Corona-Pandemie: Als die Medien in den Lockdown gingen

Michael Hartmann, Sabine Schiffer

Bei der Coronapandemie stoßen Medien oft an ihre Grenzen. Bild: Kecko, CC-BY-2.0

Fallanalyse eines Medienversagens (Teil 1)

Während die Wissenschaft weiter diskutiert, wo genau der Ursprung des Sars-Cov2 Virus liegt und die Ursprungssequenzen sucht, suchen Medien nach einem Ausweg ihre Glaubwürdigkeit zu erhalten, denn viele hatten sich 2020 bereits festgelegt, dass die These einer natürlichen Übertragung vom Tier auf den Menschen (Zoonose) richtig, die Laborthese hingegen falsch sei.

Wir werden diese Frage nicht klären, weil sie auch die Wissenschaft nach wie vor nicht geklärt hat, aber wir werden der Frage nachgehen, wie es sein kann, dass Medien – die sich als Inbegriff der vierten Gewalt, also in einer machtkritischen Wächterfunktion sehen – sich für eine der beiden Theorien entschieden haben und diese lange als absolute Wahrheit verkündeten?

Aus medienanalytischem Interesse werden wir anhand einschlägiger Artikel des Nachrichtenmagazins Der Spiegel aufzeigen, wie (un-)seriös wir teilweise informiert wurde und gleichzeitig vermitteln, was die Framinganalyse in diesem Kontext leisten kann.

Es geht uns dabei ums Exemplarische, um die Einladung zum Anwenden der gleichen Methodik auf weitere Medienprodukte, und nicht um ein Einstimmen in den Reigen der Schuldzuweisungen, die – zumeist personalisiert – das strukturelle Problem von Faktizierungstendenzen in der Medienberichterstattung verfehlen.

Twitterzugänge zur wiederkehrenden Debatte um Corona-Ursprung

Personalisiert wird erneut auf Twitter die Debatte um den Ursprung von Sars-Cov2 und die Schuldfrage hochgekocht. Einen langen Thread postet der Journalist und Publizist Philipp Mattheis am 25. Januar 2022 zum Buch "Viral" von Alina Chan und Matt Ridley.

Darin zeigt er die wesentlichen Stationen der virologischen Ursprungssuche und der Debatte darüber auf: die Hypothesen und Unklarheiten. Der 21-teilige Thread, der die Stationen vom Corona-Virenfund in einer Mine 2021 bis zur Forschung im Wuhan Institute of Virology (WIV) nachzeichnet, endet in einem Spotify-Podcast von The Realignment zum Thema.

Das Ganze stellt im Wesentlichen eine Art Online-Rezension des Buches zur Suche nach dem Ursprung des Corona-Virus dar und bindet im Post Nr. 12 eine Kritik an den Chefvirologen der Berliner Charité, Christian Drosten, mit ein.

Drosten postet ebenfalls auf Twitter zum Thema. Am 3. Februar kritisiert er in einem Thread das Magazin Cicero und die Schweizer Tageszeitung NZZ, die ihn einhellig diskreditieren würden. Tatsächlich haben sich beide auffällig und explizit aufseiten der Laborthese positioniert, während Drosten die Zoonose favorisiert, und allein in einem Tweet vom 2. Februar führt Cicero einen personalisierten Angriff auf Drosten.

"Aus gegebenem Anlass" postet Drosten am 4. Februar eine alte Veröffentlichung aus The Lancet mit dem Verwehren gegen Spekulationen und Aufruf zur wissenschaftlichen Prüfung der Ursprungsfrage vom 19. Februar 2020.

Am 8. Februar 2022 verlinkt Drosten sein Interview mit der Süddeutschen Zeitung dazu und am 9. Februar dann empfiehlt er die Lektüre eines am selben Tag auf The Technology Review erschienen Artikels über die offenen Fragen zum Thema.

