Covid-19: Bereits 2012 gab es Planspiele mit dem hypothetischen Erreger "Modi-SARS"
In Deutschland hat das Vorsorgeprinzip versagt. Warnungen wurden missachtet, die Bevölkerung hingehalten - Britischer Systematiker: Durchseuchungsrate in Europa liegt bei 0,9 Prozent
Die fatale Rolle der Politik bei der Entstehung der derzeitigen Krisensituation wurde auf Telepolis bereits thematisiert. Jetzt wäre mal nachzuhaken, denn es wurde auch versäumt, fixierte Prinzipien des Bevölkerungsschutzes umzusetzen. Anders gesagt, die nötigen Richtlinienvorgaben wurden den Falschen überlassen. Nach dem furchterregenden Anstieg der Fallzahlen im Laufe des März mag man das Kalendarium probeweise mal um einen Monat zurückstellen und auf die auch von Renate Dillmann zuletzt so genannte Phase I zurückzugehen. Es war die Phase, die eigentlich allen hätte vor Augen führen müssen: Jetzt erwischt es auch uns, Deutschland kommt nicht davon! Covid-19 ist kein Problem der Anderen. Es ist unser Problem.
Inzwischen ist es unser Problem
Während ich das hier aufschreibe, meldet das RKI 52.500 Fälle (Stand: 29.03.2020, 23:00); laut Dashboard der Johns-Hopkins-Universität, die weitere Quellen heranzieht, gibt es in Deutschland bereits über 61.000 bestätigte Infizierte. Die Dunkelziffer liegt nach Schätzungen zwischen dem Zwei- bis Zehnfachen; ein britischer Professor kommt noch zu ganz anderen Werten, dazu später mehr.
Am 26. Februar, um einen Ausgangspunkt zu nehmen, gab es in Deutschland 8 neue Coronafälle pro Tag. Die Kurve der Neuinfektionen stieg darauf (höchst absehbar) im März rasant an, sie zeigt tageweise für den 5. März 175, für den 10. März 562, für den 20. März 3.300 (!) Neuinfizierte (Covid-19-Fälle/Tag, Quelle: RKI). Derzeit schwächt sie sich auf den einzelnen Tag bezogen zwar ab, aber es gibt keinen vernünftigen Grund zur Entwarnung.
Es gibt aber Grund, sich zu erinnern. Spätestens nach den tollen Tagen, die sich in NRW als tödlicher Brandbeschleuniger erwiesen, kamen Zweifel auf, ob wir es mit einer mehr oder weniger harmlosen "härteren Grippe" oder nicht viel eher mit einer Epidemie mit denkbar verheerenden Ausmaßen zu tun bekommen würden. Entschlossene Maßnahmen und weitsichtige Krisenarbeit ließen bundesweit auf sich warten.
Zögerliche Verantwortliche verpassten genau diejenige Phase, auf die es ankam. Was war mit der grundgesetzlichen Verantwortung in dem sich anbahnenden Geschehen? Im Amtsdeutsch: Die "potentielle Bundesrelevanz" dürfte eigentlich auf der Hand gelegen haben. "Virologen und das Robert Koch-Institut bestimmen die Richtlinien der Politik, was laut Grundgesetz der Bundeskanzlerin zukommt", notierte Günter Bannas, Kolumnist des Hauptstadtbriefs, richtigerweise.
Bundestagsdrucksache 17/12051: Grundgesetzliche Verantwortung?
Dabei mangelte es zu keinem Zeitpunkt der Krise an Warnhinweisen, es gab sogar längst ein ausführliches Dokument zur Risikoanalyse im Bevölkerungsschutz, und zwar seit 2012 (veröffentlicht als Bundestagsdrucksache 17/12051 am 03.01.2013). Es handelt sich hierbei um eine ressortübergreifende Risikoabschätzung, erstellt und publiziert als Unterrichtung durch die Bundesregierung. Höchstamtlicher geht's wohl nicht.
Ab der S. 57 des Berichts wird das Szenario eines "außergewöhnlichen Seuchengeschehens" durchdekliniert. Die schützenswerten Güter werden kategorisiert und nacheinander aufgeführt: Mensch, Umwelt, Volkswirtschaft und sog. immaterielle Güter (dazu zählen Auswirkungen auf die öffentliche Sicherheit und Ordnung, politische Auswirkungen, psychologische Auswirkungen und die Schädigung von Kulturgut). Die getroffene Risikoabschätzung berücksichtigt (Zitat:) "solche Gefahren und Ereignisse, die eine potentielle Bundesrelevanz haben, das heißt bei deren Bewältigung der Bund in besonderer Weise im Rahmen seiner (grund-)gesetzlichen Verantwortung gefordert sein kann."
