Genesene? Welche Genesene?
Nachdem das RKI die Dauer des Genesenenstatus halbiert hat, war das Unverständnis groß. Die Entwicklungen der letzten Woche haben es noch deutlich vergrößert
Am 14. Januar hatte das RKI auf seiner Webseite die Dauer des Genesenenstatus halbiert. Wie Telepolis berichtete, traf diese Entscheidung auf einen sehr breiten Widerspruch der Experten. Auch die beiden wissenschaftlichen Untersuchungen, auf die sich das RKI in seiner Begründung bezog, vermögen die Entscheidung, die von großer Relevanz für die Rechte von Millionen Menschen ist, kaum zu erklären, denn sie treffen schlicht keine Aussagen über die Dauer des Immunschutzes nach einer Infektion mit der Corona-Variante.
Rein logisch kann es diese Daten auch gar nicht geben, weil es aufgrund der Neuheit der Omikron-Variante noch gar keinen Fall eines Menschen geben dürfte, der nach einer Infektion mit Omikron sich bereits reinfiziert hat.
Zunehmendes Kopfschütteln
Das Unverständnis über diese Entscheidung hat diese Woche sicherlich zugenommen. Während allgemein nun der Genesenenstatus nur zwischen dem 28 Tag nach der Infektion und dem 90 Tag zugesprochen wird, gilt er im Bundestag weiterhin sechs Monate lang.
In Berlin wird derzeit zwischen zwei verschiedenen Arten des Genesenenstatus unterschieden. Die Berliner Zeitung erklärt, dass die 6-Monats-Regelung etwa bei 2G- und 2G Plus-Regelungen im Kultur- und Gastronomiebereich weiterhin gilt.
Auf EU-Ebene hat Deutschland zudem zugestimmt, dass Genesene sechs Monate lang keine Reisebeschränkungen zu befürchten haben.
Der Business Insider kommentiert:
Damit dürfte das Chaos um die Gültigkeit des Genesenen-Status in Deutschland wohl endgültig komplett sein.
Ein Versuch der Klärung der Zeitung versandete geradezu kafkaesk:
Im Auswärtigen Amt verweist man aufs Innenministerium, von dort auf das Bundesverkehrsministerium. Und im Bundesgesundheitsministerium wusste man von der Entscheidung der EU scheinbar bis zum späten Nachmittag auch noch nichts. Skurril: Außenministerin Baerbocks Staatsministerin Anna Lührmann stimmte sogar für die Sechs-Monats-Regel.
Ein Sprecher der EU-Kommission stellt daher im Hinblick auf Deutschland klar:
Das Mindeste, was wir alle erwarten können, ist, dass die Mitgliedstaaten diese Empfehlung auch umsetzen.
Einen Tag später erklärt das Gesundheitsministerium, die Empfehlung der EU sei rechtlich nicht bindend. Auf Anfrage des Nachrichtenportals Business Insider stellte das Ministerium dann klar, dass es keine erneute Änderung geben werde.
EU-Bürger werden in Deutschland drei Monate nach ihrer Infektion wie Ungeimpfte behandelt, sofern keine zusätzliche Impfung stattgefunden hat. Zahlreiche EU-Reisende dürfen in Deutschland also aktuell ein böses Erwachen erleben, wenn sie versuchen, einen Kaffee in einer Lokalität zu trinken.
Die Studienlage
Angesichts des deutschen Alleingangs und der Ausnahmeregelungen dürften diese Entscheidungen den Menschen nur schwer vermittelbar sein. Von Transparenz und vertrauenbildenden Maßnahmen ist die deutsche Politik derzeit leider weit entfernt. Der hessische Ministerpräsident Volker Bouffier erklärte, er fühle sich von Karl Lauterbach "persönlich hintergangen". "So etwas habe ich in 30 Jahren nicht erlebt", betonte Bouffier nach Angaben von Teilnehmern der Ministerpräsidentenkonferenz.
Betrachtet man die Studienlage gibt es eine Reihe von neuen Hinweisen darauf, dass die Entscheidung des RKI dem Stand der Wissenschaft widerspricht. Telepolis hatte bereits über eine Studie berichtet, die das Paul-Ehrlich-Institut gemeinsam mit der Universität Frankfurt am Main durchgeführt hatte.
