Russlands Wirtschaft trotzt westlichen Sanktionen
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Britische Analyse: Russlands Wirtschaft wächst kräftig. Das BIP legte 2024 um fast vier Prozent zu. Der Erfolg hat aber einen Preis.
Eine neue, umfassende Analyse des renommierten britischen Royal United Services Institute (RUSI) vom 22. Januar 2025 kommt zu einem für viele westliche Beobachter überraschenden Ergebnis.
In seinem von einer detaillierten Analyse unterfütterten Meinungsbeitrag für das RUSI argumentiert der britische Wirtschaftswissenschaftler und Russland-Experte Richard Connolly, dass die Hoffnungen des Westens auf einen wirtschaftlichen Zusammenbruch Russlands unbegründet seien.
Die wirtschaftliche Widerstandsfähigkeit Russlands widerspricht den Erwartungen und ermöglicht es dem Kreml, seine Kriegsanstrengungen in der Ukraine trotz wachsender Herausforderungen aufrechtzuerhalten, was die Hoffnung auf eine rasche Lösung des Konflikts in Frage stellt.
Richard Connolly, RUSI
Überraschend moderate Haushaltsdefizite
Besonders bemerkenswert ist laut der RUSI-Analyse die Entwicklung der russischen Staatsfinanzen. Trotz der Führung des intensivsten Krieges in Europa seit 1945 sei es der Regierung in Moskau gelungen, den Krieg mit überraschend moderaten Haushaltsdefiziten zwischen 1,5 und 2,9 Prozent des BIP seit 2022 zu finanzieren.
Dies habe dazu geführt, dass der Kreml für die Kriegsfinanzierung kaum Kredite aufnehmen musste. Mit einer Staatsverschuldung von nur etwa 15 Prozent des BIP weise Russland laut Connolly das niedrigste Verhältnis von Staatsschulden zum BIP aller G20-Volkswirtschaften auf.
Diese Einschätzung wird durch aktuelle Zahlen bestätigt, die Bloomberg am 21. Januar 2025 veröffentlichte. Demnach erreichten die russischen Haushaltseinnahmen im Dezember 2024 mit über vier Billionen Rubel (40 Milliarden Dollar) einen historischen Höchststand – ein Anstieg von 28 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat. Für das Gesamtjahr 2024 berichtet Bloomberg News von einem Anstieg der Staatseinnahmen um 26 Prozent auf 36,7 Billionen Rubel.
Rezession geringer als erwartet
Obwohl Russland im Jahr 2022 eine Rezession nicht vermeiden konnte, so der Wirtschaftswissenschaftler Connolly, fiel diese "viel geringer aus als erwartet". Das BIP sei nur um 1,9 Prozent gesunken, da sich die Wirtschaft an die neuen Gegebenheiten anpasste.
Im Jahr 2023 übertraf das Wachstum fast alle Erwartungen (3,6 Prozent), und diese Dynamik setzte sich auch 2024 fort. Im vergangenen Jahr dürfte die Produktion um 3,6 bis vier Prozent gewachsen sein.
Richard Connolly, RUSI
Der RUSI-Experte führt diese schnelle wirtschaftliche Erholung auf verschiedene Faktoren zurück. Er nennt dabei die Einführung von Kapitalkontrollen, eine deutliche Ausweitung der Staatsausgaben und die "erfolgreiche Neuausrichtung des Außenhandels in rasantem Tempo".
Handelsbeziehungen mit China
Die Neuausrichtung zeigt sich deutlich in den Handelsbeziehungen mit China. Wie die South China Morning Post in ihrer Analyse vom 21. Januar 2025 berichtet, erreichte der bilaterale Handel zwischen beiden Ländern 2024 trotz westlicher Sanktionen einen neuen Höchststand von 244,8 Milliarden US-Dollar – ein Anstieg von 1,9 Prozent gegenüber dem Vorjahr.
Die chinesischen Exporte nach Russland wuchsen dabei um 4,1 Prozent auf 115,5 Milliarden US-Dollar, während die Importe aus Russland mit 129,3 Milliarden US-Dollar etwa auf Vorjahresniveau blieben.
Besonders bemerkenswert ist laut South China Morning Post die Verschiebung in der Handelsstruktur. Russland importierte demnach verstärkt Elektronik, Transportfahrzeuge, Autos und Chemieprodukte aus China.
Russlands Exporte nach China bestehen dem Bericht zufolge hingegen weiterhin hauptsächlich aus Rohstoffen, darunter Holz, Rohöl und andere fossile Brennstoffe. Im Ranking der chinesischen Handelspartner steht Russland nun an fünfter Stelle unter den einzelnen Ländern, nach den USA, Südkorea, Japan und Vietnam.
Neuen Märkte für Energieexporte
Parallel dazu sucht Russland aktiv nach neuen Märkten für seine Energieexporte. Der Jakarta Globe berichtete am 22. Januar 2025 ausführlich über Russlands Bemühungen, Indonesien als neuen Ölabnehmer zu gewinnen. Dem Bericht zufolge bietet Russland sein Öl mit einem Abschlag von drei bis vier Dollar pro Barrel unter den globalen Benchmarks an.
Nach der jüngsten Aufnahme Indonesiens in die BRICS-Gruppe würde sich, so der Jakarta Globe, das Land offen für potenzielle Ölkäufe aus Russland zeigen.
Für Indonesien wären günstige Ölimporte von großer Bedeutung. Das Land produziert laut Jakarta Globe derzeit nur 700.000 bis 800.000 Barrel Öl pro Tag – etwa die Hälfte des nationalen Bedarfs. Die indonesischen Öl- und Gasimporte beliefen sich 2024 auf 36,3 Milliarden Dollar, ein leichter Anstieg gegenüber den 35,9 Milliarden Dollar im Vorjahr.