Es handelt sich auch um einen stark personalisierenden, aber dennoch detailreichen und lesenswerten Artikel von Jane Quiu, der viel um die sogenannte "Bat-Woman" kreist – also Dr. Shi Zhengli –, die seit der Entdeckung der Viren aus Fledermäusen 2012 als Laborleiterin in Wuhan sowohl für die erste Sequenzierung des neuartigen Coronavirus verantwortlich zeichnet, wie auch für den Verdacht eines Ursprungs durch ein Entweichen aus genau ihrem Labor, das bereits langjährig zu solch gefährlich Viren forscht.

In dem Text zieht sie am Ende ein enttäuschtes Fazit über die Debatte und die westlichen Medien, wie sie sie wahrnimmt:

"Gegenwärtig bin ich der Auffassung, wenn man Chinese ist, spielt es keine Rolle, wie gut man in seinem Job ist, denn man wird nach seiner Nationalität beurteilt", sagte sie. "Ich habe jetzt erkannt, dass die westliche Demokratie heuchlerisch ist und dass ein Großteil der Medien von Lügen, Vorurteilen und Politik gesteuert wird."

Shi Zhengli

Auch westliche Medien sind getrieben von Lügen, Vorurteilen und Politik?

Bevor wir dieser Behauptung genauer nachgehen, hier noch ein weiterer wichtiger Thread zum Themenkomplex auf Twitter, wo sich ja nicht wenige Journalisten und Nachrichtenagenturen tummeln. Der Philosoph und Publizist Adriano Mannino zeichnet in einem Thread vom 12. Februar 2022 eine Art Virologenstreit nach, wo – grob gesagt – auf der einen Seite eine Gruppe um Marc Lipstich von der Harvard School of Public Health und auf der anderen Seite die, die sich hinter Christian Drosten versammeln, gegenüberstünden.

Der 10-teilige Thread Manninos endet nach etlichen Verlinkungen mit Belegen über die Stationen der wissenschaftlichen Debatte in den zwei letzten Tweets mit folgenden Fragen bzw. Forderungen:

Die Medien sind leider kaum in der Lage, Drosten kritische Fragen zu stellen. Zwei Jahre hält die Pandemie an und wir haben keinen Diskurs über die Ursachen des Pandemierisikos – also darüber, wie wir verhindern, dass in den kommenden Dekaden hunderte Mio. Menschen dahingerafft 9/

werden und der Globus im Chaos versinkt. Wir diskutieren weder über Zoonosen (z. B.: Schließung von Wildtier- & Pelzmärkten/Tierzucht/Massentierhaltung im Rahmen internationaler Abkommen) noch über Laborunfälle & Bioterrorismus (z. B.: Stopp der GOF mit Pandemiepotenzial). 10/10

Adriano Mannino

Ob man das so pauschal schließen kann, sei dahingestellt. Aber – bei natürlich stets vorhandenen Möglichkeiten von Missbrauch im Sinne biologischer Kriegsführung (vgl. Seveso, Recherche von Ekkehard Sieker für den WDR) – man könnte hier vielleicht auf einem etwas bescheideneren Niveau ansetzen, um den relevanten Fragen nachzugehen.

Denn, auch wenn die Pandemiebekämpfung das Grundsätzliche verständlicherweise leicht aus dem Auge verlieren lässt, müssen wir feststellen, dass sowohl die mediale Debatte im Vergleich zur wissenschaftlichen auseinanderklafft, wie auch die politischen Entscheidungen sich nicht zwangsläufig am Wissenschaftsstand orientieren.

Letzteres hat der Journalist Andreas von Westphalen hier auf Telepolis bereits für die kuriosen Entscheidungen rund um den Genesenenstatus aufgeklärt.

Wir konzentrieren uns im Folgenden auf die Diskrepanz zwischen der Wissenschaftsdebatte rund um den Sars-CoV-2-Ursprung und der Medienleistung, hier exemplarisch – und vermutlich stellvertretend – am Beispiel einschlägiger Artikel des Leitmediums Der Spiegel. Konkret beschränken wir uns auf die Artikel von 2020 und 2021, die unter Beteiligung des China-Korrespondenten des Spiegel, Georg Fahrion, zu diesem Thema publiziert wurden.

