Ukraine-Krieg: "Wachsende Bereitschaft zu direkter europäischer Intervention"
Debatte in den USA über Kriegseintritt von EU-Truppen. In Brüssel trifft das auf positive Resonanz. Erstaunlich offene Worte findet der EU-Ratspräsident.
In den USA wird zunehmend über eine Beteiligung europäischer Nato-Truppen am Krieg in der Ukraine diskutiert. Führende Medien und Experten unterstützen diese Option. Sie sehen in einer "Europäisierung" des Konflikts offenbar eine Art Exit-Strategie für Washington – und stoßen damit in Brüssel auf positive Resonanz.
US-Experten mit konkreten Vorschlägen
Sichtlich angetan von der europäischen Debatte über ein militärisches Engagement in der Ukraine äußerten sich drei sicherheitspolitische Experten. Alex Crowther, Jahara Matisek und Phillips P. O’Brien weisen in der Zeitschrift Foreign Affairs darauf hin, dass ein solcher Schritt in der EU zunehmend erwogen werde.
Nach dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron hätten sich auch andere europäische Spitzenpolitiker, darunter der finnische Verteidigungsminister und der polnische Außenminister, entsprechend geäußert.
"Diese Äußerungen, zusammen mit der bereits bestehenden Unterstützung in den baltischen Staaten, deuten auf eine wachsende Bereitschaft für eine direkte europäische Intervention in den Krieg hin", so der ehemalige Oberst der US-Armee Crowther, der Professor am U.S. Naval War College Matisek und der Sicherheitspolitik-Experte O’Brien.
US-Experten: Europäer müssen mehr tun
Die Stellungnahmen aus Europa seien auch eine Reaktion auf die sich verändernde Konfliktdynamik. Die zögerliche militärische Hilfe der USA für die Ukraine habe die Europäer offenbar beunruhigt und Moskau die Hoffnung gegeben, dass die westliche Entschlossenheit, Kiew zu unterstützen, nachlasse. Zudem seien russische Truppen, die von China, Iran und Nordkorea ausgerüstet würden, auf dem Vormarsch.
"Um die Situation in der Ukraine wirklich zu verändern, müssen die europäischen Länder mehr tun, als nur über die Entsendung von Truppen zu reden", heißt es in Foreign Affairs. Donald Trump hat bereits versprochen, den Krieg in der Ukraine innerhalb von 24 Stunden zu beenden – und er könnte im November zum Präsidenten gewählt werden.
Forderung: EU-Truppen in die Ukraine
Die europäischen Staats- und Regierungschefs könnten es sich nicht leisten, dass die europäische Sicherheit von der politischen Dysfunktionalität Amerikas diktiert werde, heißt es in dem Beitrag: Sie müssten ernsthaft in Erwägung ziehen, Truppen in die Ukraine zu entsenden, um logistische Unterstützung und Ausbildung zu leisten, die ukrainischen Grenzen und kritische Infrastruktur zu schützen oder sogar ukrainische Städte zu verteidigen.
Zwar habe die Idee, europäische Truppen in die Ukraine zu entsenden, auf dem alten Kontinent "vorhersehbare Einwände hervorgerufen". Auch habe sich der Kreml empört über die jüngsten Äußerungen Macrons und anderer gezeigt, die vor einem möglichen Krieg – womöglich einem Atomkrieg – in Europa warnten. Washington und Berlin hätten verärgert auf den Vorstoß aus Paris reagiert.
US-Amerikaner planen EU-Einsatz in der Ukraine
Die Präsenz europäischer Streitkräfte in der Ukraine habe aber auch Vorteile, so die US-Experten: Sie könnten passive und robuste Operationen durchführen, "um den Druck auf die Ukraine zu mindern". Missionen ohne Kampfauftrag wären in den meisten europäischen Staaten am leichtesten durchzusetzen, so die Überlegung der Amerikaner: Europäische Streitkräfte könnten die Ukrainer bei logistischen Aufgaben entlasten, etwa bei der Wartung und Reparatur von Kriegsgerät.
Aber: EU-Truppen könnten auch "mehr als reparieren und ausbilden". Die zurückhaltendste Form europäischer Kampfeinsätze "könnte noch westlich des Dnepr bleiben und defensiver Natur sein". Eine solche Mission könnte zum Beispiel darin bestehen, die ukrainischen Luftverteidigungskapazitäten in dieser Region zu stärken, heißt es in dem Artikel in Foreign Affairs.
Schritte zu Kriegseintritt von EU-Staaten
Der Artikel in der führenden außenpolitischen Fachzeitschrift der USA geht damit über theoretische Überlegungen hinaus: Die Autoren diskutieren konkrete Schritte hin zu einem Kriegseintritt der europäischen Nato-Staaten.
Sie bedienen damit das gleiche Narrativ, das auch die europäischen Militärs verbreiten. Die Vorbereitung auf das größte Manöver seit 1988 an der Ostflanke der Nato habe ihm gezeigt, so der deutsche General und Generalinspekteur der Bundeswehr, Carsten Breuer, "dass Kriegstüchtigkeit deutlich angekommen ist, dass man deutliche Schritte in Richtung Kriegstüchtigkeit gemacht hat".
Politico: Schnelle und umfassende Aufrüstung
Die Kriegssituation in der Ukraine und die anhaltende Bedrohung durch Russland erfordere "eine schnelle und umfassende Aufrüstung der europäischen Nato-Verbündeten", fordert auch Andrew A. Michta, Senior Fellow und Direktor der Scowcroft Strategy Initiative der US-Denkfabrik Atlantic Council. Michta schreibt im US-Magazin Politico, die europäischen Nato-Mitglieder müssten ihre Streitkräfte "mit voller Kraft aufrüsten":
Solange der russische imperiale Staat in seiner jetzigen Form existiert, wird die Bedrohung, die er für Europa darstellt, nicht verschwinden. Und unabhängig davon, ob Russland in der Ukraine letztlich gewinnt oder verliert – ob es das Land überrennt, einen Teil seines Territoriums kontrolliert oder ganz vertrieben wird – wird es eine chronische Bedrohung für den Frieden bleiben, bis Moskaus revanchistischer Drang gebrochen ist: Andrew A. Michta
Will Europa vermeiden, erneut in einen umfassenden Krieg hineingezogen zu werden, muss es schnell und umfassend aufrüsten. Alles andere schaffe nur "die Voraussetzungen für ein Scheitern der Nato".
Kein Ausgleich mehr mit Russland
Weder in Washington noch in Brüssel spielt die Frage eines diplomatischen Ausgleichs mit Russland noch eine Rolle. Der Präsident des Europäischen Rates, Charles Michel, schrieb im März in einem europaweit verbreiteten Kommentar:
Russland ist eine ernsthafte militärische Bedrohung für unseren europäischen Kontinent und für die globale Sicherheit. Wenn die EU nicht richtig reagiert und die Ukraine nicht ausreichend unterstützt, um Russland aufzuhalten, sind wir die nächsten.
Wir müssen daher verteidigungsbereit sein und auf eine "Kriegswirtschaft" umstellen. Es ist an der Zeit, die Verantwortung für unsere eigene Sicherheit zu übernehmen. Wir können uns nicht länger auf andere verlassen oder den Wahlzyklen in den USA oder anderswo ausgeliefert sein.
Charles Michel
Michel schloss seinen Appell mit der Feststellung: "Wenn wir Frieden wollen, müssen wir uns auf den Krieg vorbereiten."