Geheimer Friedensvertrag hätte Ukraine-Krieg nach wenigen Wochen beenden können
Moskau und Kiew waren nach Kriegsbeginn im Grunde zu Verhandlungslösung bereit. Wie trug die Nato zur Eskalation bei? Was ein jetzt öffentlicher Vertragsentwurf verrät.
Ein geheimer Vertragsentwurf, der den Krieg zwischen Russland und der Ukraine nach nur wenigen Wochen hätte beenden können, wurde von Unterhändlern auf beiden Seiten ausgehandelt. Dies geht aus einem Dokument hervor, über das die Welt am Sonntag dieses Wochenende berichtet.
Der Kriegsbeginn und die ersten Friedensgespräche
Der Vertragsentwurf vom 15. April 2022, der von russischen und ukrainischen Unterhändlern unmittelbar nach Kriegsausbruch ausgehandelt wurde, zeigt, dass sich Kiew und Moskau weitgehend auf Bedingungen für ein Ende des Krieges geeinigt hatten, schreibt das Blatt: Nur wenige Punkte seien noch offen geblieben, die von den Präsidenten Wladimir Putin und Wolodymyr Selenskyj persönlich verhandelt werden sollten – ein Treffen, das jedoch nie stattfand. Weiter heißt es bei der Welt:
Einigkeit bestand über die Grundzüge des Friedens. So verpflichtete sich die Ukraine laut Artikel 1 des Vertragsentwurfs zu "permanenter Neutralität". Damit verzichtete Kiew auf jegliche Mitgliedschaften in einer militärischen Allianz. Ein Nato-Beitritt des Landes wäre damit vom Tisch gewesen. Aus den 13 Unterpunkten des ersten Artikels geht hervor, wie weitreichend die Neutralität definiert war.
Russlands Rückzug auf dem Schlachtfeld Ukraine
Die Verhandlungen begannen, als die Welt und die Ukrainer noch unter dem Schock des russischen Überfalls standen. Nachdem die Ukraine auf dem Schlachtfeld zunehmend erfolgreich war, sei Russland sogar von seinen Maximalpositionen abgerückt. Ein wichtiger Moment, den Kiew für eine Exit-Strategie verpasste.
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Welche Rolle westliche Akteure dabei spielten, müsste infolge der Veröffentlichung erörtert werden. Denn zeitgleich zu den Verhandlungen hatten sich Haltungen und Strategien der westlichen Länder im Ukraine-Konflikt deutlich verhärtet.
Westliche Unterstützung und die Kriegspräferenz der Nato
Dabei war eine Gruppe von Staats- und Regierungschefs – darunter Olaf Scholz, Joe Biden, Mario Draghi, Emmanuel Macron und Boris Johnson – in einer Telefonkonferenz am 29. März 2022 bereits übereingekommen, die Ukraine weiterhin zu unterstützen und von Russland eine Waffenruhe sowie den Abzug der Truppen zu fordern, um diplomatische Lösungswege zu ermöglichen.
Diese Haltung spiegelt sich auch in Berichten internationaler Medien wider. So berichtete die Washington Post am 5. April, dass innerhalb der Nato die Fortsetzung des Krieges gegenüber einem Waffenstillstand und einer Verhandlungslösung bevorzugt werde.
Was aus Nato-Sicht gegen ein frühes Kriegsende sprach
In der Nato herrschte die Haltung vor, ein Frieden zu einem frühen Zeitpunkt oder zu hohen Kosten für die Ukraine und Europa sei nicht erstrebenswert. Vielmehr sollte der ukrainische Präsident Selenskyj den Kampf fortsetzen, bis Russland vollständig besiegt sei.
Immer wieder berichtet wurde in diesem Zusammenhang über einen Überraschungsbesuch des damaligen und später zurückgetreten in britischen Premierministers Boris Johnson in Kiew. Der unangekündigte Besuch am 9. April 2022 stärkte das Lager der Hardliner.
Boris Johnsons Einflussnahme auf den Ukraine-Krieg
Nach Angaben der britischen Zeitung Guardian vom 28. April hatte Johnson Selenskyj dazu gedrängt, keine Zugeständnisse an Putin zu machen. Die Ukrajinska Prawda berichtete am 5. Mai 2022, dass Johnson zwei klare Botschaften überbracht habe: Putin sei ein Kriegsverbrecher und es solle Druck auf ihn ausgeübt, nicht aber mit ihm verhandelt werden.
