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Corona-Beginn in Indien und deutsche Rückholaktion

Auf dem Boden der deutschen Botschaft in New Delhi, 25.3.20. Foto: Mark Engeler

Hunderte Gestrandete lagen Ende März 2020 auf dem Rasen der deutschen Botschaft in Neu Delhi und warteten auf die Evakuierung. Einer von ihnen war der Autor und nicht nur wegen der Hitze lief ihm der Schweiß aus den Poren

Ab Mitte März 2020 verursachte die aufkommende Corona-Pandemie um den ganzen Erdball den Ausnahmezustand. Praktisch alle Länder schlossen ihre Grenzen und verhängten Lockdowns. Expats, Reisende und Touristen weltweit kamen unter starken Druck, ihren Aufenthalt schleunigst zu beenden. Verständlicherweise wollten die meisten nicht auf unbestimmte Zeit in der Fremde ausharren.

Doch die Initiative, das Gastland zu verlassen, ging nicht immer nur von den Reisenden selbst aus. In manchen Fällen wurden sie aktiv aufgefordert, das Land zu verlassen oder sogar dazu genötigt und gezwungen. Und das vermutlich nirgendwo so häufig und nachdrücklich wie in Indien [1].

Für viele Indien-Liebhaber, Kenner und Dauerbewohner war das eine ganz neue Facette ihres Gastlandes. Natürlich, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus sind in jedem Land und in jeder Gesellschaft mehr oder weniger offen vorhanden. Und in der Anfangsphase von Corona kam es weltweit zu Gewalttaten gegen Fremde, die von "außen" (wo auch immer) das Virus ins Land gebracht haben sollten.

Aber das Verhalten der indischen Regierung und Bevölkerung hatten eine eigene Qualität. Reisende flohen vor dem herannahenden Virus. Aber mindestens so sehr fürchteten sie sich vor dem, was sie erwarten könnte, wenn sie nicht die nächste Möglichkeit ergriffen, das Land zu verlassen. Diese Vorahnung ließ den Autor in Schweiß ausbrechen – in Angstschweiß.

Indien zu Beginn der Corona-Krise

In praktisch allen Bundesstaaten und Touristenzentren wurden auf Regierungsanweisung ausländische Gäste zum Verlassen der Hotels aufgefordert und diese geräumt. Häufig gingen die Besitzer aber auch ohne direkte Anweisung gegen ihre Gäste vor. Zum ersten Mal überhaupt wurden Grenzen zwischen indischen Bundesstaaten geschlossen. Tausende Reisende, die förmlich auf der Flucht waren, blieben auf Straßen und Autobahnen hängen, während der beginnenden Sommerhitze.

Die sozialen Medien, die moderne Inkarnation der Gerüchteküche, schäumten über, die wildesten Geschichten wie angeblich Ausländer das Virus ins Land brächten und was andererseits diese von Indern zu befürchten hätten, waren im Umlauf. Die indische Regierung, wie so oft noch stärker überfordert als andere, goss häufig, beabsichtigt oder nicht, Öl ins Feuer. Zu Beginn eines Telefongesprächs wurde zuerst ein Text mit Vorsichtsmaßnahmen eingespielt, unter anderem mit dem Hinweis, sich fern von "Fremden" zu halten.

Höhepunkt war die Ankündigung Premier Modis am Abend des 24. März, nur wenige Stunden später einen zunächst auf drei Wochen begrenzten totalen Lockdown [2] zu verhängen. Am 22. März waren die Grenzen und damit internationalen Flughäfen geschlossen worden.

Es schien unvorstellbar, wie das Land und seine Bevölkerung einen "totalen Lockdown" überstehen sollten. Andererseits waren nun alle, man kann es nicht anderes nennen, "Fluchtwege" versperrt. Verschärft wurde die Situation, dass, wie so oft im Krisenfall (nicht nur in Indien), religiöse und ethnische Minderheiten Opfer von öffentlicher und staatlicher Diskriminierung [3] wurden.

Alles zusammen ergab eine nie dagewesene Drohkulisse mit völlig ungewissen Ausgang und unabsehbaren Konsequenzen. Nie fühlte sich der Autor in 18 Jahren Südasien, inklusive Pakistan, Afghanistan und mehrerer Erdbeben, subjektiv in größerer Gefahr als zwischen dem 22. und 25. März 2020 in Indien.

