Das Desaster in Pittsburgh

Das Hintergrundbild stammt nicht von Eugene W. Smith: Pumpenhaus der U.S. Steel Corporation in Pittsburgh. Bild: Jet Lowe / National Park Service

Der letzte Held der Silberhalogenide - Teil 3

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Pittsburgh/Pennsylvania. "Hidys Cafe" findet man in einem Flachbau unter der Brücke der Talbot Avenue und der Ort strahlt eine seltsame Trostlosigkeit aus. Genaugenommen sieht man nur die Türe in der Backsteinwand und daneben der Hinweis, das Gebäude werde 24 Stunden am Tag videoüberwacht. Das Cafe ist natürlich eine Bar und liegt inmitten des Industriegeländes am nördlichen Ufer des Monongohela-River, der durch Pittsburgh fließt. Hier haben sich früher die Stahlarbeiter ein Bier hinter die Binde gegossen.

Wir stehen auf einem weitläufigen Gelände und vor uns reckt sich der Hochofen in die Höhe: Ein rostbraunes Monster aus Stahl und Kühlröhren. In seinen besten Tagen wurden hier an die 1000 Tonnen Eisen produziert - täglich. Das war nach dem Zweiten Weltkrieg bis in die 1960er Jahre. Als Pittsburgh noch die Stahlstadt der USA war, voll rauchender Schlote, voll mit Stahlarbeitern, die unter einem rußigen Himmel, der die Sonne verdunkelte, am Morgen ihre Arbeit in den Stahlwerken begannen. Das war die Zeit als Andy Warhol, der bekannteste Sohn der Stadt, sein Studium der Gebrauchsgrafik am "Carnegie Institute of Technology" bereits abgeschlossen hatte und es war die Zeit als sich der Fotograf Eugene W. Smith mit seinem Pittsburgh-Projekt beruflich ruinierte.

Im Jahr 1955 begann der damals 37-Jährige mit einem Projekt, das für drei Wochen geplant war, schließlich aber vier Jahre dauerte und seine finanziellen Verhältnisse, seine Gesundheit und sein fragiles Familienleben ruinierte. Schon der Sozialfotograf Lewis W. Hine hatte die Stahlstadt Pittsburgh und die eingewanderten Stahlkocher aus Sizilien und Polen in den 1920er Jahren für eine großangelegte Sozialstudie fotografiert. Pittsburgh - das war lange die Stadt der reichen Stahlbarone und Hüttenarbeiter, in der die Sonne kaum durch den Industriesmog drang und der Fluss zu einer Kloake verkommen war.

Diese Stadt hatte sich zu Beginn der 1950er Jahre die Verbesserung der Lebensbedingungen zum Ziel gesetzt, Fluss und Luft wurden sauberer, die Fassaden geschrubbt, man pflanzte Bäume. Dieses "neue" saubere Pittsburgh sollte Smith fotografieren, Magnum zahlte ihm 1200 Dollar als Honorar. Die Fotografien waren für ein Kapitel eines umfangreichen Buches über die Geschichte der Stadt vorgesehen.

Doch Smith erkor die Stahlstadt zum Gegenstand seiner Obsession - in einem "heroischen Akt gegen das kommerzielle System", so der Fotohistoriker Alan Trachtenberg, versuchte er seine unabhängige Konzeption der Stadt als Ganzheit zu realisieren. Er ließ sich in Pittsburgh nieder, investierte alle seine Ersparnisse in das Projekt und richtete sich ein Labor ein. Er fotografierte zwei Jahre lang, schoss dabei 11.000 Bilder und arbeitete weitere zwei Jahre an der Anordnung der Fotografien, an dem Konzept für ein Layout.

Nach mehreren vergeblichen Versuchen, sein Projekt an Verlage zu verkaufen, war Smith finanziell am Ende: "Die Situation ist so verzweifelt, dass ich wirklich tagelang Hunger litt und schließlich einen Teil meiner Ausrüstung zum Pfandleiher bringen musste", schrieb er 1958 an seinen Bruder Paul. Erst 1959 erschien schließlich auf 37 Seiten in der Fachzeitschrift "Photography Annual" mit 88 Fotografien ein kleiner Teil dieser Arbeit - zu einem vergleichsweise minimalen Honorar von 1900 Dollar.