Dabei möchten wir betonen, dass es uns nicht um die Person des Korrespondenten geht - also auf keinen Fall um die Personalisierung struktureller Probleme wie beispielsweise die Politiknähe der Hauptstadtreaktionen etc. -, aber, um die Fülle an Material einzugrenzen, das hier untersucht werden kann, dient er uns quasi als Auswahlkriterium; und möge uns das verzeihen.

Die Wissenschaft und die Medien

Kurz auf den Punkt gebracht und es ist auch nicht neu: Die Wissenschaft debattiert um den Ursprung des Sars-CoV-2 und hofft immer noch auf das Auffinden der Ursprungssequenzen – eventuell aus Virendatenbanken, die endgültige Gewissheit geben könnten.

Immer wieder – und das ist der Gang der Wissenschaft – mussten wegen neuerer Studien zu Covid-19 alte Modelle überdacht und angepasst werden. So auch im langjährigen Podcast von NDR-info mit Christian Drosten und Sandra Ciesek, Leiterin der Virologie an der Universitätsklinik Frankfurt.

Bereits bei der medialen Verarbeitung der teilweise zweistündigen Gespräche, die von Wissenschaftsredakteurinnen geführt werden, fiel auf, wie die Tendenz zur Zuspitzung und gleichzeitig Faktizierung in vielen Medien die sehr differenzierten und abwägenden Aussagen der Wissenschaftler veränderten – ein Dilemma, das vielleicht auch einen Teil des Hasses auf Drosten erklärt, der manchmal kaum auf seine Originalaussagen zurückführbar scheint.

In einem ausführlichen Gespräch zu genau dieser Problematik in der Bundespressekonferenz vom 13. November 2020 wird deutlich, dass die zuspitzenden Gegenüberstellungen durch Medien – etwa in Talkshows – gerade nicht erkenntnisfördernd, sondern unsachlich polarisierend wirken können.

Betrachtet man relevante Wissenschaftsartikel zum Herkunftsthema, die peer-reviewed in angesehenen Fachzeitschriften veröffentlicht wurden, dann lässt sich für die Zeit von Anfang/Mitte Februar 2020 bis in den Juli 2021 und eigentlich bis heute Folgendes festhalten: Die wissenschaftliche Debatte zu den verschiedenen Ursprungsthesen entwickelte und entwickelt sich weiterhin sehr dynamisch.

Dominant bleibt die Vermutung, dass das Virus aus Fledermäusen stammt (Zhou, P. et al. 2020 A pneumonia outbreak associated with a new coronavirus of probable bat origin). Endgültige Beweise gibt es dafür aber nach wie vor nicht.

Wie sich von der Fledermaus aus Menschen mit dem Virus infizierten, bleibt bis heute ebenfalls unklar (Frutos, R., Pliez, O., Gavotte, L., Devaux, C. 2021 There is no origin to SARS-CoV-2).

Zunächst bestimmte insbesondere die Wildtiermarktthese die wissenschaftliche Debatte (ProMED Undiagnosed pneumonia – China (HU): RFI). Nachdem relativ schnell auffiel, dass einige wissenschaftliche Indizien gegen sie sprachen (Huang, C. et al. 2020 Clinical features of patients infected with 2019 novel coronavirus in Wuhan, China), tauchten im April 2021 Publikationen auf, die diese These widerlegten (Pekar, J., et al. 2021 Timing the SARS-CoV-2 index case in Hubei province).

Da in der Vergangenheit einige Pandemien durch sog. Spillover-Events ausgelöst wurden, hält sich diese Vermutung auch bei Sars-CoV-2 bis heute. Jedoch konnte bisher weder endgültig ein Reservoir Tier noch ein möglicher Zwischenwirt ausgemacht werden (Frutos, R., Pliez, O., Gavotte, L., Devaux, C. 2021 There is no origin to SARS-CoV-2).