Szenario eines "außergewöhnlichen Seuchengeschehens"
In dem Papier wird so ziemlich alles durchgespielt, was wir in diesen Tagen reichlich verspätet als angebliches Krisenmanagement antreffen: Anti-epidemische Maßnahmen, phasenorientierte Handlungsempfehlungen, Krisenkommunikation, behördliche Maßnahmen, Abschätzung der Auswirkungen auf die genannten Schutzgüter, Verfolgung der Entwicklung der Ausbreitung und der Zahl der Neuerkrankungen etc. etc.
Ein fiktives Szenario, abgeleitet aus bereits gemachter Erfahrung, führt dem Leser ein solches "außergewöhnliches Seuchengeschehen" vor Augen. Es liest sich wie ein Vorgriff auf die gegenwärtige Krise. Unwillkürlich fragt man sich, wieso wurde auf das Planspiel in Phase I der Coronakrise nicht zurückgegriffen? Man wusste auf Basis amtlicher Aussagen von 2012 definitiv, was ein Ausbruch wie der jetzt eingetretene bedeutet (Stand: 10.12.2012).
Planspiel mit einem hypothetischen Erreger
Anhang 4 des Papiers bietet das, was wir gerade durchmachen, nämlich Eintritt und Verlauf einer Pandemie, im Dokument veranschaulicht als Pandemie durch Virus "Modi-SARS", ein im Planspiel vorausgesetzter hypothetischer Erreger:
Dem Szenario ist der zwar hypothetische Erreger "Modi-SARS"zu Grunde gelegt, dessen Eigenschaften (…) sehr eng an das SARS-Virus angelehnt ist. Die Vergangenheit hat gezeigt, dass Erreger mit neuartigen Eigenschaften, die ein schwerwiegendes Seuchenereignis auslösen, plötzlich auftreten können (z.B. SARS-Coronavirus [CoV], H5N1-Influenzavirus, Chikungunya-Virus, HIV).
Liest man das angenommene Szenario genauer, so findet man sich in der Realität wieder. Es heißt (wie gesagt, Fiktion 2012):
Das Ereignis beginnt im Februar in Asien, wird dort allerdings erst einige Wochen später in seiner Dimension/Bedeutung erkannt. Im April tritt der erste identifizierte Modi-SARS-Fall in Deutschland auf. Dieser Zeitpunkt bildet den Ausgangspunkt des vorliegenden Szenarios.
Weiter:
Der Erreger stammt aus Südostasien, wo der bei Wildtieren vorkommende Erreger über Märkte auf den Menschen übertragen wurde (…). Durch diese zoonotische Übertragung [Übertragung auf den Menschen] in Gang gesetzte Infektketten konnten (...) retrospektiv nachvollzogen werden (…). Heimische Haus- und Nutztiere sind durch Modi-SARS nicht infizierbar (…).
Das muss kaum kommentiert werden. Hier sind basale Parameter erfasst, ein absehbares (inzwischen Realität gewordenes) Seuchengeschehen ist kaum noch exakter abzubilden. Ein Modellfall unserer Zustände.
Komplett verschlafen: Das Vorsorgeprinzip
Schon 1992 schlossen sich 172 Staaten auf der UN-Konferenz in Rio (Konferenz der Vereinten Nationen für Umwelt und Entwicklung im Juni 1992 in Rio de Janeiro) dem sog. "Vorsorgeprinzip" an. Das Vorsorgeprinzip - Kapitel 35 Absatz 3 der Agenda 21 der UNCED 1992 - zielt darauf ab, trotz fehlender Gewissheit bezüglich Art, Ausmaß oder Eintrittswahrscheinlichkeit möglicher Schadensfälle vorbeugend zu handeln, um diese Schäden von vornherein zu vermeiden (Hervorhebungen vom Autor).
Als Corona feststellbar um Weihnachten in China ausgebrochen war, wäre es richtig gewesen, jeden Reisenden aus China vorbeugend (!) zu registrieren, zu kontrollieren und zu testen. Nichts von dem geschah. Reisende aus Fernost spazierten - Chinesen oftmals mit Atemschutzmaske - durch die Ankunftshallen der deutschen Flughäfen und entschwanden mit Bussen, Bahnen oder Taxen. Ähnliche Bilder sah man - es wurde gerade getrommelt, dass der Iran als eine der weiteren Drehscheiben Coronas in Betracht kam - mit Fluggästen, die aus dem Iran nach Deutschland einflogen. Es war die Phase I, die komplett unterschätzte Phase.
