Corona-Beginn in Indien und deutsche Rückholaktion
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Hunderte Gestrandete lagen Ende März 2020 auf dem Rasen der deutschen Botschaft in Neu Delhi und warteten auf die Evakuierung. Einer von ihnen war der Autor und nicht nur wegen der Hitze lief ihm der Schweiß aus den Poren
Ab Mitte März 2020 verursachte die aufkommende Corona-Pandemie um den ganzen Erdball den Ausnahmezustand. Praktisch alle Länder schlossen ihre Grenzen und verhängten Lockdowns. Expats, Reisende und Touristen weltweit kamen unter starken Druck, ihren Aufenthalt schleunigst zu beenden. Verständlicherweise wollten die meisten nicht auf unbestimmte Zeit in der Fremde ausharren.
Doch die Initiative, das Gastland zu verlassen, ging nicht immer nur von den Reisenden selbst aus. In manchen Fällen wurden sie aktiv aufgefordert, das Land zu verlassen oder sogar dazu genötigt und gezwungen. Und das vermutlich nirgendwo so häufig und nachdrücklich wie in Indien.
Für viele Indien-Liebhaber, Kenner und Dauerbewohner war das eine ganz neue Facette ihres Gastlandes. Natürlich, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus sind in jedem Land und in jeder Gesellschaft mehr oder weniger offen vorhanden. Und in der Anfangsphase von Corona kam es weltweit zu Gewalttaten gegen Fremde, die von "außen" (wo auch immer) das Virus ins Land gebracht haben sollten.
Aber das Verhalten der indischen Regierung und Bevölkerung hatten eine eigene Qualität. Reisende flohen vor dem herannahenden Virus. Aber mindestens so sehr fürchteten sie sich vor dem, was sie erwarten könnte, wenn sie nicht die nächste Möglichkeit ergriffen, das Land zu verlassen. Diese Vorahnung ließ den Autor in Schweiß ausbrechen – in Angstschweiß.
Indien zu Beginn der Corona-Krise
In praktisch allen Bundesstaaten und Touristenzentren wurden auf Regierungsanweisung ausländische Gäste zum Verlassen der Hotels aufgefordert und diese geräumt. Häufig gingen die Besitzer aber auch ohne direkte Anweisung gegen ihre Gäste vor. Zum ersten Mal überhaupt wurden Grenzen zwischen indischen Bundesstaaten geschlossen. Tausende Reisende, die förmlich auf der Flucht waren, blieben auf Straßen und Autobahnen hängen, während der beginnenden Sommerhitze.
Die sozialen Medien, die moderne Inkarnation der Gerüchteküche, schäumten über, die wildesten Geschichten wie angeblich Ausländer das Virus ins Land brächten und was andererseits diese von Indern zu befürchten hätten, waren im Umlauf. Die indische Regierung, wie so oft noch stärker überfordert als andere, goss häufig, beabsichtigt oder nicht, Öl ins Feuer. Zu Beginn eines Telefongesprächs wurde zuerst ein Text mit Vorsichtsmaßnahmen eingespielt, unter anderem mit dem Hinweis, sich fern von "Fremden" zu halten.
Höhepunkt war die Ankündigung Premier Modis am Abend des 24. März, nur wenige Stunden später einen zunächst auf drei Wochen begrenzten totalen Lockdown zu verhängen. Am 22. März waren die Grenzen und damit internationalen Flughäfen geschlossen worden.
Es schien unvorstellbar, wie das Land und seine Bevölkerung einen "totalen Lockdown" überstehen sollten. Andererseits waren nun alle, man kann es nicht anderes nennen, "Fluchtwege" versperrt. Verschärft wurde die Situation, dass, wie so oft im Krisenfall (nicht nur in Indien), religiöse und ethnische Minderheiten Opfer von öffentlicher und staatlicher Diskriminierung wurden.
Alles zusammen ergab eine nie dagewesene Drohkulisse mit völlig ungewissen Ausgang und unabsehbaren Konsequenzen. Nie fühlte sich der Autor in 18 Jahren Südasien, inklusive Pakistan, Afghanistan und mehrerer Erdbeben, subjektiv in größerer Gefahr als zwischen dem 22. und 25. März 2020 in Indien.
Schnelle Reaktion der Bundesregierung ...
Die Behörden in Deutschland fühlen sich wie die der meisten westlichen Staaten gegenüber ihren Bürgern, die "nur" zu touristischen Zwecken um die Welt reisen, nicht besonders verpflichtet. Das hat einige gute Gründe; man kann das verstehen. Es würde ausufern, wenn Reisende einerseits auf ihre persönliche Freiheit beständen und dann bei jedem Malheur nach dem Staat riefen. Wo sollten Grenzen gezogen werden und vor allem, wer soll das bezahlen? Für den Notfall muss man selbst vorsorgen, sich an eine deutsche Botschaft zu wenden, hat wenig Sinn.
Die Ausnahmesituation ab Mitte März 2020 jedoch veranlasste die Bundesregierung zu außerordentlichen Schritten, die mit seltener Schnelligkeit ausgeführt wurden. Innerhalb weniger Tage wurde ein Rückholprogramm für gestrandete deutsche Touristen beschlossen und begonnen. Unter der Leitung von Botschafter Walter Lindner übernahm die deutsche Botschaft in New Delhi in Indien die Verantwortung für die Evakuierung.