Antikörper konnten "über mehr als 430 Tage nach der Infektion nachgewiesen werden, ohne dass ein Endpunkt absehbar war". Vor diesem Hintergrund ist auch eine weitere Studie des Paul-Ehrlich-Institut von Bedeutung:
Im Ergebnis weist die Untersuchung auf eine größere Vielfalt Spike-spezifischer Antikörper in Rekonvaleszenten im Vergleich zu Comirnaty-Geimpften hin. Ob dies jedoch einen klinisch relevanten Einfluss auf die Breite der Spike-spezifischen Immunantwort hat, lässt sich auf Basis der derzeit verfügbaren Daten noch nicht beantworten.
Zwei Untersuchungen widerlegen zudem die bisherige Festlegung des RKI, Genesenen im Hinblick auf das Impfzertifikat nur Hälfte der Schutzdauer von Geimpften zu gestatten, nämlich sechs Monate. Eine Studie der US-Gesundheitsbehörde berücksichtigte die Fallzahlen von 1,1 Millionen Menschen, die sich zwischen dem 30. Mai und dem 30. November 2021, infiziert hatten.
Sie kommt zum Ergebnis, wonach eine Genesung besser gegen eine erneute Delta-Infektion schützt als eine Impfung. N-tv kommentiert diese Studie:
In der Woche vom 3. Oktober war die Wahrscheinlichkeit einer Infektion bei geimpften Personen, die noch kein Covid hatten, drei- bis viermal höher als bei ungeimpften, genesenen Personen. In den Wochen vom 13. Oktober bis 14. November war in Kalifornien die Wahrscheinlichkeit, dass geimpfte Personen, die zuvor kein Covid hatten, ins Krankenhaus eingeliefert wurden, etwa dreimal so hoch wie bei ungeimpften Personen mit vorheriger Covid-Erkrankung.
Eine Studie aus Israel bestätigt die Einschätzung, dass eine Genesung besser schützt als eine doppelte Impfung. Spektrum der Wissenschaft schreibt hierzu:
Zwar schwand auch bei Genesenen mit der Zeit der Schutz vor einer Infektion, blieb aber auf einem höheren Niveau als nach zwei Impfdosen: Wer doppelt geimpft war, hatte ein halbes Jahr danach ein rund achtmal höheres Infektionsrisiko als ein Genesener. Ein frischer Booster reduzierte das Risiko auf ein Zehntel.
Ein Blick ins Krankenhaus
Zahlreiche Studien belegen eine Dauer des Immunschutzes von rund zwölf Monaten. Es gilt daher an dieser Stelle festzuhalten, dass das RKI schon mit der bis kürzlich geltenden Festlegung des Genesenenstatus auf sechs Monate neben oder hinter dem Forschungsstand lag.
Im Hinblick auf die Omikron-Variante zeigen die Daten aus Großbritannien, die das RKI als Beleg anführt. zwar eine Erhöhung der Wahrscheinlichkeit einer Reinfektion. Das ist aber nur die halbe Geschichte, wenn bei der Entscheidung über die offizielle Dauer des Genesenenschutzes weder der Schweregrad der Reinfektion berücksichtigt wird, noch dieser auch mit der Wahrscheinlichkeit verglichen wird, dass doppelt Geimpfte sich infizieren.
Ein Hinweis soll an dieser Stelle ausreichen, um die Wahrscheinlichkeit dafür zu betonen, dass Genesene auch bei Omikron besser geschützt sind als Geimpfte: Der aktuelle RKI-Wochenbericht schreibt (S. 28), dass es bei der Altersgruppe 18-59 Jahren zu 42.491 symptomatischen Infektionen mit der Omikron-Variante gekommen ist. Davon sind 23.509 Fälle von Menschen mit zwei Impfdosen und 10.894 Fälle von Menschen mit Booster-Impfungen.
Daraus folgt, dass knapp 81 Prozent symptomatischer Fälle von Erkrankungen an Omikron Menschen betreffen, die zwei- oder dreimal geimpft sind. Die Impfquote in dieser Alterskategorie beträgt 81,6 Prozent. Daraus kann man vermutlich folgern, dass im Hinblick auf die symptomatischen Fälle eine Impfung so gut wie keine Wirkung zeigt (im Hinblick auf schwere Krankenhausverläufe hilft die Impfung jedoch sehr wohl, wie die Zahlen des RKI ebenfalls zeigen).