Entwicklungsland Ägypten? Entwicklungsland Deutschland!
Nachdem mir ein früherer Kollege vorige Woche schrieb, dass Freunde von ihm Ende Februar (!) bei der Einreise nach Kairo 4 Stunden am dortigen Flughafen von einem ägyptischen Gesundheitskommando durchgecheckt wurden, bevor sie weiterreisen durften, nach dem Rückflug zwölf Tage später in Deutschland jedoch flott durchgewunken wurden, fand ich die Lektüre der 2013 herausgegebenen Bundesdrucksache zur Risikoanalyse im Bevölkerungsschutz noch angebrachter. Noch aktueller.
Der slowenische Philosoph und Kulturkritiker Slavoj Žižek zeigt sich unterdes im Interview fassungslos darüber, dass in der Coronakrise Regierungen noch immer auf eigene Faust handeln - und fast immer zu spät. Schon seit Wochen fordert er eine globale Strategie mit streng koordinierten Maßnahmen - um etwa Beatmungsgeräte in Massen zu bauen. Im Krieg gehe so etwas doch auch immer, meint er sarkastisch.
Das Versagen des RKI in der Kernfrage
Tag für Tag legt uns beim abendlichen Corona-Ritual das Robert-Koch-Institut Zahlen vor und knüpft daran gerne mehr oder minder belastbare Deutungen, zuletzt etwas vorsichtiger, wobei alle irgendwie hoffen, es gehe gut aus. Zweifel an den Rechenkünsten der Virologen kommen von einem britischen Statistiker. Mark Handley, Professor für Netzwerksysteme am University College London (UCL), stellt mit seinen Rechenexempeln grundsätzlich die Frage, ob Virologen zusammen mit Politikern in der Krise richtig liegen.
Handley hat die weltweiten Fallzahlen untersucht und grafisch analysiert. In seinen Darstellungen erkennt man die Anzahl Infektionen pro Million Einwohner über die Zeit. Das Wachstum der Infektionen verläuft exponentiell, was bedeutet, dass sich ein Wert in gleichen zeitlichen Abständen immer um denselben Faktor verändert. Bezogen auf das Coronavirus heißt das, dass sich die Anzahl Infizierter innerhalb einer gewissen Zeit verdoppelt. Exponentielles Wachstum beschleunigt sich stark: Es braucht nur zehn Verdoppelungszyklen, um von tausend Fällen auf eine Million zu kommen.
Handley wendet eine logarithmische Skala an und vergleicht so die Zuwachsraten der einzelnen Länder. Bei der Interpretation der Daten muss beachtet werden, dass üblicherweise die gemachten Angaben der effektiven Entwicklung hinterherhinken. Zudem sind die Kurven zeitlich versetzt, weil die Epidemie nicht in allen Ländern gleichzeitig begonnen hat.
Eine halbe Million echt Infizierte - rasant ansteigend
Die Kernfrage ist laut Handley, wie hoch der wahre Infektionsgrad der Bevölkerung ist. Dafür gibt es seit dem 21. März immerhin einen Anhaltspunkt dafür, der aus Island kommt. Dort wurden in der Woche knapp 5.600 zufallsmäßige Tests unter gesunden, nicht unter Quarantäne stehenden Personen durchgeführt. Das Ergebnis fiel ernüchternd aus: Beinahe 0,9% der "Gesunden" waren tatsächlich infiziert.
Die täglichen Analysen Mark Handleys am UCL legen nahe, dass Island als Modellfall dienen kann, das heißt, dass das Land eine ganz ähnliche Infektionsdynamik hat wie die anderen kerneuropäischen Länder. Die daraus abzuleitenden Erkenntnisse bedeuten per 25. März: Würde Deutschland im Vergleich "nur" bei etwa 0,7% Durchseuchungsrate liegen (so die Annahme), gäbe es hierzulande 564.000 echte Infizierte. Die Zahl würde bis zum 4. April auf rund 2 Millionen Coronainfizerte steigen. Die Arbeit des UCL zeigt, belastbare Daten sind nur zu bekommen, wenn man mehr testet.
Der NRW-Kreis Heinsberg, der als das deutsche Epizentrum der Krise Schlagzeilen machte, hat begonnen, diesen Schritt zusammen mit Forschern der Uni Bonn zu gehen. Man will jetzt nicht nur die Übertragungswege ergründen, sondern sich auch darauf konzentrieren, endlich größere Klarheit über die Dunkelziffer der Angesteckten zu gewinnen.
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