Es dauerte mehrere Tage, bis der erste Flieger landen konnte, die Schließung der Flughäfen am 22.3. verkomplizierte die Aktion. Der Beginn des Lockdowns erhöhte den Druck – bis zum 24.3 waren Tausende EU-Bürger in Hotels am Flughafen New Delhi einquartiert (auf eigene Kosten). Am nächsten Morgen gab das Management bekannt, die Hotels bis zwölf Uhr mittags zu räumen. Zum vermutlich ersten Mal überhaupt wurden in Bussen (und mit Sicherheitseskorte) Hunderte Deutsche und andere EU-Bürger direkt zur deutschen Botschaft im Nobelvorort Chanakyapuri transferiert und dort mit einem einfachen Packlunch verköstigt.
Dort entstand das Bild zum Artikel. Auf den ersten Blick denkt man womöglich an ein Freiluftkonzert, die Atmosphäre war wahrlich eine ganz andere. Wohl war nicht allen, die da auf dem Boden saßen, die Gefahr so bewusst wie dem Autor. Doch die Furcht war mit Händen zu greifen. Am späten Abend ging es wieder mit Bus und Eskorte zum Flughafen, der abgedunkelt und menschenleer war.
Kurz nach Mitternacht startete der erste Evakuierungsflug, ein bis zum letzten Sitz besetzter Airbus 380. Neben Deutschen waren auch andere EU-Bürger an Bord. In Frankfurt war, als ob nichts geschehen wäre, von Corona keine Spur. Keine Befragung oder Registrierung nach der Landung. Erst auf der ICE-Fahrt im praktisch leeren Zug war klar, dass auch in Deutschland einiges anders war wie sonst.
… und lasche Aufarbeitung
Es war von Anfang an klar, dass Teilnehmer der Rückholaktion einen Teil der Kosten tragen würden. Bis zum Juni hörte man nichts vom Auswärtigen Amt (AA), dem zuständigen Ministerium. Erst Mitte des Monats berichteten verschiedene Medien, die Kostenbescheide des AA würden nun verschickt. Das war eine der Gelegenheiten, bei der sich Medienberichte und eigene Erlebniswelt nicht deckten.
Der Außenminister ließ verlauten, es seien alle Kostenbescheide verschickt. Das entsprach im Fall des Autors und mehrerer seiner Bekannten, die ebenfalls von der Rückholaktion profitierten, nicht der Realität. War das Absicht oder systemimmanentes Versagen? Fake News oder nur Murks? Im September hieß es seitens des AA, viele Rechnungen seien unbeglichen, die Frist aber noch offen.
Im März 2021, ein Jahr nach Beginn der Rückholaktion, musste das AA zugeben, etwa ein Drittel der Kostenbescheide noch gar nicht verschickt zu haben. Begründet wurde das mit hohem Arbeitsaufwand. Keine Erklärung gab es für den Umstand, warum es seit Mai 2020 anderslautende Meldungen aus dem AA gegeben hatte.
Am 25. Juni 2021 erhielt der Autor das erste Zeichen des AA in 15 Monaten. Umständlich entschuldigte man sich für den trägen Vorgang, ließ aber die Falschmeldungen weiter unerwähnt. Die Postanschrift – ein Kostenbescheid kann rechtlich nur per Brief zugestellt werden – sei im März 2020 verloren gegangen. Am 1. Oktober 2021, mehr als 18 Monate waren seit dem Evakuierungsflug vergangen, lag der Kostenbescheid über 600 Euro im Briefkasten des Autors.
Eher selten: Streit ums Geld
Kurz nach Weihnachten 2021 veröffentlichte das AA mehr Zahlen. Von den tatsächlichen Flugkosten wurden den Teilnehmern der Rückholaktion zwischen einem Viertel und einem Drittel berechnet. Orientiert habe man sich am Preis eines günstigen Economy-Tickets. Nicht zur Debatte stand die Tatsache, dass die Flugzeuge auf dem Weg zu den Evakuierungen leer blieben.
Das ist eine kulante Sichtweise dessen, was man als Staat und damit Vertretung aller Bürger den Teilnehmern der Rückholaktion in Rechnung stellen kann. Laut AA haben 201 Empfänger eines Kostenbescheids gegen diesen geklagt und in 1.200 Fällen mussten Mahnverfahren eingeleitet werden. Der Autor kann kaum glauben, dass jemand, der mit ihm auf dem Rasen der deutschen Botschaft gelegen ist, zu dieser Gruppe gehört. Weiterhin konnten noch immer 500 Bescheide, hauptsächlich an Deutsche im Ausland, nicht zugestellt werden. Das AA geht davon aus, zwischen 70 und 75 Prozent der knapp 94 Millionen Euro Gesamtkosten zurückerstattet zu bekommen, 38 Millionen Euro davon durch EU-Beihilfen.
Andere Regierungen wie z.B. Frankreich, stellten ähnliche Kosten in Rechnung, waren aber nicht so kulant bei der Bezahlung. Zumindest in manchen Fällen kam man nur nach Vorkasse an Bord eines Air France Fliegers.