Daher ist die Übertragung des Virus durch eine Spillover-Zoonose auf den Menschen bis jetzt weiterhin nur eine Vermutung. Dadurch, dass bis heute keine Beweise für eine Zoonose gefunden werden konnten, bleibt auch die Laborthese weiterhin relevant in der Debatte (ebd.). Es gibt sogar einige Indizien, die diese stützen; so etwa die nun folgenden Erkenntnisse zur sog. Gain of Function-Forschung am WIV in Wuhan.

Gain-of-Function bedeutet: Experimentieren mit Krankheitserregern, um deren Übertragbarkeit und/oder Virulenz zu erhöhen. Die Veränderung von einzelnen oder mehreren Genen eines Virus kann dabei zu einer Verstärkung der Genaktivität führen oder sogar die Genfunktion verändern, so der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages in einer Übersicht zur globalen Gain-of-Funktion Forschung (GOF) vom 23. September 2021.

Dabei können gefährlichere Varianten eines Virus entstehen als in der Natur, die der Präventionsforschung dienen sollen. GoF an verschiedenen Coronaviren wurde bereits vor dieser Pandemie auch am WIV durchgeführt (Wiesendanger, R. 2021 Studie zum Ursprung der Coronavirus-Pandemie).

In dem Kontext ist die Rolle der EcoHealth Alliance aus den USA wichtig, weil deren Kooperation mit dem WIV die Gegenüberstellung von seriöser Forschung in den USA und unseriöser in China obsolet macht.

Über die von dem Zoologen und Epidemiologen Peter Daszak geleitete Alliance fließen US-amerikanische Steuergelder in die Gain-of-Funktion-Forschung auf chinesischen Boden, auch nach Wuhan. Und das, obwohl in den USA 2014 ein vorübergehendes Moratorium gegen GoF-Forschung verhängt wurde.

Durch diese an Gelder gebundene Zusammenarbeit von Daszak und dem WIV (teils vertreten durch Shi Zhengli) sind die finanziellen Abhängigkeiten von Daszak und dem WIV nicht von der Hand zu weisen, welche man ihm als Delegationsmitglied der WHO, die den Ursprung des Virus in China erkunden sollte, schließlich vorwarf. Insofern wird aber verständlich, warum er stets bestrebt war, die Laborthese im Keim zu ersticken.

Eine Art der Gain-of-Function Forschung am WIV war folgende: Es gelang den Forschern die Zacken der Coronavirus-Krone an menschliche Zellrezeptoren anzupassen und diese somit miteinander zu verbinden. Dadurch wäre kein Zwischenwirt mehr nötig, so die Studie Wiesendangers (ebd.).

Jedoch wurde, laut Aussage von Shi Zhengli am WIV, keine Gain-of-Function-Forschung mit Sars-CoV2 betrieben, so die New York Times vom 21. Juni 2021. Jedoch räumt sie ein, dass ihr Labor (WIV) Sequenzen von Sars-CoV2 besaß.

Deshalb fehlen weiterhin Beweise für die These eines Laborunfalls. Solange man nicht die Ursprungssequenzen des Virus gefunden hat, bleiben alle Theorien unbewiesen. Insgesamt lässt sich feststellen: Den Vorläufigkeitscharakter von forschender Wissenschaft bilden Medien nicht oder nur unzureichend ab.

Zum Umgang mit unsicherem Wissen exemplarisch im Nachrichtenmagazin Der Spiegel gibt es im Teil 2, der morgen erscheint

Sabine Schiffer leitet das unabhängige Institut für Medienverantwortung (IMV) in Berlin. In ihrem Lehrbuch "Medienanalyse" stellt sie das notwendige Handwerkszeug für die Analyse von Medienbeiträgen zusammen. Das IMV richtet sich an Medienschaffende und Mediennutzende gleichermaßen und klärt über Darstellungsmechanismen, Medieninhalte und Produktionsbedingungen auf und bietet Medienbildung in Seminaren, Publikationen und Konzepten.

Michael Hartmann hat als Student der Hochschule für Medien, Kommunikation und Wirtschaft in Frankfurt/Main im Rahmen seiner Bachelorarbeit den Umgang des Nachrichtenmagazins Der Spiegel mit der Frage zum Ursprung von Sars-Cov2 untersucht.