Angst vor dem Virus, Vertrauen auf den Staat?
- Angst vor dem Virus, Vertrauen auf den Staat?
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Krisen-Politik: Wie ist die "ernste Lage", die die Kanzlerin in ihrer Rede an das Volk zitiert hat, überhaupt zustande gekommen?
Im Augenblick überschlagen sich sowohl die Nachrichten wie die Diskussionen. Es passiert viel und es passiert schnell - der Ausgang ist offen. Insofern ist klar, dass auch vieles schnell in Vergessenheit geraten wird. Entscheidungen, ihre Reihenfolge, ihre Gründe wie ihre Konsequenzen - all das geht unter in dem "dynamischen Geschehen", in dem wir uns befinden. Es ist daher wichtig - auch im Hinblick auf eine spätere Analyse - einige "Scharnierstellen" des bisherigen Verlaufs festzuhalten.
Zugleich will der Artikel eine Frage aufwerfen: Wie ist die "ernste Lage", die die Kanzlerin in ihrer Rede an das Volk zitiert hat, überhaupt zustande gekommen?
Diese "Lage" ist nämlich nicht - wie das Wort suggeriert - einfach "vorgefunden", ganz ohne das Zutun der politischen Entscheider, die umgekehrt einzig und allein für das "Lösen der Probleme" zuständig sein sollen.
In Bezug auf andere Länder ist die deutsche Presse in diesem Punkt sehr hellsichtig: Man erkennt, wie gezögert, versäumt, heruntergespielt, desinformiert und wertvolle Zeit vertan wird - dort! Man deutet auch mit ausgestrecktem Zeigefinger auf die "schlechten Gesundheitssysteme", die nicht in der Lage sind oder sein werden, die Patienten zu bewältigen - dort! Und man stellt insbesondere die Länder an den Pranger, die unter Sanktionen, auch deutschen, so leiden, dass es bei ihnen massenhaft Tote geben wird, wie den Iran oder Venezuela.
Aber hier, im eigenen Land, ist es anscheinend nicht so einfach möglich, zu erkennen, dass einige politische Entscheidungen nicht unmaßgeblich dazu beigetragen haben, dass ein Virus solche Folgen zeitigt. Deshalb eine kleine Erinnerungshilfe.
Phase I: Bagatellisierung
Mitte Dezember gab es die ersten (öffentlich gemachten) Nachrichten von einem neuen Virus in China. Sehr lange wurde das in Deutschland von Presse und Politik als pur chinesisches Problem gehandelt und verkündet, dass für die deutsche Bevölkerung nicht der geringste Anlass zur Sorge bestehe.
Der deutsche Gesundheitsminister Jens Spahn sagte im Fernsehen, dass jede anständige Grippe-Welle in Deutschland gefährlicher sei - als seien die zitierten 25.000 Grippetoten aus 2018 und der Ausnahmezustand in den Kliniken, den es damals schon gab, ein gutes Argument dafür, sich um das neue Virus nicht groß zu kümmern.
Und das, obwohl schon der Ausbruch des Sars-Virus 2002 deutlich gemacht hatte, wie schnell sich in "Zeiten der Globalisierung" so etwas über den Erdball verbreitet. Anders als im "autoritären China" sei es im freien Westen unmöglich, die Bürger mit "Zwangsferien" (!) und strenger Quarantäne zu bevormunden, sprich: Hier herrscht business als usual - Warenproduktion und -verkehr sowie das weltweite Fliegen werden nicht eingeschränkt.
Das Virus erreicht in der Folge Europa, besonders Italien und Deutschland, und nach ein paar weiteren Wochen des stinknormalen kapitalistischen Alltags mit ÖPNV und Arbeiten samt Karneval und Fußball gehören die Nachrichten vom Ansteigen der Infektionen zu den täglichen Topthemen.
Spätestens jetzt werden wesentliche politische Entscheidungen getroffen. Denn es gibt durchaus Virologen (wie Alexander Kekulé), die in dieser Zeit schon einschneidende Maßnahmen wie Schul- und Kitaschließungen zur Unterbrechung der Infektionskette fordern. Das allerdings ist zu diesem Zeitpunkt keine Option für die Bundesregierung oder die Länder.
Aus einer Mischung von anti-chinesischen Reflexen, einer gehörigen Einbildung über die Qualität des deutschen Gesundheitssystems, vor allem aber aus der politisch-ökonomischen Zielsetzung, dass Deutschland die Notwendigkeiten seines Standorts nicht stören will (und dazu braucht man Eltern, die von früh bis spät arbeiten und deren Kinder deshalb tagsüber von sehr früh bis ziemlich spät von einer Schule beaufsichtigt werden), entscheidet sich die Regierung in Berlin gegen die Strategie einer "Eindämmung".