Schnelle Reaktion der Bundesregierung ...

Die Behörden in Deutschland fühlen sich wie die der meisten westlichen Staaten gegenüber ihren Bürgern, die "nur" zu touristischen Zwecken um die Welt reisen, nicht besonders verpflichtet. Das hat einige gute Gründe; man kann das verstehen. Es würde ausufern, wenn Reisende einerseits auf ihre persönliche Freiheit beständen und dann bei jedem Malheur nach dem Staat riefen. Wo sollten Grenzen gezogen werden und vor allem, wer soll das bezahlen? Für den Notfall muss man selbst vorsorgen, sich an eine deutsche Botschaft zu wenden, hat wenig Sinn.

Die Ausnahmesituation ab Mitte März 2020 jedoch veranlasste die Bundesregierung zu außerordentlichen Schritten, die mit seltener Schnelligkeit ausgeführt wurden. Innerhalb weniger Tage wurde ein Rückholprogramm [4] für gestrandete deutsche Touristen beschlossen und begonnen. Unter der Leitung von Botschafter Walter Lindner übernahm die deutsche Botschaft in New Delhi in Indien die Verantwortung für die Evakuierung.

Es dauerte mehrere Tage, bis der erste Flieger landen konnte, die Schließung der Flughäfen am 22.3. verkomplizierte die Aktion. Der Beginn des Lockdowns erhöhte den Druck – bis zum 24.3 waren Tausende EU-Bürger in Hotels am Flughafen New Delhi einquartiert (auf eigene Kosten). Am nächsten Morgen gab das Management bekannt, die Hotels bis zwölf Uhr mittags zu räumen. Zum vermutlich ersten Mal überhaupt wurden in Bussen (und mit Sicherheitseskorte) Hunderte Deutsche und andere EU-Bürger direkt zur deutschen Botschaft im Nobelvorort Chanakyapuri transferiert und dort mit einem einfachen Packlunch verköstigt.

Dort entstand das Bild zum Artikel. Auf den ersten Blick denkt man womöglich an ein Freiluftkonzert, die Atmosphäre war wahrlich eine ganz andere. Wohl war nicht allen, die da auf dem Boden saßen, die Gefahr so bewusst wie dem Autor. Doch die Furcht war mit Händen zu greifen. Am späten Abend ging es wieder mit Bus und Eskorte zum Flughafen, der abgedunkelt und menschenleer war.

Kurz nach Mitternacht startete der erste Evakuierungsflug, ein bis zum letzten Sitz besetzter Airbus 380. Neben Deutschen waren auch andere EU-Bürger an Bord. In Frankfurt war, als ob nichts geschehen wäre, von Corona keine Spur. Keine Befragung oder Registrierung nach der Landung. Erst auf der ICE-Fahrt im praktisch leeren Zug war klar, dass auch in Deutschland einiges anders war wie sonst.

… und lasche Aufarbeitung

Es war von Anfang an klar, dass Teilnehmer der Rückholaktion einen Teil der Kosten tragen würden. Bis zum Juni hörte man nichts vom Auswärtigen Amt (AA), dem zuständigen Ministerium. Erst Mitte des Monats [5] berichteten verschiedene Medien, die Kostenbescheide des AA würden nun verschickt. Das war eine der Gelegenheiten, bei der sich Medienberichte und eigene Erlebniswelt nicht deckten.

Der Außenminister ließ verlauten, es seien alle Kostenbescheide verschickt. Das entsprach im Fall des Autors und mehrerer seiner Bekannten, die ebenfalls von der Rückholaktion profitierten, nicht der Realität. War das Absicht oder systemimmanentes Versagen? Fake News oder nur Murks? Im September [6] hieß es seitens des AA, viele Rechnungen seien unbeglichen, die Frist aber noch offen.

Im März 2021 [7], ein Jahr nach Beginn der Rückholaktion, musste das AA zugeben, etwa ein Drittel der Kostenbescheide noch gar nicht verschickt zu haben. Begründet wurde das mit hohem Arbeitsaufwand. Keine Erklärung gab es für den Umstand, warum es seit Mai 2020 anderslautende Meldungen aus dem AA gegeben hatte.

