Corona-Impfstoffe: Viel mehr Nebenwirkungen als gedacht?

Stephan Schleim

BKK ProVita will nachgewiesen haben, dass es sehr viel mehr Impfnebenwirkungen gibt, als das Paul-Ehrlich-Institut offiziell erfasst. Ärzteverband wirft der Krankenkasse daraufhin "undifferenzierte Schwurbelei" vor

Wenn die Betriebskrankenkasse ProVita Medienaufmerksamkeit erzeugen wollte, dann ist ihr das gelungen: Sie schickte dem Paul-Ehrlich-Institut (PEI), das die Nebenwirkung der Corona-Impfstoffe offiziell erfasst, einen Brief. Und dann telefonierte der Vorstand der Krankenkasse, Andreas Schöfbeck, mit der Welt.

Die neuen Daten seien ein "Alarmsignal", sagte er der Zeitung aus dem Axel Springer-Imperium. Denn die Auswertung der Krankenkasse komme auf viel höhere Zahlen als das PEI. "Die ermittelten Zahlen sind erheblich und müssen dringend plausibilisiert werden."

Die Schlagzeilen der Zeitung sind deutlich: "Heftiges Warnsignal." Und: "Mehr Impf-Nebenwirkungen als bisher bekannt." Der Rest versteckt sich hinter einer Bezahlschranke. Gestern folgten viele weitere Medien. Es rauschte im Blätterwald.

Späte Klärung bei der BKK

Wer sich ein eigenes Bild von der Lage machen wollte, schaute erst einmal in die Röhre. Unter Blog & Aktuelles berichtet die Krankenkasse über das Gemüse des Monats (Spoiler: Lauch) oder veganen Lebkuchen-Tiramisu.

Auch die Presse-Seite verriet anfänglich nichts. Erst später am 24. Februar teilte man dort – interessanterweise als Reaktion auf den Welt-Artikel – immerhin den (zweiseitigen) Brief an das PEI mit der (einseitigen) Beilage über die (angeblichen) Nebenwirkungen. Da dürften die Telefone bei der BKK schon heißgeklingelt gewesen sein.

Der Brief an das PEI ist dort auf den 24. Februar datiert. Dann wäre er also erst abgeschickt worden, nachdem schon die Welt darüber berichtet hatte. Aber offensichtlich handelt es sich bei der Datierung um einen Fehler, denn im Brief wird das Bundesinstitut zu einer Reaktion bis zum 22. Februar (genau: 18 Uhr) aufgefordert. Wahrscheinlich wurde am 24. schlicht das PDF erzeugt und eilig auf die Presse-Seite gestellt. Besser spät als nie.

Das ist hier natürlich nicht der wesentliche Punkt. Wohl aber bemerkenswert, wenn die Krankenkasse dem PEI unsaubere Arbeit vorwirft. Schauen wir nun auf die Details.

Auswertung der BKK

ProVita will aus dem Datenbestand der Betriebskrankenkassen, der fast elf Millionen Versicherte umfasst, Informationen über Impfnebenwirkungen bezogen haben. Bisher würden dort die Daten vom 1. Januar 2021 bis "circa zur Hälfte für das dritte Quartal 2021" vorliegen, also vielleicht bis zum August.

Für diesen Zeitraum finde man 216.695 Fälle von Nebenwirkungen nach einer Corona-Impfung. Daraus zieht die Krankenkasse den Schluss:

Wenn diese Zahlen auf das Gesamtjahr und auf die Bevölkerung in Deutschland hochgerechnet werden, sind vermutlich 2,5 bis drei Millionen Menschen in Deutschland wegen Impfnebenwirkungen nach Corona Impfung in ärztlicher Behandlung gewesen.

BKK ProVita

Das entspreche etwa vier bis fünf Prozent der Geimpften. Das PEI habe für das gesamte Kalenderjahr 2021 aber gerade einmal 244.576 Verdachtsfälle für Impfnebenwirkungen erfasst. Die Zahlen scheinen also eklatant auseinanderzugehen, wie die Grafik aus der BKK-Beilage verdeutlicht:

Laut BKK ProVita unterschätzen die Zahlen des Paul-Ehrlich-Instituts die Häufigkeit von Impfnebenwirkungen erheblich

Der Brief der Krankenkasse endet mit dramatischen Worten: "Da Gefahr für das Leben von Menschen nicht ausgeschlossen werden kann, bitten wir Sie um eine Rückäußerung über die veranlassten Maßnahmen bis 22.2.2022 18:00 Uhr."

