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Dante Reloaded

Dantes Welt in einem Fresko von Domenico di Michelino, Florenz, 1465 Bild: Jastrow, gemeinfrei

Zum 700. Todestag von Dante Alighieri, oder: Warum das Werk des Dichters auch im 21. Jahrhundert noch wirkt

Gottes Licht

Als er vor siebenhundert Jahren, am 14. September 1321, noch vor dem Morgengrauen, in Ravenna starb, geschah das in der Verbannung. Wir können uns das sehr gut vorstellen, im Dritten Reich mussten viele Deutsche ins Ausland fliehen. Heute ist es umgekehrt, viele Bedrohte aus anderen Ländern suchen Zuflucht bei uns.

Dante konnte nie in die Stadt, in der er geboren wurde, zurückkehren. Er wäre dort hingerichtet worden. So starb er im Exil, im Alter von fünfundsechzig Jahren, nach einer langen Irrfahrt.

Doch nicht dieses Schicksal der Vertreibung, das er auch mit vielen bedeutenden Autoren teilt, mit Mandelstam, Musil oder Pessoa, macht Dante so berühmt, sondern sein Beitrag zur Kunst und zur Kulturgeschichte, die "Göttliche Komödie", die er noch vor seinem Tode vollendete.

Es war nicht ganz so wie bei Jürgen Kuczynski, dem brillanten Historiker, der an seinem letzten Abend in Berlin-Pankow seinen letzten Beitrag für die Tageszeitung junge Welt fertig geschrieben auf den Tisch legte. Nein, Dante hatte sein großes Werk schon 1320 veröffentlicht. Es erzählt seine Wanderung durchs Jenseits, hinab ins Inferno und hinauf ins Paradies, wo die Seligen sich wie die Blütenblätter einer Rose um Gottes Licht scharen.

Dante steht ebenbürtig neben den Großen der Literatur, neben Homer und Shakespeare, nur dass seine Urheberschaft gesichert ist.

In der Commedia kulminierten das Wissen und Gewissen der Antike und des Mittelalters in dem Versuch, die persönliche Erfahrung und die Geschichte, die Fragen der Zeit und das Schicksal jedes Einzelnen zu vereinen.

Indem er den Gestorbenen nach ihren Taten die ewige Strafe oder Belohnung zuweist, setzte er ihnen ein Denkmal. Es ist ein buntes Who-is-who des Mittelalters, uns begegnen Ahnen und Zeitgenossen, Freunde und Feinde, antike und mythologische Figuren.

Den grausamen Papst Bonifazius VIII, der aufmüpfige Mönche schon mal mit der Zunge an die Haustüre nageln ließ, verbannte er schon zu Lebzeiten ins Höllenfeuer.

Poesie als Revolution

Nachdem er 1302 im Trubel der Kämpfe zwischen kaisertreuen Ghibellinen und papsttreuen Guelfen aus seiner Heimatstadt fliehen musste, schrieb er sein großes Werk auf Italienisch, in Volgare, und nicht mehr auf Latein, was bis dahin die Hochsprache der Kultur gewesen war.

Wissen hörte auf, das Privileg weniger Gelehrter zu sein, wurde Vielen zugänglich, und man fing an, die Antworten auf die großen Fragen nicht mehr nur in der Heiligen Schrift und bei Aristoteles zu suchen, sondern durch den Gebrauch der Vernunft.

Der Leser gewinnt bei Dante also zugleich ein neues Verständnis für Religion, ein kulturhistorisches sozusagen. Er lernt, sie nicht mehr bloß als naiven Aberglauben anzusehen, der sie heute allenthalben ist, sondern als die vorwissenschaftliche Weltanschauung des Abendlandes, die als Vorstufe zu Aufklärung und Moderne nötig war.

Als Student der Romanistik bereitete ich mein Vordiplom in Bologna vor, wo unser Poet im Exil wahrscheinlich für kurze Zeit gelehrt hat oder wo er zumindest Zugang zu vielen Büchern fand. Bologna war damals wie heute eine wichtige Universitätsstadt, und unweit von Piazza Verdi hatte ich ein Zimmer gefunden.

In der Via Zamboni 36 gibt es über der geisteswissenschaftlichen Bibliothek drei besondere Lesesäle: Der Erste belebt, der zweite ein lichter Zwischenraum, der dritte ein kreisrundes stilles Refugium. Die Studenten haben die drei Räume Inferno, Purgatorio und Paradiso getauft, nach den drei Kapiteln der Divina Commedia.

Ich war immer im Inferno, da konnte man sich unterhalten, ohne zu stören. Einem Mädchen mit kurzen Haaren, das mir ins Auge gefallen war, hielt ich einmal die Saaltür zum Hinuntergehen auf und lief dann neben ihr dem Ausgang zu. Da sagte mein verliebter Mund in gebrochenem Italienisch: "Ich wünschte, es gäbe tausend Türen, um sie dir aufzuhalten!" "Molto gentile", erwiderte sie anmutig - sehr freundlich - und ging dann zur rechten und ich zur linken Seite hinaus.