Am 25. Juni 2021 erhielt der Autor das erste Zeichen des AA in 15 Monaten. Umständlich entschuldigte man sich für den trägen Vorgang, ließ aber die Falschmeldungen weiter unerwähnt. Die Postanschrift – ein Kostenbescheid kann rechtlich nur per Brief zugestellt werden – sei im März 2020 verloren gegangen. Am 1. Oktober 2021, mehr als 18 Monate waren seit dem Evakuierungsflug vergangen, lag der Kostenbescheid über 600 Euro im Briefkasten des Autors.

Eher selten: Streit ums Geld

Kurz nach Weihnachten 2021 [8] veröffentlichte das AA mehr Zahlen. Von den tatsächlichen Flugkosten wurden den Teilnehmern der Rückholaktion zwischen einem Viertel und einem Drittel berechnet. Orientiert habe man sich am Preis eines günstigen Economy-Tickets. Nicht zur Debatte stand die Tatsache, dass die Flugzeuge auf dem Weg zu den Evakuierungen leer blieben.

Das ist eine kulante Sichtweise dessen, was man als Staat und damit Vertretung aller Bürger den Teilnehmern der Rückholaktion in Rechnung stellen kann. Laut AA haben 201 Empfänger eines Kostenbescheids gegen diesen geklagt und in 1.200 Fällen mussten Mahnverfahren eingeleitet werden. Der Autor kann kaum glauben, dass jemand, der mit ihm auf dem Rasen der deutschen Botschaft gelegen ist, zu dieser Gruppe gehört. Weiterhin konnten noch immer 500 Bescheide, hauptsächlich an Deutsche im Ausland, nicht zugestellt werden. Das AA geht davon aus, zwischen 70 und 75 Prozent der knapp 94 Millionen Euro Gesamtkosten zurückerstattet zu bekommen, 38 Millionen Euro davon durch EU-Beihilfen.

Andere Regierungen wie z.B. Frankreich, stellten ähnliche Kosten in Rechnung, waren aber nicht so kulant bei der Bezahlung. Zumindest in manchen Fällen kam man nur nach Vorkasse an Bord eines Air France Fliegers.

Corona in Indien

Die größte Minorität weltweit sind Inder, und ab Februar 2020 flohen sie in großer Anzahl nach Hause, zumindest jene, die es sich leisten konnten. Ihnen schlug nicht die Ablehnung entgegen wie vorher den Ausländern in Indien, auch wenn sie aus Ländern mit hohen Fallzahlen wie USA und UK kamen. Viele werden vermutlich diese Entscheidung bereut haben, die Bedingungen unter dem Lockdown-Regime waren kaum tragbar.

Es kam wie es kommen musste: Der Lockdown war löchrig wie ein Sieb [9], das Virus konnte sich praktisch ungehindert verbreiten, der Stillstand der Wirtschaft verpuffte wirkungslos. Bilder von Wanderarbeitern [10], die in sengender Hitze zu Fuß Hunderte und Tausende Kilometer über leere Autobahnen nach Hause zogen und massenhaft kollabierten, gingen um die Welt.

Ob im Frühjahr/Sommer 2020 mehr Menschen an Corona oder an den Folgen des Lockdowns starben, wird man nie wissen. Ebenso sind alle Zahlen und Statistiken bezüglich Corona in Indien mit äußerster Vorsicht zu behandeln. Während z.B. die Regierungen Pakistans und Nepals einfach nicht im Bilde darüber sind, was in ihren Dörfern und Städten vorgeht, steht die Regierung von Premierminister Narendra Modi eindeutig unter Manipulationsverdacht.

Ob Anzahl der Infektionen oder Toten, Stichproben [11] haben zehnfach höhere als die offiziellen Werte ergeben, häufig sogar noch mehr. Und immer wieder wurden Sinn und Zweck des Lockdowns in Frage gestellt. Nur Wochen nach dessen Ende wurden in manchen Gegenden bei zwei Dritteln der Bewohner Antikörper festgestellt.