Kritische Analyse

Innerhalb dieser Frist hat das PEI nicht auf den Brief der BKK reagiert. Aufgrund des Datierungsfehlers wissen wir aber auch nicht, wie viel Zeit dem Institut gegeben wurde. Dessen neuester Sicherheitsbericht über die Impfstoffe gegen Covid-19 ist vom 7. Februar.

Darin sind die – auch von der BKK angeführten – 244.576 Verdachtsfälle einer Nebenwirkung (bei rund 149 Millionen Impfungen) gemeldet. Im Ergebnis gebe es 1,64 Meldungen pro 1.000 Impfdosen, für schwerwiegende Reaktionen 0,2 Meldungen pro 1.000. Mit anderen Worten: Für jede fünftausendste Impfung verzeichnet das PEI eine schwerwiegende Nebenwirkung.

Nun soll man bekanntlich keine Äpfel mit Birnen vergleichen. Das scheint die Krankenkasse hier aber gemacht zu haben: Denn während das PEI nur Impfnebenwirkungen erfasst, die über normale Reaktionen des Immunsystems hinausgehen, zählt die BKK anhand der von ihr erfassten Behandlungscodes wirklich alles, wofür ein Geimpfter sich an seinen Arzt oder seine Ärztin gewandt hat.

Impfstoffe sollen ja gerade das Immunsystem aktivieren. Deshalb sind vorübergehende Schmerzen oder eine Schwellung an der Einstichstelle oder auch eine erhöhte Temperatur häufig zu erwarten. In den Arztpraxen werden dann allein schon aus Gründen der Abrechnung bestimmte ICD-Codes eingegeben (konkret, laut BKK: T88.0, T88.1, Y59.9 und U12.9), die die Krankenkasse jetzt alle undifferenziert über einen Kamm schert.

Medienreaktionen

Am gestrigen Nachmittag veröffentlichte die Mitteldeutsche Zeitung einen Online-Artikel über den Vorfall. Darin kommt Dirk Heinrich zu Wort, Vorsitzender des Virchowbundes, das ist der Verband der niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte Deutschlands.

Der Mediziner wirft der Krankenkasse vor, bei ihrer Berechnung völlig unterschiedliche Dinge zu vermischen. Er kritisiert auch die undifferenzierte Verwendung der ICD-Codes. Schließlich suggeriert er, die BKK ProVita könne ein problematisches Eigeninteresse an einer Impfkritik haben:

Diese undifferenzierte Schwurbelei passt aber ganz offensichtlich in das Markenimage der Kasse, die mit Homöopathie und Osteopathie als Satzungsleistungen wirbt und sich selbst als "veggiefreundlichste Krankenkasse" tituliert. Offenbar will man vor allem Werbung in der impfkritischen Klientel machen.

Dirk Heinrich, Vorsitzender des Virchowbundes

Aus Kreisen von Impfgegnern wird Heinrich aber Befangenheit vorgeworfen. Schließlich sei der Facharzt für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde auch der medizinische Leiter des Hamburger Impfzentrums gewesen. Nach dieser Logik dürften sich wohl Ärztinnen und Ärzte, die ihre Patienten impfen, öffentlich gar nicht mehr über die Risiken von Impfungen äußern.

Auch das Ärzteblatt schaltete sich gestern in die Diskussion ein. Dort hat man zudem Kontakt mit dem PEI aufnehmen können. Demnach kann das Institut die Daten der BKK noch nicht beurteilen, da man keinen Zugang zu den Originaldaten oder der Auswertungsmethode habe.

Darin konkretisiert Dirk Heinrich, dass beispielsweise der von der Krankenkasse mitgezählte Code U12.9 für "nicht näher bezeichnete unerwünschte Nebenwirkungen bei der Anwendung von Covid-19-Impfstoffen" stehe. Im Zusammenhang damit von einer "Gefahr für das Leben von Menschen" zu sprechen, wie es die BKK in ihrem Brief tat, hält er für unangemessen.

Zweifel

Laut der Berliner Zeitung wandte sich ProVita nicht nur an das PEI, sondern schickte den Brief auch gleich an den GKV-Spitzenverband, die Bundesärztekammer, die Kassenärztliche Bundesvereinigung, die Ständige Impfkommission und den BKK Dachverband. Skurrilerweise zog Letzterer gestern aber auf dem offiziellen Twitterkanal die ganze Auswertung in Zweifel:

Stellungnahme zur Veröffentlichung der @BKKProVita zu vermeintlichen #Impfreaktionen: Wir teilen mit, dass die Daten nicht wie gemeldet vom BKK Dachverband stammen. Inhaltlich nehmen wir dazu keine Stellung.

