Angst vor dem Virus, Vertrauen auf den Staat?

Seite 2: Das deutsche Gesundheitssystem

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Die Corona-Krise macht einige gravierende Mängel des deutschen Gesundheitsbetriebs, die von Betroffenen und Kritikern seit Jahren angeklagt werden, offenbar (jedenfalls, wenn man vom Standpunkt der Patienten her denkt). Da es dazu bereits eine Vielzahl von informativen Veröffentlichungen gab, hier nur einige Stichworte:

Krankenhäuser: Die Einführung der Fallpauschalen, die Abschaffung des Kostendeckungsprinzips und die damit erzwungene Gewinnorientierung der Kliniken werfen notwendig immer wieder die gewinnorientierte Frage nach "Überkapazitäten", nach "zu vielen Betten", nach "zu viel Bevorratung" bzw. "zu vielen Krankenhäusern" auf - alles gemessen am ökonomischen Erfolg der Einrichtungen.

Trotz massivem Abbau des "Bettenbergs" und fortlaufendem "Kliniksterben" geht die öffentliche Diskussion - angeführt von der Bertelsmann-Stiftung - ständig weiter und noch vor einigen Monaten wird parteiübergreifend die Halbierung der Zahl aller Krankenhäuser in Deutschland gefordert1 .... Einer Epidemie ist das von chronischem "Pflegenotstand" (s.u.) gekennzeichnete deutsche Gesundheitswesen daher nicht ansatzweise gewachsen - ganz im Unterschied etwa zu China und Vietnam, die nach der Sars-Epidemie 2002 ihre Kapazitäten und eine Notfall-Infrastruktur stark ausgebaut haben.

• Pharmaindustrie: Die staatliche Anerkennung der Gewinninteressen der Pharma-Industrie hat zur Konsequenz, dass vor allem an Medikamenten geforscht wird, die auf massenhaften Einsatz hoffen lassen. Das führt dazu, dass weder an neuen Antibiotika gearbeitet wird (nachdem die bisherigen durch ihren Einsatz in der Tierzucht nicht mehr wirksam sind) noch an Medikamenten für die Folgen bei Corona-Epidemien (Vorläufer waren Sars 2002 und Mers ein paar Jahre später - beide breiteten sich nicht genügend aus, um für das Pharmageschäft interessant zu werden2 ).

Die zur Produktionsverbilligung ausgelagerte Herstellung von Medikamenten nach China bzw. Indien führt angesichts von Produktionsausfällen zu Versorgungslücken. Gleiches gilt für medizinische Schutzbekleidung und Desinfektionsmittel.

• Pflege: Das staatlich anerkannte Lohndumping im Gesundheitssystem sorgt für zu wenig Personal. Arbeitshetze und schlechte Bezahlung führen dazu, dass nicht einmal die im mickrigen Personalschlüssel vorgesehenen Stellen besetzt werden. Bevor allerdings Arbeitszeit und Arbeitslöhne verbessert werden, heuert der Gesundheitsminister lieber ausländische Ärzte und Pflegekräfte in Mexiko und Bosnien an, die zum Glück anspruchslos und billig sind.

Probleme für Kollegen und Patienten im Krankenhausbetrieb durch die notwendig auftretenden Sprachschwierigkeiten dürfen keine Rolle spielen - ebensowenig wie die Lücken, die diese ausgebildeten Fachkräfte in ihren Ländern hinterlassen. Wenn momentan Politiker unisono "unseren Helden" im Kampf gegen das Virus danken, deren Leistungen man gar nicht in Geld aufwiegen kann, dann ist das, vornehm formuliert, zumindest zynisch. Schließlich haben sie in der Vergangenheit für jene Zustände gesorgt, die man nur als "Held" bewältigen kann, dem zwar kein guter Lohn, dafür aber ganz viel Ehre gebührt. Applaus!

• Patienten: Auch die Menschen, auf die das Virus trifft, sind nicht einfach von Natur aus so, wie sie sind. Dass viele "vorerkrankte Infizierte" schwere Verläufe zeigen, erinnert daran, dass es mitten im 21. Jahrhundert ein großes Aufkommen an Atemwegserkrankungen gibt. Die kommen nicht von der guten Luft, sondern von dem, was Menschen an Emissionen am Arbeitsplatz und im Verkehr zugemutet wird - auf Basis staatlicher Beschlüsse zum Arbeitsschutz, zur Feinstaubbelastung etc.

Politische Entscheidungen - in diesem Fall die von gestern - haben also das hergestellt, was heute "die Lage" unseres Gesundheitssystems ist, dessen Mängel sich ja auch keineswegs erst seit Corona zeigen.

In der momentanen Phase wird meinen persönlichen Erfahrungen nach übrigens (gegen die Empfehlungen der WHO!) nicht gerade ausgiebig getestet - in meinem kleinen Bekanntenkreis wurden allein drei Personen (mit durchaus einschlägiger Symptomatik, eine davon über 80 Jahre, einer selbst mit Pflegefunktionen) der Test trotz mehrmaliger Nachfragen verweigert. Und das in NRW, dem deutschen Hotspot!

Das bedeutet, dass bereits das Ergattern von Tests ein Teil der deutschen Triage ist: Wer besitzt genügend Einfluss und vielleicht persönliche Durchsetzungskraft, um ein Ergebnis und die entsprechende Behandlung zu bekommen? Der Rest wird auf sich verwiesen. Was die Dunkelziffer der Infizierten angeht, lässt die im internationalen Vergleich eher zurückhaltende Praxis der deutschen Tests nur üble Vermutungen zu.

