Corona: Sehr hoher Anteil der positiv Getesteten nicht ansteckend?
Studie: PCR-Tests keine brauchbare Grundlage für politische Maßnahmen. Stattdessen sollen Hospitalisierungen und die Lage in den Krankenhäusern in den Fokus rücken
Die Aussagekraft von PCR-Tests wird neu bewertet. Wissenschaftler der Universität Duisburg Essen (UDE) legen Forschungsergebnisse zu den Tests vor, die eine Kritik bestätigen, die in der hitzigen Debatte darüber gerne in die Querdenker-, Schwurbler- und Covidioten-Ecke gekehrt wurde: "PCR-Tests allein haben eine zu geringe Aussagekraft, um damit Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung zu begründen", heißt es von Wissenschaftlern der Medizinischen Fakultät der UDE.
Maßnahmen zur Eindämmung von Corona wie etwa Kontaktbeschränkungen oder Ausgangssperren wurden und werden oft mit der durch PCR-Tests ermittelten Inzidenz begründet. Dem steht die Erkenntnis der Wissenschaftler gegenüber.
"Ein positiver RT-PCR-Test allein ist nach unserer Studie kein hinreichender Beweis dafür, dass Getestete das Coronavirus auf Mitmenschen auch übertragen können", erklärt Andreas Stang, Erstautor der Untersuchung und Direktor des Instituts für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie (IMIBE) des Universitätsklinikums Essen. Der klinische Epidemiologe schließt daraus für die Politik:
Die am Ende errechnete Zahl von SARS-CoV-2 positiv Getesteten sollte daher nicht als Grundlage für Pandemiebekämpfungsmaßnahmen, wie Quarantäne, Isolation oder Lockdown, benutzt werden.
Andreas Stang
Die Veröffentlichung, die diesen Aussagen zugrunde liegt, findet sich im Journal of Infection. Sie beruht auf der Auswertung von rund 190.000 Ergebnissen von mehr als 160.000 Menschen. Ihr Schluss, wonach positive Testergebnisse keine Grundlage für politische Maßnahmen sein sollten, wird mit der Viruslast begründet.
Bei vielen Infizierten sei sie nicht hoch genug, um andere anzustecken. Von den zwischen dem 8. März bis 10. Mai 2020 positiv Getesteten seien laut der Untersuchung demnach 78 Prozent "sehr wahrscheinlich nicht ansteckend" gewesen. Die Folgerung wird anhand des Ct-Werts gezogen.
Ihm kommt in der Untersuchung eine wichtige Stellung zu (wie auch wiederholt in der Diskussion über Covid-Maßnahmen in Diskussionsforen und Medienberichten). Der sogenannte Cycle-threshold-Wert (Ct-Wert) dient als Hinweisgeber darüber, wie groß die Viruslast und damit die Ansteckungsgefahr der positiv getesteten Person ist. Je mehr Zyklen es braucht, bis man genetische Informationen des Virus nachweisen kann, desto geringer das Ansteckungspotenzial.
"Liegt der Ct-Wert bei positiv Getesteten bei 25 oder höher, geht man derzeit davon aus, dass diese nicht mehr ansteckend sind, weil die Viruslast zu gering ist", so die Forscher aus der Medizinischen Fakultät in ihrer Arbeit. Sie untersucht, wie aus dem Titel hervorgeht, "Die Leistungsfähigkeit des Sars-CoV-2 RT-PCR-Tests als Werkzeug zum Nachweis einer SARS-CoV-2-Infektion in der Bevölkerung". Bei durchschnittlich etwa 60 Prozent der Getesteten mit Covid-19-Symptomen seien solch hohe CT-Werte nachgewiesen worden.
In den Wochen 10 bis 19 des Jahres 2020 waren es die oben genannten 78 Prozent, die sehr wahrscheinlich nicht mehr ansteckend waren, so Andreas Stang. Der Mediziner empfiehlt, den Ct-Wert stärker bei der Bewertung der Infektionen miteinzubeziehen, dazu das Abfragen von Covid-19-Symptomen bei Getesteten, um die Ergebnisse von RT-PCR-Tests besser bewerten zu können.
Dass man erst ab einer gewissen Viruslast infektiös ist, das ist nicht neu. Im September 2020 stellte Telepolis die Frage Was sagen die PCR-Tests für den Coronavirus aus? Auf einen Artikel der New York Times bezogen berichtete Florian Rötzer:
Testdaten, die die Zyklusschwelle beinhalten aus Massachusetts, New York und Nevada, so eine Überprüfung der NYT, würden zeigen, dass 90 Prozent der positiv Getesteten kaum mit Viren infiziert seien. Das würde bedeuten, dass nur ein Zehntel der positiv Getesteten isoliert werden müssten. Die CDC räumen ein, sie würden die Verwendung der Zyklusschwelle für politische Entscheidungen untersuchen. Ein Labor in New York hat auf Bitten der NYT die 793 positiven Tests im Juli mit einer Zyklusschwelle von 40 überprüft. Würde man die Schwelle auf 35 senken, würde die Hälfte nicht mehr als positiv gelten, bei 30 wären es schon 70 Prozent. In Massachusetts würden 85-90 Prozent nicht mehr als positiv gelten, wenn die Zyklusschwelle bei 30 liegt.
Florian Rötzer
In der politischen Diskussion wurde dieses Argument jedoch lange nicht gehört. Stattdessen rücken nun Hospitalisierungen und die Lage in den Krankenhäusern in den Fokus. "Es ist möglich, dass wir zu ein Stadium kommen, in dem wir nur noch Krankenhausaufenthalte überwachen", kommentiert Jennifer Nuzzo, die für die Darstellung der Pandemie durch das Johns Hopkins University's Coronavirus Resource Center mitverantwortlich ist ("Covid-Counting erlebt eine neue Ära", Bloomberg).
Die Intensivbettenbelegung sei geeigneter als Infektionszahlen ("die größte Schwierigkeit in der Interpretation") beschied Stang, der Chef des Instituts für Medizinische Informatik in Essen, dem Deutschen Ärzteblatt schon vergangenes Jahr.
"Sie liefert für mich die klarste Auskunft darüber, wie problematisch der Verlauf der Pandemie aktuell ist", so der klinische Epidemiologe im Interview mit der Fachpublikation (Nr. 43/2020). "Verlässliche Angaben zur Intensivbetten-Belegung" sowie zur "Mortalität zur jeweiligen Zahl der Todesfälle in Zusammenhang mit Covid-19" nennt Stang aktuell als Beispiele für geeignetere Maßgaben als PCR-Testergebnisse.
Die Betonung liegt auch auf dem Begriff "verlässliche Angaben". Wie Prüfer des Bundesrechnungshofes kürzlich ans Tageslicht brachten, gehört die Zahl der verfügbaren Intensivbetten nicht unbedingt dazu, weil damit Geschäftsinteressen verbunden sind (Corona-Krise: Wo sind die Intensivbetten?).