Liebe und Vernunft

Vielleicht hat Dante die Göttliche Komödie nur geschrieben, um ihr darin wieder zu begegnen: Beatrice Portinari, in die er sich als Neunjähriger verliebte und die jung gestorben ist.

Unverheiratete Frauen im Florenz des Mittelalters lebten getrennt von den Männern und verließen nur in Begleitung das Haus. Die beiden haben sich nur wenige Male gesehen und vielleicht nur ein einziges Mal Worte gewechselt. In einem Brief an einen Freund führte Dante einmal siebzig Frauennamen auf, nur um den ihren einschieben zu können! "Liebe" war damals eine Neuigkeit, wie aus den provokanten Versbriefen, die Freunde sich schrieben, hervorgeht.

Der Dante-Biograf Alessandro Barbero bemerkt, dass die idealisierende Liebe ein kindliches, platonisches, asexuelles Gefühl ist, das Dante sein Leben lang analysierte und dem Verstand unterzuordnen versuchte.

Vor seiner Verbannung war er zwar verheiratet und hatte Kinder, er trennte sich aber von ihnen. Wichtiger war ihm sein Werk der Vernunft, und seine Verse "Fatti non foste a viver come bruti / ma per seguir virtute e conoscenza", zu Deutsch: Ihr seid Menschen und nicht Tiere und gemacht, um nach Tugend und Wissen zu streben, die jeder italienische Gymnasiast auswendig weiß, klingen noch heute nach.

Die Göttliche Komödie beginnt ja damit, dass Dante "in der Mitte seines Lebens" in eine Wildnis verschlagen und von Vergil gerettet wird, dem römischen Dichter, den er so verehrte.

Jener leitet ihn hinab ins Totenreich, durch alle Höllenkreise, vorbei an Luzifer, in dessen drei Mäulern die Erzverräter Judas, Brutus und Cassius zermalmt werden, hin durch den Mittelpunkt zur anderen Seite der Erde, die Terrassen des Läuterungsbergs erklimmend, wo die Bußfertigen hoffen, bis hoch zu den Himmelssphären. Da übernimmt es Beatrice, den Verirrten zu führen.

Bertolt Brecht hat in einem seiner herrlich zotigen Sonette sich über Dantes Anbetung ohne sexuelle Erfüllung lustig gemacht, indem er schreibt:

Ach, welche Unsitt bracht er da in Schwang / Als er mit so gewaltigem Lobe lobte / Was er nur angesehen, nicht erprobte! / Seit dieser schon beim bloßen Anblick sang / Gilt, was hübsch aussieht und die Straße quert / Und was nie nass wird, als begehrenswert.

Das ist wohl wahr. Aber welche Literatur haben wir dafür erhalten! Auch Brecht bedient sich des "hohen Stils" des Sonetts, um über einfache menschliche Belange wie die Erotik zu sprechen.

Dante tat dasselbe, indem er aus den Dialekten und umgangssprachlichen Wendungen eine Poesie schuf, die das Menschliche und Alltägliche würdigt und wichtig erscheinen lässt.

Dante, Politik und Journalismus

Es ist aber nicht zuerst das Universale und Erhabene, das wir an Dante bemerken, vermutete der argentinische Homme des lettres Jorge Luis Borges, sondern die einfallsreiche und glückliche Erfindung genauer Einzelheiten: "Es genügt ihm nicht, dass im Dunkel des siebten Höllenkreises die Verdammten blinzeln, um ihn sehen zu können; er vergleicht sie mit einem alten Schneider, der ein Nadelöhr fixiert." Diese Bildsprache macht die Commedia noch heute so frisch und lebendig.

Überhaupt war das Mittelalter so düster nicht. Die Demokratie in Florenz, mit 100.000 Einwohnern schon damals eine Metropole, war ein komplexes Geflecht von Räten. Dort berieten sich ständig bis zu fünfhundert Bürger über städtische Angelegenheiten; zur Sicherstellung ihrer Unbestechlichkeit mussten sie alle zwei Monate neu gewählt werden.

Den Reichen, den magnati, die Geld, Waffen und Macht besaßen, den alten Familien, die manchmal bis auf die römische Aristokratie zurückgingen, war die Teilnahme an diesen Räten strengstens untersagt, und das Recht war nicht zuletzt dazu da, sie in Schach zu halten.

Dante war ja auch, was man heute einen Politiker nennt. Er war in einigen Räten von Florenz vertreten und legte Anträge zur Abstimmung vor. Er glaubte an den Kaiser, der kommen und Italien einen sollte, was aber stets misslang. Später, im Exil, war er auf die Gastfreundschaft reicher Familien angewiesen und verdiente seinen Unterhalt als Gesandter oder als Schreiber juristischer Depeschen.

Dabei blieb er dem Adel gegenüber kritisch, "nobilitas" könne nicht ererbt werden, schrieb er einmal, und edel sei, wer sich durch Ehre bewährt.

Der "rasende Reporter" Egon Erwin Kisch nannte Dante den ersten Journalisten, weil seine Neugierde stärker war "als sein Grauen darüber, daß er vorbeiziehen mußte an allem, was je gelebt und gesündigt hat."

