Corona: Einrichtungsbezogene Impfpflicht – Bundesverfassungsgericht lehnt Frage ab

Andreas von Westphalen
Verfassungsrichter über Paragraphenzeichen, Spritze und Virus

Das Verwaltungsgericht Osnabrück hatte um eine Überprüfung der Entscheidung zur sektoralen Impfpflicht gebeten. Karlsruhe bleibt auf Linie – mit einer bemerkenswerten Begründung.

Während die 2G-Regelung im Jahr 2021 und 2022 nur gewissermaßen als indirekte Impfpflicht verstanden werden kann, gab es im Pflege- und Gesundheitsbereich sowie bei der Bundeswehr eine einrichtungsbezogene Impfpflicht, die am 10. Dezember 2021 Bundestag beschlossen wurde und am folgenden Tag in Kraft trat.

In der Gesetzesbegründung (S. 30) heißt es zur Begründung ausdrücklich:

Die Impfung reduziert das Risiko, sich mit SARS-CoV-2 zu infizieren und Sars-CoV-2 an andere Menschen zu übertragen(!), substanziell.

Europarat hat Einwände

Zwei Wochen später verabschiedete die Parlamentarische Versammlung des Europarates die Resolution 2361, die durchaus als Widerspruch zur Impfpflicht verstanden werden kann. Dort wird im § 7.3. ff sehr deutlich gefordert:

• Es ist sicherzustellen, dass die Bürger darüber informiert werden, dass die Impfung nicht obligatorisch ist und dass niemand unter politischen, sozialen oder sonstigen Druck gesetzt wird, sich impfen zu lassen, wenn er dies nicht wünscht. (7.3.1)

• Es ist sicherzustellen, dass niemand diskriminiert wird, weil er nicht geimpft ist, wegen möglicher Gesundheitsrisiken oder weil er oder sie sich nicht impfen lassen will; (7.3.2.)

Diese Resolution ist eindeutig im Inhalt, allerdings nicht rechtsbindend.

Bundesverfassungsgericht prüft sektorale Impfpflicht

Am 27. April 2022 folgte das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe den Forderungen des Europarates nicht und wies eine Verfassungsbeschwerde ab.

Das Gericht entschied, dass die Regelung, wonach Mitarbeitende in Krankenhäusern, Pflege- und Altenheimen oder auch ambulanten Einrichtungen den Nachweis einer Covid-19-Impfung oder der Genesung von der Krankheit vorlegen müssen, um weiterarbeiten zu dürfen, rechtens und mit dem Grundgesetz vereinbar ist.

Bei seiner Entscheidung stützte sich das Bundesverfassungsgericht auf eine Reihe von Gutachten und Experteneinschätzungen, die insbesondere die Impfwirksamkeit bestimmen sollten, um eine Güterabwägung möglichst genau zu ermöglichen.

Bis zum 2. Februar 2022, so heißt es in der damaligen Entscheidung des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts, sollten folgende Fragen beantwortet werden:

a) Inwiefern trifft die Annahme aktuell (noch) zu, dass hochaltrige Menschen und Personen mit akuten oder chronischen Grundkrankheiten ein deutlich erhöhtes Risiko für schwere Covid-19-Krankheitsverläufe haben? Inwiefern trifft die Annahme aktuell (noch) zu, dass bestimmte Personengruppen weniger gut auf eine Covid-19-Impfung ansprechen und deshalb ein höheres Risiko tragen, sich – trotz Impfung – mit dem Coronavirus Sars-CoV-2 zu infizieren?

b) Inwiefern trifft die Annahme aktuell (noch) zu, dass sich geimpfte und genesene Personen seltener mit dem Coronavirus Sars-CoV-2 infizieren und sie, wenn sie trotz Impfung infiziert werden, weniger bzw. für einen kürzeren Zeitraum infektiös sind?

c) Inwiefern kann eine Covid-19-Impfung die Wahrscheinlichkeit verringern, sich mit künftig auftretenden Varianten des Coronavirus Sars-CoV-2 zu infizieren?

