Putins Reich: Das angezählte Imperium
Kein russischer Frühling in Sicht. Gewalt und Ignoranz als Anfang vom Ende? Warum ein chinesischer Politologe sich sicher ist: Russland wird in der Ukraine verlieren
(…) ich spucke auf alles, ich rasiere alles ab, ich werde alles zerquetschen, ich werde alles umwerfen, ich werde alle bitter machen.
Iwan Franko: PATRIOT,1906
Das sowjetische Projekt ist verschwunden, die chiliastische Suche gibt es nicht mehr, es bleibt der Glaube an den Sieg um jeden Preis.
Georges Nivat, Der Herr des Kreml. Lettre International (LI) 140
Der ukrainische Schriftsteller, Publizist und Politiker Iwan Franko (1856-1916), im gebeutelten Land eine Art kultureller Mythos, brachte in seinem Gedicht PATRIOT den bösen Kern von Nationalstolz und Staatsgesinnung auf den Punkt.
Das Gedicht erschien 1906. Liest man Frankos Zeilen in ihrem puren Sarkasmus heute, so klingt es, als habe der Autor – in seltsamer Vorausschau – Putin hinter den Kremltüren poltern hören.
Kein Erbe von gar nichts
Außer Zerstörung hat diese Weltmacht nicht viel zu bieten. Kein Erbe von gar nichts. Waghalsige, anachronistische Rückgriffe auf zaristische Größe. Das Fiasko der bolschewistischen Revolution – ein Albtraum. Mitsamt seinem unheimlichen Amalgam von Utopismus und Grausamkeit (Georges Nivat). Die Grausamkeit scheint sich halten zu wollen.
Der "heldenhafte Sieg" der Roten Armee: Ein Triumph ohne einigende Kraft, von Wladimir Putin als zynisches Reenactment aufgeführt. Die Jüngeren durchschauen Putins Drang zu geschichtlichen Nachinszenierungen, seine pseudohistorischen Rekonstruktionsversuche.
Krieg! Nicht Zukunft
Und der Krieg selbst? Ein bitterböses Spektakulum. Gewalt in Reinform, verlogene Propaganda, das finstere Ende von Diplomatie. Zur Kunst der Diplomatie zählte einmal die Täuschung; schon der griechische Philosoph Platon schrieb:
(…) den Herrschern des Staates kommt es zu, die Lüge (…) zum Nutzen des Staates zu gebrauchen.
Platon (Politeia)
Übrig geblieben in Putins Reich ist nur die Täuschung
Der Ruin umfasst auch das eigene Volk: Welcher Nutzen sollte hier noch gemeint sein? Muskeln und Raketen, aber kein Programm, keine mehrheitsfähigen Ziele, kein Modell von Zukunft. Der Sprachkundler und Dissident Mark Belorusez (Andrej-Belyj-Preis 2008), der heute in Berlin lebt, spricht in einem Essay des europäischen Kulturmagazins Lettre von einem untoten Imperium1:
Das untote Imperium versucht, die Ukraine mit den Händen Russlands zu erwürgen.
Mark Belorusez, Leichnam des Imperiums
Russlands Weg ist eine tote Idee. Der eiserne Riese fabriziert mit jedem Tag sicherer seine eigene, komplette Sackgasse. Der renommierte chinesische Politologe Feng Yujun sieht in einem Beitrag für den britischen Economist für Russland gar das Aus auf dem Schlachtfeld am Horizont.
Feng lehrt in Shanghai und Peking und zählt zum Beraterkreis chinesischer Behörden.
"Russland wird verlieren"
Den blutigen Konflikt sieht Feng als einen eklatanten Einschnitt in der Folgezeit des Kalten Krieges (a post-cold-war watershed) und attestiert dem Krieg in der Ukraine tiefgreifende und dauerhafte globale Auswirkungen. Im Economist zählt er nun vier Hauptfaktoren auf, warum Putin seinen Krieg nicht gewinnen könne.
Zuerst nennt er das außergewöhnliche Ausmaß des Widerstands und der nationalen Geschlossenheit der Ukrainer.
Den zweiten Grund findet Feng in der internationalen Unterstützung für die Ukraine; die sei zwar in letzter Zeit hinter die Erwartungen des Landes zurückgefallen, aber immer noch groß.
Der dritte Faktor, der eine Rolle spielt, ist die "Natur der modernen Kriegsführung", so Feng. Russlands Kriegsmaschinerie sei hier im Nachteil, weil sich das Land nie vollständig von der "dramatischen Deindustrialisierung" erholt habe, die auf den Zusammenbruch der Sowjetunion gefolgt sei.
Ideologie, keine Diplomatie
Das vierte kritische Defizit Russlands sieht Feng auf der Entscheidungsebene des Kreml. Putin und seine nationalen Sicherheitsberater seien in einer Informationsblase (information cocoon) gefangen; ihre abgeschottete Vetternwirtschaft schränke die Fähigkeit zu Entscheidungen und die Bereitschaft, Fehler zu korrigieren, ein.
Demgegenüber stellt er die "flexibleren und effektiveren" Möglichkeiten der Regierung in Kiew.
Ideologisch sieht Feng bei Putins Krieg "messianisches Erlösungsdenken" am Werk, mit dem der Kreml die Eroberung neuer Territorien propagandistisch verbräme. Die russische Diplomatie sieht er auf dem Abstellgleis; sie sei nicht in der Lage, nachhaltige Erfolge zu bewirken bzw. sicherzustellen.
"Gruß aus China"
Keine freundlichen Töne also aus China. Wie immer man Fengs Beitrag auch einschätzen mag (Kritiker kommentieren ironisch: "Gruß aus China"), ein Beleg für gute nachbarschaftliche Beziehungen ist es sicher nicht. Im Hintergrund streiten sich schon die Analysten, inwieweit hier offizielles Gedankengut eine Rolle spielen könnte.
Schlussendlich, kein Hahn kräht nach Putins Modell. Niemand will dieses Gespenst aus den Urtagen des Imperiums, seine toten Werte und seinen blutigen Atavismus. Mit einem König, der sein Volk in einem riesigen Dystopia auf Abstand hält.
Zu Vieles in diesem Riesenreich ist palliative Politik, darauf beschränkt, einen Untoten mit Blut zu versorgen und die Bevölkerung ruhig zu stellen. Kippt der gewaltsam aufrecht erhaltene Status, könnte es früher als erwartet heißen: Неудачная пробежка! (mies gelaufen!).