Zudem signalisierte Johnson, dass der Westen, selbst wenn die Ukraine zu Vereinbarungen bereit sei, nicht mit Putin verhandeln wolle.
Das Primat des militärischen Sieges vor der Diplomatie
Die Neue Zürcher Zeitung meldete am 12. April, dass die britische Regierung unter Johnson auf einen militärischen Sieg der Ukraine setze.
Die damalige britische Außenministerin Liz Truss und andere konservative Unterhausabgeordnete sprachen sich für eine massive Ausweitung der militärischen Unterstützung aus.
Kritische Stimmen, wie die des Guardian-Kolumnisten Simon Jenkins, warnen jedoch vor den Risiken einer solchen Politik und werfen der britischen Regierung vor, den Krieg für eigene politische Ambitionen zu nutzen.
Die USA und ihre strategischen Interessen im Ukraine-Krieg
Die geopolitische Dimension des Konflikts wurde noch deutlicher, als US-Verteidigungsminister Lloyd Austin nach seinem Besuch in Kiew am 25. April 2022 erklärte, die USA sähen in dem Krieg eine Gelegenheit, Russland langfristig militärisch und wirtschaftlich zu schwächen.
Detailliert geschildert hatten das Abdriften der Ukraine-Krise in einen handfesten und womöglich europaweiten Krieg im November 2023 bei Telepolis der ehemalige Militär, Harald Kujat und der Politologe Hajo Funke.
Nach dem jüngsten Bericht der Welt mündeten die Gespräche zwischen Kiew und Moskau schließlich in den ersten direkten Verhandlungen in Istanbul unter der Vermittlung des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan Ende März 2022.
Die Grundzüge des Friedens wurden in dem Vertragsentwurf festgelegt. Die Ukraine verpflichtete sich zu "permanenter Neutralität", was eine Mitgliedschaft in einer militärischen Allianz, wie der NATO, ausschloss. Im Gegenzug sicherte Russland zu, die Ukraine nicht noch einmal anzugreifen.
Die ungelösten Streitfragen des Friedensvertragsentwurfs
Es blieben jedoch auch strittige Punkte. So forderte Russland, die russische Sprache zur zweiten Amtssprache in der Ukraine zu machen, gegenseitige Sanktionen aufzuheben und Klagen vor internationalen Gerichten fallen zu lassen. Auch sollte Kiew "Faschismus, Nazismus und aggressiven Nationalismus" gesetzlich verbieten lassen.
Die Welt weist darauf hin, dass die Ukraine seit Monaten in der Defensive ist und schwere Verluste erleidet. Ein Mitglied der damaligen ukrainischen Verhandlungsdelegation sagte gegenüber dem Blatt, der damalige Deal erscheine im Nachhinein immer noch vorteilhaft. Hätte man den verlustreichen Krieg nach rund zwei Monaten beenden können, hätte das unzähligen Menschen das Leben gerettet und viel Leid erspart.
Die tragische Realität des Krieges: Opferzahlen steigen
Darauf weisen auch Zahlen des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen hin. Die Zahl der Kinder, die in der Ukraine getötet wurden, sei in diesem Jahr im Vergleich zum Vorjahr um fast 40 Prozent gestiegen, warnt Unicef. Zwischen dem 1. Januar und dem 31. März 2024 führten Angriffe zum Tod von 25 Kindern, das jüngste war gerade einmal zwei Monate alt.
"Jeder Angriff setzt die Erholungs- und Wiederaufbaubemühungen zurück und verlängert die Verschlechterung der Lebensqualität der Kinder", sagte Regina De Dominicis, Unicef-Regionaldirektorin für Europa und Zentralasien, während ihres Besuchs in der Ukraine.
Laut offiziellen UN-Daten wurden seit der Eskalation des Krieges im Jahr 2022 mindestens 600 Kinder bei Angriffen getötet und mehr als 1.350 Kinder verletzt. Die tatsächliche Zahl der getöteten und verletzten Kinder ist wahrscheinlich deutlich höher.
Unicef arbeitet in der gesamten Ukraine daran, Lernmöglichkeiten für Kinder durch die Sanierung von Schulen und Unterkünften, die Bereitstellung von Lernkits für zu Hause und Online-Lernunterstützung zu erhalten. Im Jahr 2023 erreichte Unicef 1,3 Millionen Kinder mit formellem und informellem Lernen.