In ihrer Begründung zeigen sich die Richter überzeugt und erklären:

Zur Prävention stünden gut verträgliche, hochwirksame Impfstoffe zu Verfügung. Impfungen schützten nicht nur die geimpfte Person selbst, sondern reduzierten gleichzeitig die Weiterverbreitung der Krankheit.

Geimpfte und genesene Personen würden seltener infiziert und somit auch seltener zu Überträgern des Virus. Zudem seien sie, wenn sie trotz Impfung infiziert werden sollten, weniger und für einen kürzeren Zeitraum infektiös.

An einer anderen Stelle schreiben sie:

Dabei ist auch nicht erkennbar, dass die Impfwirksamkeit so sehr reduziert wäre, dass die Verwirklichung des mit dem angegriffenen Gesetz verfolgten Zwecks des Schutzes vulnerabler Menschen nur noch in einem derart geringen Maße gefördert würde, dass im Rahmen der Abwägung den widerstreitenden Interessen der von der einrichtungs- und unternehmensbezogenen Nachweispflicht Betroffenen von Verfassungs wegen der Vorrang gebühren müsste.

Zwar ist nach wie vor fachwissenschaftlich nicht gesichert, in welchem Maße die Schutzwirkung der Impfung mit der Zeit und abhängig von weiteren Faktoren konkret abnimmt. Auch bestehen keine gesicherten Erkenntnisse zur genauen Höhe des reduzierten Transmissionsrisikos.

Verwaltungsgericht hat Fragen

Am 26. August letzten Jahres entschied dann das Verwaltungsgericht Osnabrück im Zuge eines Klageverfahrens einer Pflegehelferin, der gegenüber mangels Vorlage eines Impf- oder Genesenennachweises ein Betretungs- und Tätigkeitsverbot ausgesprochen worden war, und die darauf klagte, dies auszusetzen, dem Bundesverfassungsgericht die Frage vorzulegen, ob der entsprechende Paragraf des Infektionsschutzgesetzes mit dem Grundgesetz vereinbar ist.

Der Hintergrund: Das Verwaltungsgericht zeigt sich unter anderem aufgrund der RKI-Files deutlich weniger von dem Ausmaß der Impfwirksamkeit überzeugt als das Bundesverfassungsgericht im Jahr 2022.

In der Pressemitteilung heißt es:

Zwar habe das Bundesverfassungsgericht bereits mit Beschluss vom 27. April 2022 (1 BvR 2649/21) die Verfassungsmäßigkeit der streitgegenständlichen Norm festgestellt. Aufgrund der nunmehr vorliegenden Protokolle des Covid-19-Krisenstabs des Robert-Koch-Instituts (RKI) sowie der in diesem Zusammenhang heute durchgeführten Zeugenvernehmung von Prof. Dr. Schaade, Präsident des RKI, sei die Unabhängigkeit der behördlichen Entscheidungsfindung in Frage zu stellen.

Das RKI habe das Bundesministerium für Gesundheit auch von sich aus über neue Erkenntnisse aus Wissenschaft und Forschung informieren müssen. Nach der Gesetzesbegründung sei der Schutz vulnerabler Personen vor einer Ansteckung durch ungeimpftes Personal ein tragendes Motiv für die Einführung der einrichtungs- und unternehmensbezogenen Impfpflicht gewesen.

Diese auf den Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts beruhende Einschätzung werde durch die nun veröffentlichten Protokolle des Instituts erschüttert. Der Gesetzgeber sei seiner Normbeobachtungspflicht nicht gerecht geworden. Da § 20a IfSG im Laufe des Jahres 2022 in die Verfassungswidrigkeit hineingewachsen sei, sei eine – erneute – Vorlage an das Bundesverfassungsgericht erforderlich.

Der Vorsitzende Richter sagte im Verfahren zudem:

Die Kammer hat nicht bloß Zweifel, sie ist überzeugt, dass bestimmte Grundrechtsbegriffe in der Pandemie verfassungswidrig waren.