Stattdessen ist von einer "kontrollierten Durchseuchung" zu hören, für die andere Virologen (wie Christian Drosten) plädieren - ein Konzept, das gut dazu zu passen scheint, dass man den ganzen Betrieb erst einmal so weiterlaufen lassen kann.
Der Beginn des staatlichen Handelns in der Corona-Krise ist insofern gekennzeichnet von Bagatellisieren und Beschwichtigen zugunsten eines möglichst lange ungestörten Betriebs der deutschen "Wachstumsmaschine".
Phase II: Paradigmenwechsel
Italien verzeichnet in dieser Zeit bereits massiv steigende Infektionszahlen und meldet völlig überlastete Krankenhäuser; erste einschneidende Maßnahmen (wie die Abriegelung der nördlichen Provinzen) werden ergriffen und schrittweise ausgeweitet. Auch das gibt den deutschen Regierungen zunächst nicht weiter zu denken.
Maßnahmen für aus Italien Einreisende gibt es nicht. Erfahrungen mit den Anstrengungen aus China (Fieber messen, viel und schnell testen, positiv Getestete separat unterbringen und versorgen, deren Kontakt-Ketten nachverfolgen und die Betroffenen einbestellen) hält man in Berlin wie in der konstruktiv-besorgt mitdenkenden Öffentlichkeit für typische Übergriffigkeiten eines autoritären Staatswesens, die es hierzulande nicht braucht.
Die Nachrichten aus Italien sind ebenfalls schnell eingeordnet: die "übliche" Schlamperei unserer südlichen Nachbarn, ein schlechtes Gesundheitswesen, überhaupt Staatsversagen - kein Wunder also, dass "die" die Krise nicht in den Griff kriegen. Nichts jedenfalls, was der deutschen Führung Eindruck machen müsste. (Nebenbemerkung: Und mit Sicherheit kein Grund zu selbstkritischem Nachdenken darüber, dass die europäischen Sparvorgaben etwas mit dem schlechten Zustand der italienischen und spanischen Krankenversorgung zu tun haben.
Ganz im Gegenteil: Kaum werden in unserem "hervorragenden Gesundheitssystem" Atemmasken und Desinfektionsmittel knapp, erlässt die BRD als erste Gegenmaßnahme ein Exportverbot für diese Waren als Zeichen dafür, wie sie den stets beschworenen europäischen Geist versteht.)
Zum Umdenken braucht es in Berlin jedenfalls einiges mehr als die Erfahrungen anderer Länder, über deren "System" bzw. dilettantischen Staat man sich offenbar erhaben wähnt. Auch wenn das vom heutigen Stand, bei dem gerade über eine Ausgangssperre entschieden wird, wahrscheinlich schon ziemlich in Vergessenheit geraten ist.
Neben immer schneller steigenden Infektionszahlen sind es m.E. vor allem drei Ereignisse, die eine Neuausrichtung der Regierungslinie bewirkt haben:
1. die konzertierte Stellungnahme von sieben Wirtschaftswissenschaftlern quer durch alle politischen Lager;
2. der in der Woche vom 9. März an ebenso rapide wie anhaltende Absturz des DAX und
3. die Entscheidung der US-Regierung, keine Europäer mehr ins Land zu lassen, weil sich dort nach WHO-Angaben inzwischen das "Epizentrum der Corona-Pandemie" befindet.
Die Antizipation der wirtschaftlichen Folgen der Krankheit haben einen Kurssturz an den Börsen und eine Krisenstimmung in der Realwirtschaft beschleunigt, die ohnehin schon in der Luft lag - und mit Sicherheit als "Corona-Krise in die Annalen eingehen wird. Das Virus (bzw. die unberechenbaren Folgen im Zuge seiner Ausbreitung) droht auf das Geschäft und damit die eigentliche Lebensgrundlage "unserer modernen Gesellschaft" durchzuschlagen - das darf nicht sein.
Wie es für die Verwaltung eines kapitalistischen Standorts sachlich ganz angemessen ist, setzt die Regierung in Normalzeiten die Volksgesundheit, die sowieso nicht mit der Sorge für die Gesundheit jedes einzelnen zu verwechseln ist (davon zeugen Grenzwerte ebenso wie die Definition von Berufskrankheiten), ins Verhältnis zu dem, wovon in dieser Gesellschaft alles lebt und wofür hier deshalb auch alles da ist: dem Wirtschaftswachstum ihres Standorts (Was heißt hier Volksgesundheit?).
Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, dass in der ersten Phase beschwichtigt, klein geredet, laviert wurde - billigend in Kauf nehmend, dass gerade dadurch die Infektionen weiter steigen. Dass alle Nationen zunächst so agieren, ist übrigens kein Gegenargument, sondern zeigt nur das "Systemische": Sie alle, ob China, Italien, die USA oder eben Deutschland, wollen möglichst großes, möglichst ungestörtes Wachstum ihres Geschäfts.