BKK Dachverband e.V., @BKKDV (24.2.2022, 12:11 Uhr)

Die kleine Krankenkasse – mit nach eigenen Angaben nur 125.478 Mitgliedern – bekommt also sogar von ihrem eigenen Dachverband Gegenwind. Hatte sie überhaupt Zugriff auf die Daten, auf die sie sich in ihrem Brief an das PEI und zahlreiche andere Stellen beruft? Es wäre, wie wir gesehen haben, nicht der einzige Patzer.

Hat also Dirk Heinrich Recht, wenn er der BKK ProVita eine PR-Aktion unterstellt? In der Pressemitteilung des Virchowbunds findet der Vorsitzende jedenfalls scharfe Worte für das Vorgehen der Krankenkasse: Deren Schlussfolgerungen seien "kompletter Unfug" und basierten entweder auf "peinlichem Unwissen" oder auf "hinterlistiger Täuschungsabsicht".

Aufmerksamkeit

Die kleine Krankenkasse hat jetzt auf jeden Fall sehr viel Aufmerksamkeit erhalten. Ob sich das für sie positiv oder negativ auswirkt, muss sich zeigen.

Klar ist, dass ihr Vorgehen Wasser auf die Mühlen der Impfgegner ist. Deren Befürchtungen, man täusche die Öffentlichkeit systematisch über die Häufigkeit von Impfnebenwirkungen, wurden nun bestätigt. Dabei liegen die unterschiedlichen Zahlen offensichtlich an unterschiedlichen Zählweisen – Äpfeln und Birnen eben.

Die zeitliche Dynamik lässt aber Fragen aufkommen: Dem PEI, einer bürokratischen Bundesbehörde, ließ man scheinbar kaum Zeit für eine Reaktion. Am Mittwoch, unmittelbar nach Verstreichen der Frist, kommt die Welt mit dramatischen Schlagzeilen. Am Donnerstag folgt dann ein erhebliches Medienecho, das viele Menschen verunsichern dürfte. (Und da war ja auch noch etwas mit Ukraine und Krieg.)

Ob ProVita wirklich von einer Lebensgefahr für Geimpfte ausging, ist Spekulation. Aber, wohlgemerkt, eine Spekulation nach allein in Deutschland rund 150 Millionen verabreichten Impfdosen. Wenn es einem um Aufklärung geht, nicht um Aufmerksamkeit, dann hätte doch ein sorgfältigeres Vorgehen nahegelegen.

Das PEI will sich nun immerhin die Daten der Krankenversicherungen näher ansehen, um das Risiko von Impfnebenwirkungen besser zu verstehen. Dann dürfte es auch noch von offizieller Seite eine Reaktion geben. Doch die kostet eben etwas Zeit. Nicht alle Fragen sind Reif für das Twitter-Zeitalter.

In der Zwischenzeit lohnt ein Blick auf die Zahlen des Robert-Koch-Instituts (RKI) zum Zusammenhang zwischen Impfungen und Covid-Erkrankungen. Demnach (Stand 24. Februar) hatten beispielsweise in der Meldewoche 6 (also Anfang/Mitte Februar) von den Ungeimpften 18- bis 59-Jährigen rund 225 von 100.000 einen symptomatischen Covid-Verlauf. Bei den Geimpften waren es 191, bei denen mit Auffrischungsimpfung 118.

Gegen Krankenhausaufnahmen halfen die Impfstoffe noch viel deutlicher: So waren laut RKI unter den Menschen ab 60 Jahren bei den Ungeimpften rund 22 von 100.000 mit Covid im Krankenhaus. Bei den Geimpften waren es nur noch fünf und bei denen mit Auffrischungsimpfung nur noch zwei von 100.000.

Mit anderen Worten: Ohne die Impfungen war die Wahrscheinlichkeit für eine Krankenhausaufnahme rund zwölfmal so hoch! Nach wie vor scheint also dies der beste Schutz gegen schwere Covid-Verläufe zu sein: die Impfungen.

Hinweis: Dieser Artikel erscheint ebenfalls im Blog "Menschen-Bilder" des Autors