Antwort aus Karlsruhe

Am 29. Januar veröffentlichte das Bundesverfassungsgericht seinen Beschluss. Die Richter der 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts erklärten die Frage des Verwaltungsgerichts Osnabrück für unzulässig und hielten an der Auffassung fest, dass die einrichtungsbezogene Impfpflicht während der Corona-Pandemie verfassungskonform war.

Die Verfassungsrichter waren der Auffassung, dass das Verwaltungsgericht ihre Frage nicht ausreichend begründeten.

In der Pressemitteilung heißt es:

Für die verfassungsrechtliche Schlussfolgerung, § 20a sei spätestens ab Oktober 2022 unter der Omikronvariante nicht mehr geeignet gewesen, dem Schutz vulnerabler Personen zu dienen, fehlt es schon an widerspruchsfreien Feststellungen. Denn das Vorlagegericht geht selbst von einem vorhandenen Übertragungsschutz aus, den die Impfung auch im Jahr 2022 weiterhin vermittelt habe. Dass dieser reduziert gewesen sein soll, kann von vornherein nicht die Geeignetheit im verfassungsrechtlichen Sinne infrage stellen. (…)

Mit den Einschätzungen der Ständigen Impfkommission, den Beurteilungen des Paul-Ehrlich-Instituts, den im Gesetzgebungsverfahren eingeholten Expertenmeinungen und einer Vielzahl von fachkundigen Stellungnahmen im Verfassungsbeschwerdeverfahren befasst sich das vorlegende Gericht nicht. Damit führt es auch nicht aus, warum die ursprünglichen Annahmen des Gesetzgebers im Laufe des Jahres 2022 die durch § 20a geschaffenen Grundrechtseinschränkungen nicht mehr getragen haben könnten. (…)

Feststellungen zur fachwissenschaftlichen Erkenntnislage betreffend den durch eine Impfung vermittelten Übertragungsschutz im Jahr 2022 fehlen, obwohl sich das Vorlagegericht hierzu gedrängt sehen musste. So wurde im Rahmen der im Fachgerichtsverfahren durchgeführten Beweisaufnahme auf die Studienlage in diesem Jahr hingewiesen, nach der die Übertragungswahrscheinlichkeit durch aufgefrischt geimpfte Personen um rund 20 % niedriger gewesen sei als diejenige bei ungeimpften Personen.

Warteschleife

Inwiefern man bei der hochkomplexen Lage und der deutschen "Datenkatastrophe" (Gert Antes) zu "widerspruchsfreien Feststellungen" gelangen und einen Fremdschutz von rund 20 Prozent erwarten kann und dies in Anbetracht der Impfnebenwirkungen (einem Thema, das man in der aktuellen Antwort aus Karlsruhe vergeblich sucht), ist, wie es aussieht, eine offene Frage.

Ein wichtiges Thema ist die einrichtungsbezogene Impfpflicht zumindest für eine Personengruppe in jedem Fall. An dieser Stelle sei daran erinnert, dass ein Bundeswehrsoldat im April dieses Jahres für die Weigerung, sich impfen zu lassen, zu einer Geldstrafe verurteilt wurde, und noch im Juli wurde ein ungeimpfter Soldat zu einer Gefängnisstrafe verurteilt.

Das Verwaltungsgericht Osnabrück lehnte auf Nachfrage von Telepolis eine Kommentierung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ab. Wie sich der Fall weiterentwickeln wird, bleibt abzuwarten. Wie auch offenbar abzuwarten bleibt, wann es in Deutschland mehr Wissen und Erkenntnisse zum Thema der Corona-Maßnahmen gibt.

Im Wahlkampf war die Aufarbeitung der Corona-Jahre kein besonderes Thema. Die bisherigen Anzeichen deuten darauf hin, dass es auch keine Bedeutung für die Koalitionsverhandlungen haben wird.