Und eben dieser Standpunkt ist dann auch maßgeblich für die Entscheidung der Krisenpolitik. Wenn nämlich das Virus mit der steigenden Infizierung des Volks auch "unsere" Unternehmen, "unsere" Außenbeziehungen, "unsere" Börse und womöglich sogar den Geldkreislauf attackiert, dann muss gehandelt werden. Dann muss erst einmal Geschäft stillgelegt werden (sozusagen der GAU einer kapitalistischen Wirtschaft), damit es irgendwann wieder losgehen kann.
Phase III: Die Krise ist da!
Ab dem 13.3. wird in Deutschland landesweit auf Krisenmodus umgestellt. Es gilt, den "Kampf gegen das tückische Virus" zu gewinnen. Für die Volksgesundheit, besonders im Namen "unserer schutzbedürftigen Alten" (deren Lebensumstände bei ständig zunehmender Altersarmut der Regierung ansonsten ziemlich schnuppe sind), wird nun das Geschäftsleben der Republik partiell eingeschränkt.
Nun werden alle möglichen Maßnahmen, die gestern noch als völlig unnötige bis unmögliche "Überreaktionen" und staatsschädliche "Panikmache" zurückgewiesen wurden, Schritt für Schritt eingeführt. (Nebenbemerkung: Die Zamperonis und Plasbergs der Republik haben in ihren Sendungen bis vor wenigen Tagen Forderungen nach schnellen und einschneidenden Maßnahmen sowie die Kritik am politisch herbeigeführten Zustand des deutschen Gesundheitswesens als abwegig, interessegeleitet und jedenfalls nicht zielführend ins öffentliche Abseits gestellt. Nun, nach der Wende der Regierung, fragen sie nach: War das nicht zu spät? Zu zögerlich? So geht "kritisches" Staatsfernsehen im Land der Meinungsfreiheit - ganz was anderes als das gleichgeschaltete China!)
Die regierungsamtliche Parole heißt jetzt: Wir müssen die Ausbreitung des Virus verlangsamen, damit unser Gesundheitssystem dem gewachsen ist (dazu s.u.). Aber auch damit, dass nun "der Volksgesundheit" Priorität eingeräumt wird, ist nicht ausgemacht, was im Einzelnen regierungsamtlich angeordnet wird. Die deutsche Regierung entscheidet sich nicht für den einschneidenden Schritt, wie ihn etwa China vorgenommen hat.
Die Volksrepublik hat ihre nationale Produktion für 12 Wochen in großen Teilen stillgelegt, weit über die Krisenregion Wuhan hinaus - in der FAZ (12.03.20) als "einmaliger Schritt in der Menschheitsgeschichte" gewürdigt und ansonsten herzlich wenig zur Kenntnis genommen. So "hysterisch" ist man in Deutschland nicht. Deutschland setzt auf die Schließung von Schulen und Kitas sowie auf Empfehlungen zur Einschränkung der privaten Aktivitäten, die dann schrittweise immer härter durchgesetzt werden.
Damit schränkt die Regierung auch enorm viel "kleines Geschäft" ein (Gastronomie, Tourismus, Fitness-Studios, Kulturbetrieb und Teile des Einzelhandels). Das große Geschäft (Produktion, Banken und Handel) soll aus Regierungssicht dagegen noch so lange wie möglich laufen. Die Mahnungen italienischer Mediziner, Deutschland solle nicht den Fehler Italiens mit einer Politik der kleinen Schritte wiederholen, bleiben folgenlos (seit dem 22.3.20 hat Italien seine Produktion bis auf die "lebenswichtige Versorgung" eingestellt, nachdem es dort am Vortag achthundert Tote gab).
Der logisch in der Luft liegende Einwand, dass man sich beim Arbeiten und auf dem Weg dorthin anstecken kann, wird in Deutschland bisher kaum vorgebracht.
Zwischenfazit: Mit ihren Entscheidungen für eine Strategie der "kontrollierten Durchseuchung" und des sehr schrittweisen "Shutdowns" trägt die deutsche Führung also durchaus bei zu relativ hohen Fallzahlen.
Die Infizierten schickt sie zu ihrem überwiegenden Teil in eine "häusliche Quarantäne" (von der man in China weiß, dass dort 75% der Ansteckungen passieren); diejenigen mit einem "schweren Verlauf" überantwortet sie ihrem Gesundheitssystem, das sie "für eins der besten der Welt" (Gesundheitsminister Spahn) hält, also bestens gerüstet sieht.
An dieser Stelle kommen allerdings frühere politische Entscheidungen zum Tragen.