichgeschalteten Mutanten und Ungeimpfte zu verantwortungslosen Virenschleudern stilisiert; wer sich noch nicht für oder gegen die Impfung mit einem ungewöhnlich schnell entwickelten Vakzin entschieden hat, bekommt von zwei Seiten Liebesentzug angedroht. Als Faschisten gelten wahlweise Menschen, die nicht schon seit Monaten für die Aufhebung aller Corona-Maßnahmen sind - oder eben diejenigen, die schon längere Zeit zumindest teilweise die Maßnahmen infrage stellen. "Face to Face" wären Diskussionen in dieser Härte schwer vorstellbar, aber jetzt, wo die Kontaktbeschränkungen gelockert werden, sind die Fronten so verhärtet, dass es schwerfällt, den ersten Schritt zu machen.
Eine Freundin ist plötzlich von Leuten umgeben, mit denen sie über andere Themen wie Klimaschutz oder Migration erbittert streiten würde - aber momentan kennen sie alle nur noch ein Thema und wählen ihre Freunde danach aus, wie sie zur Maskenpflicht stehen und ob sie sich impfen lassen oder nicht.
Vielleicht sind aber die anderen Themen in Zukunft ungleich wichtiger. Insofern trifft der Aufruf zur "Corona-Aussöhnung" den Nerv der Zeit. Die Autorinnen und Autoren wollen einen "Beitrag zur Überwindung des aktuellen gesellschaftlichen Gegeneinanders" leisten, wie sie in einer Mitteilung vom 7. Juli schreiben. Sie wollen "Alternativen zu Lockdown und Laufenlassen" anregen. Zugleich wollen sie wichtige Zukunftsthemen, über die es sich lohnt zu streiten, weiter oben auf der Tagesordnung sehen.
"Ziel ist ein wertschätzender, sachlicher und pluraler Diskurs"
"Unser Ziel ist ein wertschätzender, sachlicher und pluraler Diskurs, denn nur so kann den komplexen Herausforderungen der Pandemie bestmöglich begegnet werden", betonen sie. Zu ihnen zählen die sowohl die deutsch-französische Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot als auch der Leiter des Labors für Psychoneuroimmunologie an der Klinik für Medizinische Psychologie der Medizinischen Universität Innsbruck, Christian Schubert, der Münchner Kinderarzt Martin Hirte, der Berliner Arzt und Vorsitzende des Berufsverbandes Deutscher Präventologen Ellis Huber und die Mainzer Anwältin Jessica Hamed. In der Einleitung stellen sie klar, dass es Ihnen nicht um eine Leugnung der Gefahr geht:
Keine Frage: Covid-19 ist für viele Menschen eine gefährliche und tödliche Krankheit, die großes Leid gebracht hat. Und es ist angebracht, mit dieser Gefahr bewusst umzugehen und die Leiden und Schäden für die Gesellschaft gering zu halten. Gleichzeitig ist Covid-19 weder die einzige noch die größte Gefahr für die Gesundheit und das Leben von Menschen.
Wenn Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) sage, dass Covid-19 die größte Herausforderung seit dem Zweiten Weltkrieg sei, dann verharmlose sie "die viel größeren Herausforderungen Klimawandel und Artensterben sowie häufigere Todesursachen als Covid-19" - von Herz-Kreislauf-Erkrankungen bis zu Luftverschmutzung, heißt es in dem Papier.
Der Mangel an Glaubwürdigkeit führt zu Verschwörungsmythen
Zumindest als "Menschheitsherausforderung" hatte Merkel zwar auch den Klimaschutz schon einmal bezeichnet. Darauf waren allerdings keine vergleichbar entschlossenen Maßnahmen gefolgt, obwohl die Kanzlerin damals von einem "wirklichen Kraftakt" gesprochen hatte. Das hat sicher nicht zur Glaubwürdigkeit der Bundesregierung in der Corona-Krise beigetragen, sondern eher den Raum für Spekulationen und Verschwörungsmythen geöffnet. Insofern tragen Regierende durchaus Mitverantwortung für die Irrungen und Wirrungen der "Querdenker"-Bewegung - auch wenn deren Protagonisten nicht alle persönlich von der Verschärfung der sozialen Ungleichheit im Zuge der Lockdowns betroffen waren.
Aber auch die Doppelmoral der Corona-Maßnahmen in Arbeitswelt und Freizeit hat das Thema für viele Menschen außerhalb medizinischer Berufe zu einer Glaubensfrage gemacht. "Ihr dürft weiter Freunde an bestimmten Orten treffen. Solange 'bestimmte Orte' euer Büro sind und 'Freunde' euer Chef" - so wurde die regierungsamtliche Botschaft von der "Heute-Show" im ZDF zusammengefasst. Kritik daran gab es zweierlei - wahlweise ergab sich daraus die Forderung nach mehr Homeoffice oder die nach der Öffnung von Kneipen, Clubs, Theatern und Kinos. Die Zero-Covid-Bewegung hätte einen harten, aber dafür vergleichsweise kurzen Lockdown vorgezogen.
Auch Erfahrungswerte gibt es zweierlei: Neben direkt Betroffenen, die Angehörige durch das Virus verloren haben oder an "Long Covid" leiden, gibt es auch von Kollateralschäden Betroffene, die sich von ohnehin kranken Angehörigen wegen der Maßnahmen nicht verabschieden konnten oder wegen einer verschobenen Operation selbst nie wieder gesund werden.
Auch Kritik an der Pharmaindustrie gibt es zweierlei - wahlweise verbunden mit der Forderung "Gebt die Patente frei" oder mit pauschaler "Impfkritik". Grundlage beider Positionen ist aber die Erkenntnis, dass für die profitorientierte Pharmaindustrie Gesundheit und Menschenleben keinen absoluten Vorrang haben.
Auf dieser gemeinsamen Grundlage ließe sich die Diskussion vielleicht versachlichen. Auf Basis der staatstragenden Sichtweise geht das wohl nicht mehr.
In dem Positionspapier zur "Corona-Aussöhnung" wird die Freiwilligkeit der individuellen Impfentscheidung auch deshalb hervorgehoben, weil die bisher verfügbaren Impfstoffe keine sterile Immunität - also keinen verlässlichen Fremdschutz - gewährleisten und die Risikoabwägung durch fehlende Langzeitstudien zu möglichen Nebenwirkungen erschwert wird. Staatlichen Druck oder Zwang dürfe es deshalb nicht geben.