Ein aktueller Blick in ein deutsches Krankenhaus offenbart Erstaunliches. Dem Mediziner Thomas Voshaar, Chefarzt der Lungenklinik am Bethanien-Krankenhaus Moers, fiel auf, dass in seiner Klinik kein einziger schwer Erkrankter auf der Intensivstation lag, der bereits eine Infektion überstanden hatte. Daher fragte er landesweit Kollegen in 13 Krankenhäusern nach deren Erfahrung. Im Focus berichtet Voshaar:
Abgesehen von einigen Fällen auf einer Normalstation und einem unklaren Status gab es in den Kliniken keine Schwerkranken bzw. auf den Intensivstationen keine Fälle von wegen einer Covid-19-Erkrankung behandelten Patienten, die bereits vorher einmal genesen waren.
Die Frage bedarf einer Wiederholung angesichts der Daten- und Faktenlage: Welche Begründung für eine Halbierung der offiziellen Dauer des Genesenenschutzes gibt es?
Ein Problem namens PCR-Test
Das Problem knapper PCR-Tests und Laborkapazitäten in Deutschland ist in aller Munde. Dem folgt die sogenannte Priorisierung als politische Konsequenz. Ein aus der Priorisierung entstehendes Problem ist die Verschlechterung der bereits schlechten Datenlage, denn das RKI kündigte schon an, in Zukunft die Inzidenzen künftig nur noch schätzen zu wollen. Da die Höhe der Inzidenz aber über Grundrechte der Menschen entscheidet, sollten hier Bedenken angemeldet sein.
In Hinblick auf die Genesenen ergibt sich aber ein grundlegendes Problem. Menschen, die sich infiziert haben, benötigen den Beleg ihrer Infektion durch einen PCR-Test. Man kann nur vermuten, dass dieses Problem täglich Tausende, wenn nicht Zehntausende Menschen betrifft. Der SWR kommentiert:
Ändert sich daran nichts, würde die Priorisierung eine extreme Einschränkung für Genesene mitbringen, die ohne einen entsprechenden Nachweis von vielen Bereichen des öffentlichen Lebens ausgeschlossen werden.
Ein Blick ins Ausland kann manchmal helfen. Beispielsweise wird in Frankreich seit jeher der Antigenschnelltest als Beleg für den Genesenenstatus akzeptiert (was wiederum ungeahnte Probleme für genesene Franzosen ergibt, die nach Deutschland reisen und deren Zertifikat nicht anerkannt wird, da die Genesung nicht durch einen PCR-Test belegt ist).
Auf eine Anfrage von Telepolis erklärte das RKI "derzeit (werde) geprüft, ob bei den Vorgaben für den Genesenennachweises ein Antigentest statt PCR ausreicht".
Bei der Übersicht des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte der Antigenschnelltests zeigt sich, dass sehr viele Schnelltests sich hinsichtlich Spezifizität und Sensitivität nur geringfügig von PCR-Tests unterscheiden. Hendrik Streeck befürwortet ausdrücklich auf den Antigenschnelltest zu setzen.
Nur eine Lösung
Die deutsche Politik scheint nach wie vor nur einen wirklichen Lösungsvorschlag zu kennen: die Impfung. Gerade vor dem Hintergrund der extrem hohen Infektionszahlen durch Omikron ist es erstaunlich, wie wenig Einfluss die Rate der Genesenen auf die Politik hat. Auch heute ist der Blick weiterhin auf die Impfquote fokussiert.
Bestätigt wird diese einseitige Politik auch durch die Einkaufsliste der Bundesregierung. "Deutschland hat 2021 aus den EU-Verträgen zur Beschaffung von Corona-Impfstoff in verschiedenen Tranchen rund 554 Millionen Impfdosen bestellt," so die Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der AfD. Über die Anfrage von Kathrin Vogler (die Linke) berichtete das ARD-Politikmagazin Report Mainz vorab:
Die Bundesregierung hat seit Beginn der Pandemie insgesamt mehr als 660 Millionen Dosen Corona-Impfstoff bestellt, die bis 2023 ausgeliefert werden sollen. (…) Wie viele der übrigen rund 400 Millionen Impfdosen tatsächlich in Deutschland verimpft werden sollen, ließ das Bundesgesundheitsministerium (BMG) auf Nachfrage von Report Mainz offen.