Diese Entwicklungen im internationalen Handel unterstreichen die von Connolly in der RUSI-Analyse beschriebene Anpassungsfähigkeit der russischen Wirtschaft. Die jüngsten Daten der Internationalen Energieagentur (IEA), über die Reuters am 15. Januar 2025 berichtete, bestätigen diese Einschätzung im Energiesektor.
Trotz eines mengenmäßigen Rückgangs der Öl- und Ölproduktexporte um 350.000 Barrel pro Tag stiegen die Einnahmen 2024 um zwei Prozent oder 3,8 Milliarden Dollar auf insgesamt 192 Milliarden Dollar. Die Rohölförderung lag im Dezember bei 9,28 Millionen Barrel pro Tag und damit weiterhin über der von der OPEC+ festgelegten Quote von 8,98 Millionen Barrel.
Innenpolitische Herausforderungen
Gleichwohl identifiziert Connolly in der RUSI-Analyse erhebliche innenpolitische Herausforderungen. Der Analyse zufolge führte ein akuter Arbeitskräftemangel, bedingt durch die massive Ausweitung des Militärs und der Rüstungsproduktion, zu einer historisch niedrigen Arbeitslosenquote von 2,3 Prozent im Oktober.
Die Inflation erreichte Ende November 8,9 Prozent, deutlich über dem Zielwert der russischen Zentralbank von vier Prozent. Bei einigen Grundnahrungsmitteln wurden, so berichtet Connolly, sogar Preissteigerungen von über 70 Prozent verzeichnet.
Diese Entwicklung spiegelt sich auch in den von Bloomberg berichteten Staatsausgaben wider. Die Gesamtausgaben der Regierung erreichten im Dezember mit 7,15 Billionen Rubel einen neuen Rekordwert. Das Haushaltsdefizit für 2024 betrug laut Bloomberg 3,5 Billionen Rubel oder 1,7 Prozent des BIP – das größte Defizit seit der Covid-Pandemie 2020.
Militärausgaben und Staatseinnahmen
Ein besonderer Fokus der RUSI-Analyse liegt auf den Militärausgaben, die 2024 etwa sieben Prozent des BIP erreichten und rund 40 Prozent der föderalen Staatsausgaben ausmachen. Bemerkenswert ist nach Connollys Einschätzung die Entwicklung der Staatseinnahmen.
Die Steuereinnahmen aus der Binnenwirtschaft stiegen deutlich an, wodurch die Abhängigkeit von Öl- und Gaseinnahmen auf 28 Prozent der föderalen Steuereinnahmen sank – ein deutlicher Rückgang gegenüber den 53 Prozent im Jahr 2018.
Als besonders beachtenswert stuft der Wirtschaftswissenschaftler die Entwicklung der russischen Privatwirtschaft ein. Die Zahl der registrierten Privatunternehmen erreichte seinen Erhebungen zufolge 2024 einen historischen Höchststand.
Diese Unternehmen erwiesen sich als außerordentlich anpassungsfähig und nutzten die durch die Sanktionen entstandenen Marktlücken – eine Einschätzung, die durch die von der South China Morning Post berichtete Umstellung auf neue Lieferketten und Handelspartner bestätigt wird.
Langfristige strukturelle Schwächen
Trotz dieser robusten Entwicklung sieht die RUSI-Analyse langfristige strukturelle Schwächen. Schwache Eigentumsrechte und der wachsende staatliche Einfluss werden nach Einschätzung Connollys verhindern, dass Russland in absehbarer Zeit zu den Hocheinkommensländern aufschließt.
Die westlichen Sanktionen erhöhten die Geschäftskosten und beschränkten den Zugang zu wichtigem Know-how.
Diese Einschätzung wird auch durch die von der South China Morning Post berichtete Handelsstruktur gestützt, die zeigt, dass Russlands Exporte nach China weiterhin hauptsächlich aus Rohstoffen bestehen, während komplexere Industrieprodukte importiert werden müssen.
Connolly, Autor des "bislang einzigen Buch, das Russlands politische Reaktion auf die Sanktionen nach 2014 untersucht" (RUSI), warnt jedoch davor, diese langfristigen Schwächen mit kurzfristiger wirtschaftlicher Verwundbarkeit zu verwechseln.
Seiner Analyse zufolge ist das russische Wirtschaftssystem zweckmäßig darauf ausgerichtet, die sicherheitspolitischen Ziele des Staates zu unterstützen. Die Kombination aus einem anpassungsfähigen Privatsektor und starker staatlicher Kontrolle ermögliche es Russland, ausreichend Ressourcen für seine militärischen Ziele zu mobilisieren.
Diese Einschätzung wird durch die von Bloomberg berichteten Haushaltszahlen untermauert.
Die kontinuierliche Suche nach neuen Handelspartnern, wie sie sich in den vom Jakarta Globe dokumentierten Gesprächen mit Indonesien zeigt, und die Vertiefung bestehender Wirtschaftsbeziehungen, insbesondere die von der South China Morning Post analysierten Handelsbeziehungen mit China, deuten darauf hin, dass Russland aktiv und erfolgreich an der Umgehung westlicher Sanktionen arbeitet.
Connolly kommt in seiner RUSI-Analyse zu dem Schluss, dass sich die Hoffnung, wirtschaftliche Schwächen könnten Russland an den Verhandlungstisch zwingen, als illusorisch erweisen dürfte. Das Land verfüge über ausreichende wirtschaftliche Ressourcen, um den Krieg in der Ukraine fortzuführen und sich langfristig auf eine anhaltende Konfrontation mit dem Westen vorzubereiten.