Für diesen gewaltigen Foto-Essay fotografierte Smith die rauchenden Schlote der Stahlwerke, die Arbeiter bei der Mittagspause, spielende Kinder in den Straßen, Ehepaare, Ampeln, Straßenschilder. Smith versuchte die Stadt als eine "lebende Einheit" und in ihrer Totalität zu fassen, eine Art visuelles Epos zu schaffen. Wie auch zuvor bei Hine nimmt die "Arbeit", das arbeitende Pittsburgh eine zentrale Rolle in dieser Mammutdokumentation ein. Doch wie im gesamten Werk die Menschen eher als notweniger Bestandteil einer Stadtlandschaft denn als Individuen dargestellt werden, sind die Stahlarbeiter eher als Typus, als abstrakte Figur gezeichnet, wie der Historiker Trachtenberg anmerkt. Hinter ihren Schutzbrillen und in ihrer Schutzkleidung wirken sie vor dem Hintergrund des gleißenden Lichts der Schmelzöfen wie Schemen, wie Wesen aus der Unterwelt.

Carrie Furnace. Bild: PixOnTrax/public domain

Das alles ist lange vorbei und heute erinnern nur noch wenige Industrie-Ruinen an diese Zeit. Darunter die Eisenhütte "Carrie Furnaces" am Ufer des Monongohela-River im Osten der Stadt. Das Werk produzierte von 1907 bis 1978 Eisen für das Unternehmen "Homestead Works", dann kam das Aus. Ebenso wie für all die anderen Stahlhütten, Werften und Fabriken im "Rostgürtel" der USA, die im Zuge der Deindustrialisierung in den 1980er Jahren stillgelegt wurden. Das von "Carrie Furnaces" noch der Hochofen und die Fabrikhallen zu besichtigen sind, hat etwas mit der "Steel Industry Heritage Corporation" zu tun, einer Organisation, die sich um das Erbe der Stahlindustrie kümmert. Mit dabei ist Ronald Baraff und der 50jährige macht Führungen durch das ehemalige Industriegelände.

"Wenn wir die Gegend völlig von den ehemaligen Fabrikgebäuden säubern, dann vernichten wir auch unsere kollektive Geschichte", bringt er das Credo der Non-Profit-Organisation auf den Punkt. Entstanden ist diese aus dem Engagement von Anwohnern, Historikern und Städteplanern, die sich den Erhalt von Teilen der Industriekultur von Pittsburgh auf die Fahne geschrieben haben. Ihr Ziel: Die ehemalige Stahlhütte für Interessierte zugänglich zu machen, Touristen etwa oder Künstler.

Fährt man den Ohio River Boulevard hinunter, dann wird man angesichts leerstehender Häuser, manche teilweise abgebrannt, des Wandels der Stadt gewahr. 200.000 Jobs verschwanden zusammen mit der Stahlindustrie und von den 700.000 Einwohnern, die man 1963 im Stadtgebiet zählte, sind es heute noch 300.000. Und überquert man schließlich auf der McKeesRocks-Brücke den Ohio und fährt dann runter in die Nicholson Avenue, gelangt man an deren Ende an ein Stück versunkener Vergangenheit, nach Presston, einem vergessenen Viertel der Stadt.

Hier befindet sich zwischen den Eisenbahngleisen und dem Flussufer eine mit 240 Holzhäusern dichtbebaute Arbeitersiedlung, die heute noch so aussieht wie früher. Erbaut wurde sie 1899 für die Arbeiter der nahen "Pressed Steel Car Company", die Eisenbahnwaggons herstellte. 1909 kam es zu einem Streik von 5000 Arbeitern gegen die Company, die aufgrund der schlechten Arbeitsbedienungen als "Schlachthaus" und "Letzte Chance" verrufen war. Die Arbeiter, meist Emigranten aus Europa, lieferten sich am blutigen Sonntag, dem 22. August, eine Schlacht mit der Polizei und Privatdetektiven, elf Arbeiter wurden getötet.

2009 hat die "Pennsylvania Labor History Society" dort eine Erinnerungstafel aufgestellt, bei der Einweihung sagte der Arbeiterhistoriker Charles McCollester, Presston sei die noch am meisten intakte Arbeitersiedlung im westlichen Pennsylvania. Heute wählen sie hier Trump. Und an Eugene W. Smith erinnert nichts mehr in Pittsburgh.