Anschaulich erklärt Kathrin Vogler: "Die insgesamt bestellten Dosen entsprechen pro Kopf der Bevölkerung, vom Baby bis zum Greis, fast acht Dosen Corona-Impfstoff." Eine Reduktion der Vorbestellungen sei "nur im Einvernehmen mit den Herstellern möglich".
Eine solche Anfrage liege aber beispielsweise bei Biontech nicht vor, wie Report Mainz berichtet. An dieser Stelle sei daher noch einmal an die Warnung von Marco Cavaleri, Leiter der Strategie für biologische Gesundheitsgefahren und Impfstoffe der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) erinnert: Boosterimpfungen "können einmal oder vielleicht zweimal verabreicht werden, aber wir können nicht davon ausgehen, dass sie ständig wiederholt werden sollten" Denn, so das Resumé von Cavaleris Pressekonferenz auf Bloomberg Press:.
Wiederholte Auffrischungsimpfungen alle vier Monate könnten die Immunreaktion schwächen und die Menschen erschöpfen.
Angesichts der rasant wachsenden Anzahl von Genesenen in Deutschland und dem sich abzeichnenden Willen der Bundesregierung in nächster Zeit, wiederholte Boosterungen durchzuführen, soll auch auf eine aktuelle Studie verwiesen werden, die belegt, dass Genesene bei der zweiten Impfdosis kaum mehr zusätzliche Antikörper bilden.
Wo ist der Ausgang?
Spanien hat entschieden, nun Sars-Cov-2 als eine normale Grippe zu behandeln und fordert andere EU-Länder auf, dies ebenfalls zu tun. Dänemark wird so gut wie alle Maßnahmen und Beschränkungen aufheben. Die Schweiz denkt konkret über Lockerungen nach.
Frankreich hat einen Fahrplan für die schrittweisen Lockerungen vorgestellt. Die Niederlande haben entschieden, weite Teile der Auflagen zu lockern. Großbritannien will die Corona-Maßnahmen zurücknehmen und auch Israel hat Lockerungen beschlossen.
Gesundheitsminister Karl Lauterbach kann sich zwar Lockerungen nach der Omikron-Welle Mitte Februar vorstellen. Worin diese dann bestehen könnten, ist bislang jedoch völlig unklar.
Daher kritisiert Klaus Stöhr:
Dass die Ministerpräsidenten nun am 24. Januar verkünden, in der Zukunft einen Exitplan erarbeiten zu wollen, ist ein Beispiel für die Qualität der strategischen Pandemiebekämpfung hierzulande.
Die drei Schritte des Prof. Streeck
Angesprochen auf seine Haltung zur allgemeinen Impfpflicht stellt Hendrik Streeck drei Schritte dar (ab Minute elf), die seines Erachtens durchgeführt werden sollten, bevor man eigentlich wirklich über Sinn oder Unsinn einer Impfpflicht diskutieren könne. Sein Hauptkritikpunkt an der Impfpflicht bezieht er ausdrücklich auf das Interesse der Politik am Genesenenstatus: "Wir behandeln den sehr stiefmütterlich."
Streeck betont, dass die Studienlage den sehr guten Schutz nach einer Genesung belege. Daher besteht seine klare Forderung nicht darin, die Festlegung der offiziellen Genesenenschutzdauer wieder auf sechs Monate zurückzusetzen, sondern sie lautet schlicht und eindeutig: Impfstatus und Genesenenstatus müssten gleichgestellt werden.
Als weitere notwendige Ergänzung schlägt Streeck vor, den Antikörper-Nachweis als Nachweis für den Genesenenstatus zu akzeptieren (bei Masern gilt dies ebenfalls in Deutschland). Als dritter Schritt ist eine repräsentative Studie notwendig, um herauszufinden, wie viele Menschen, keinen Schutz haben:
Wir wissen nicht, wer Schutz hat. Wir wissen gar nicht, über was für einen Prozentsatz in der Bevölkerung wir eigentlich reden, womit wir solche drakonischen Maßnahmen einführen wollen wie eine Impfpflicht. Ich habe die Sorge, wir rennen da hinterher, um etwas durchzupeitschen, eine Impfwunschquote.