Wenn diese darauf beruht, dass weder genügend materielle noch personelle Kapazitäten für Tests zur Verfügung stehen, erscheint das Lob des deutschen Gesundheitssystems auch in dieser Hinsicht ziemlich substanzlos. Inzwischen hat man Tests in Vietnam bestellt.3

Nebenüberlegung: Wenn angesichts der Corona-Krise einigen "Entscheidern" etwas mulmig wird, der FAZ-Herausgeber "Marktversagen" bei Pharmafirmen konstatiert und die staatliche Kontrolle von Forschung, Preisbildung und Produktentwicklung in der Branche anmahnt und Macron angeblich einschneidende Änderungen des Gesundheitssystems verlangt, kann man den Eindruck bekommen, dass die "neoliberalen Dogmen" gerade etwas ins Wanken geraten.

Allerdings war "Neoliberalismus" noch nie eine treffende Bestimmung und schon gar keine richtige Kritik dessen, was die Herrschenden in den letzten 30 Jahren angerichtet haben. Es ist keine richtige Bestimmung, weil der Begriff die Vorstellung erweckt, als sei Neoliberalismus so etwas wie eine Denkrichtung, die in den sozialpartnerschaftlichen "rheinischen Kapitalismus" eingebrochen sei und alles Mögliche zum Bösen gewendet habe, wie etwa die Ökonomisierung und Privatisierung des Gesundheitswesens.

Festzuhalten ist stattdessen, dass es aus der Sicht eines kapitalistischen Standortverwalters durchaus konsequent ist, möglichst alle staatlichen Aufgaben in private Geschäftsfelder zu verwandeln.4

Die Frage, wieviel Staat der nationale Kapitalismus gerade braucht, um einerseits funktions- und andererseits konkurrenzfähig zu sein, ist weder eine Einstellungsfrage noch eine objektiv zu beantwortende. Ihre konjunkturabhängige Beantwortung ist vielmehr das Ergebnis der Konkurrenz selbst - samt Pleiten, Pech und Pannen.

Exkurs: Ein Brief aus China
Diese Mail meines Bekannten Liu Zhe, der mit seinen Eltern seit einigen Wochen die angeratene Quarantäne durchlebt, hat mich vor kurzem erreicht. Sie macht vor allem deutlich, dass Verdachtsfälle, Infizierte, Ärzte oder Krankenhäuser mit der Bewältigung nicht ihren eigenen Kalkulationen bzw. Möglichkeiten überlassen bleiben. Wer will, kann das natürlich gerne als Beispiel für das Ausmaß staatlicher Repression lesen…

"Der erste in diesen Zentren ist ein CT-Scan mit mobilen Scannern, der 300 Tests pro Tag durchführen kann. Wenn hier Anomalien festgestellt werden, wird der bekannte Halsabstrich durchgeführt. Menschen können nur dann wieder ihre eigenen Wege gehen, wenn die Tests negativ sind. Wenn die Testergebnisse am Tag nicht verfügbar sind, übernachten die Personen in speziellen Hotels oder Hostels. Personen mit einem positiven Testergebnis werden sofort zu speziellen Aufnahmezentren gebracht, die über die erforderlichen Betten sowie medizinische und andere Geräte verfügen, z. Stadien oder größere Gebäudekomplexe, die entsprechend eingerichtet wurden.

Die Leute bleiben hier, bis sie sich erholt haben. Natürlich haben die Menschen Kontakt miteinander und werden entsprechend medizinisch versorgt. Wenn sich die Symptome verschlimmern, werden die entsprechenden Notfallmaßnahmen ergriffen. Dies sind keine Gulags. Die Menschen sind hier frei und können natürlich alle Arten von sozialen Aktivitäten durchführen.

Nur diejenigen, die sich von Covid-19 erholt haben, werden aus diesen Einrichtungen entlassen. Unter keinen Umständen wird jemand mit Covid-19 nach Hause geschickt, da 75% der Infektionsfälle in einer häuslichen Umgebung auftreten. Die Quarantäne von Verdachtsfällen zu Hause ist daher absolut kontraproduktiv. Dementsprechend wurde jede Person mit Covid-19 in den letzten Tagen nach ihren sozialen Kontakten gefragt, und jede Kontaktperson wurde besucht und muss sich den entsprechenden Tests unterziehen.

Mit diesen Maßnahmen hat China die neuen Fälle fast vollständig eingedämmt, und natürlich werden die flächendeckende Kontrolle und die daraus resultierende Isolation weiterhin in ganz China durchgeführt. Eine schnelle Ausbreitung kann nur verhindert werden, wenn dies entsprechend erfolgt. Es ist jetzt möglich, die absolut katastrophale Epidemie zu verhindern. Man muss es nur wollen und vor allem tun. Da die Chinesen wissen, wie das geht, sollten größere Teams chinesischer Experten sofort nach Deutschland eingeladen werden, die dann in Zusammenarbeit mit den deutschen Behörden die erforderlichen Maßnahmen verwalten."

Am 22.3. berichtet German Foreign Policy, dass Deutschland als einziges europäisches Land chinesische Hilfsangebote ignoriert hat