Das alles sieht Narendra Modi völlig anders. Beim virtuellen Davoser Weltwirtschaftsforum am 28. Januar 2021 [12] erklärte er die Pandemie für besiegt und die Strategie seines Landes als vorbildlich für andere. Nur drei Monate später zerlegte die Deltawelle jede einzelne seiner Behauptungen und stürzte seine Regierung in ihre bisher schwerste Krise.

Rückkehr zur Normalität?

Wann Indien zur Normalität zurückfindet lässt sich sowenig sagen wie sonst wo. Zunächst muss man abwarten, wie Omikron verläuft, ob wie im April und Mai 2021 während Delta oder vielleicht doch weniger verheerend. Die Perspektiven für den internationalen Tourismus sind ziemlich ungewiss, es ist sehr fraglich, ob die Einreisezahlen vor Corona jemals wieder erreicht werden.

Touristenvisa gibt es erst seit Sommer 2021 wieder, jedoch nur für einen Monat und sie können nicht verlängert werden. Die Touristenvisa werden, was wenig überrascht, kaum in Anspruch genommen. Potentielle Besucher sind gewarnt und auf der Hut. Und in Zukunft soll es laut AA keine weiteren Rückholaktionen geben.

Der Popularität Narendra Modis und seiner Partei, der rechtsnationalistischen Bharatiya Janata Party(BJP) [13], werden die katastrophalen Fehler in der Pandemiebekämpfung sehr wahrscheinlich so wenig anhaben wie andere krasse, kaum für möglich gehaltene Fehler vorher.

Modi ist ein Populist, aber kein Despot oder Diktator. Er kann sich auf breite Zustimmung in der Bevölkerung stützen und kein anderer Politiker einer Oppositionspartei genießt annähernd sein Ansehen. Die indische Bevölkerung hat sich quasi selbst freiwillig diesem "Visionär" ausgeliefert. Die Mehrheit der Inder will einfach glauben, dass Modi ihr Land ins 21.Jahrhundert und an die Weltspitze führt.

Sie übersieht dabei, dass Modi und die BJP eben nicht die sozialen Voraussetzungen dazu schaffen. Eben auch die Ideologie der BJP, Hindutva [14], wird diese nicht herbeiführen. Ganz im Gegenteil: Hindutva will die Gesellschaft belassen, wie sie ist. Und Gift für die Gesellschaft, besonders für eine so heterogene wie die indische, ist es, die "Anderen" wie zum Beispiel Muslime, Christen und Dalits zu Sündenböcken zu machen.


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https://www.heise.de/-6321152

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.aljazeera.com/news/2020/3/24/foreign-tourists-face-hostility-in-india-amid-coronavirus-panic
[2] https://en.wikipedia.org/wiki/COVID-19_lockdown_in_India
[3] https://www.reuters.com/article/us-health-coronavirus-india-islam-insigh/the-religious-retreat-that-sparked-indias-major-coronavirus-manhunt-idUSKBN21K3KF
[4] https://de.wikipedia.org/wiki/COVID-19-R%C3%BCckholprogramm_der_deutschen_Bundesregierung
[5] https://www.tagesschau.de/inland/rechnung-rueckholaktion-101.html
[6] https://www.spiegel.de/reise/corona-rueckreisende-schulden-dem-staat-noch-44-3-millionen-euro-a-54645a26-f725-462e-b3cf-2f9858638b96
[7] https://www.tagesschau.de/inland/coronavirus-touristen-rueckholaktion-101.html
[8] https://www.tagesschau.de/inland/corona-rueckholaktion-107.html
[9] https://thewire.in/government/coronavirus-lockdown-extension-exit
[10] https://thewire.in/rights/with-temporary-shelters-haryana-and-up-try-to-stop-migrant-labourers-from-walking-to-villages
[11] https://www.npr.org/sections/goatsandsoda/2021/07/20/1018438334/indias-pandemic-death-toll-estimated-at-about-4-million-10-times-the-official-co
[12] https://www.youtube.com/watch?v=RouRDcMPwIs
[13] https://en.wikipedia.org/wiki/Bharatiya_Janata_Party
[14] https://en.wikipedia.org/wiki/Hindutva