Wie Kisch selbst versuchte er bei jeder Gelegenheit, Interviews zu machen und "nicht einmal davor schreckt er zurück, eine im See eingefrorene Gestalt an den Haaren zu packen, ihr ganze Büschel auszureißen und sie mit weiteren Gewalttaten zu bedrohen, falls sie ihm ihren Namen nicht nenne."

Besonders auf Lokalnachrichten aus Florenz sei er scharf gewesen. "Allenorts erkundigt er sich, ob Landsleute da seien und fragt sie nach ihrem Kriminalfall aus."

Instrumente der Sprache

Ein wenig tiefer sah der russische Dichter Osip Mandelstam, er nannte Dante einen "Intrumentenmacher der Poesie", weil er der Sprache neue Ausdruckskraft gab, Wissen aus allen Lebensbereichen einflocht, der Seefahrt, der Geografie, der Biologie, um Situationen von großer Schönheit und Einfühlsamkeit zu zeichnen.

Mandelstam wurde unter Stalin zweimal ins Gulag deportiert, die Texte Dantes, die er bei sich hatte, wurden ihm beide Male abgenommen.

Mit der verfemten Dichterin Anna Achmatova teilte er die tiefe Verbundenheit zu Dante, der auch als Ausgestoßener leben musste. Gemeinsam lasen sie ihn und wussten ganze Passagen auf Italienisch auswendig.

Wie kam Dante zu mir? Sicher ist, dass ich einmal in Rom oder Neapel auf einem Büchermarkt die große preisgünstige Ausgabe mit den Kupferstichen Gustave Dorés entdeckte und gleich zwei davon kaufte, eine für mich und eine für meinen Freund, den Dichter Ernesto Castillo.

Ein anderes Mal geschah es auf dem Flohmarkt am Mauerpark, dass ich in einem Regal seine Büste gewahrte, gipsern mit bronzenem Lack. Schon von Weitem wusste ich: Ja. Das ist es. Seitdem schaut er von meinem Bücherregal zu mir herüber.

Geliebter Dante, wie schärfte er das Denken aller Zeiten! Sei es bei Marx, der ihn als Schutzschild gegen die Vorurteile der bürgerlichen Presse vor sich hielt, bei Ezra Pound und seinem Freund T. S. Eliot, denen die Geistlosigkeit der Moderne eine Verdammnis erschien. Für Majakowski war es die Hölle, Lilia Brik fern zu sein, für Sartre die Eifersucht der anderen, für B. Traven der Heizraum seines Todesschiffes.

Die Deutschen Dante-Gesellschaft führt über 50 Übersetzerinnen und Übersetzer an, die sich die Mühe gemacht haben, die Göttliche Komödie von Dante Alighieri vollständig auf Deutsch zu übersetzen. Daneben gibt es seit der Mitte des 18. Jahrhunderts auch viele Teilübersetzungen, so auch diejenigen von Friedrich Wilhelm Joseph Schelling.

Der Philosoph Schelling, erst ein Studienfreund Hegels in Tübingen, dann sein Widersacher, schreibt, die Göttliche Komödie ist nicht Epos, nicht Lehrgedicht, nicht Roman, noch Komödie oder Drama, wie es Dante selbst nannte, es ist "die vollkommenste Durchdringung von allem (…) ein absolutes Individuum, nicht anderem und nur sich selbst vergleichbar".

Deshalb beginnt mit Dante die Renaissance, es tritt das Individuum auf die Bühne der Kunst, es sind reale Personen mit ihren Biografien und Eigenschaften, die zugleich Allegorie sein und sie selbst bleiben können; Vergil und Beatrice etwa stehen für die Vernunft und den Glauben, und doch stehen sie als Persönlichkeiten vor uns.

"Eben durch das schlechthin Individuelle," so Schelling, "ist Dante der Schöpfer der modernen Kunst, die ohne diese willkürliche Nothwendigkeit und nothwendige Willkür nicht gedacht werden kann."

Noch heute berührt uns Cavalcantes Schmerz im 10. Gesang des Inferno, der glaubt, sein Sohn sei tot - "Was, er sieht das süße Licht nicht mehr?!" - oder Pia de’ Tolomeis feinfühlige Bitte an Dante, er möge ihrer gedenken - "wenn du dich von der langen Reise ausgeruht hast".

Hier tritt der Mensch vor das göttliche Gebäude, in dem alle den ihnen unwiderruflich zugewiesenen Platz einnehmen. "Und in dieser unmittelbaren und bewundernden Teilnahme am Menschen," schreibt der verfolgte jüdische Dantist Erich Auerbach, "wendet sich die in der göttlichen Ordnung gegründete Unzerstörbarkeit des ganzen, geschichtlichen Menschen gegen die göttliche Ordnung, (...) der gewaltige Rahmen zerbrach durch die Übermacht der Bilder, die er umspannte."

Dante ist das Kreuzchen im Wandkalender der Menschheit an dem Tag, als sie ihren abergläubischen Minderwertigkeitskomplex überwunden hat.


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