Das Hersh-Bennett-Syndrom der Medien: "Kill The Message!"

Seite 2: Leyendecker: "Hersh hat wohl Altersprobleme"

Im Deutschlandfunk meinte der Journalist Hans Leyendecker: "Hersh hat wohl Altersprobleme". Das Handelsblatt kommentiert: "Hersh konstruiert eine Sabotage-Verschwörung". Die Süddeutsche Zeitung nimmt den preisgekrönten Rechercheur ins Visier: "Einst Meister der Fakten, nun eher der Fantasien" und "Die Schattenseiten eines Star-Reporters".

Das Ganze wird garniert mit dem Hinweis darauf, dass Putin-Apologeten angesichts der Hersh-Fantasien frohlocken.

Auf die Ad-Hominem-Attacken muss man nicht weiter eingehen. Sie sind inhaltslose Schmutzkampagnen, die denjenigen zu diskreditieren versuchen, der eine nicht ins Bild passende Botschaft überbringt, die den Leitmedien offensichtlich nicht gefällt. Man braucht nur einen Blick auf das Lebenswerk von Seymour Hersh zu werfen, um sie als das zu sehen, was sie sind: abstruse Ablenkungsmanöver.

Hershs Enthüllungen zu Vietnam, zum Irak-Krieg, dem CIA-Spionageprogramm "Operation Chaos" und vielem mehr, sind nicht nur Leuchttürme unabhängiger und mutiger Berichterstattung, sondern stellten sich als wahr heraus. Die New York Times nennt ihn deswegen den "Teller of Truth", den "Erzähler der Wahrheit". Doch die, die seine jüngsten Enthüllungen als Fantasien brandmarken wollen, werfen ihm Verschwörungstheorien, schlechten Journalismus und fehlende Quellenkritik vor.

Sicherlich, im Artikel wird auf nur eine Quelle verwiesen, die Hersh aus Quellenschutz nicht offenlegen kann. Das ist jedoch übliche Praxis. Seltsamerweise haben die großen Medien kein Problem damit, wenn die Botschaft ins politische Bild passt und die einzige Quelle die eigene Regierung oder mächtige Interessengruppen sind.

Die medialen Darstellungen von US- und Nato-Kriegshandlungen sind voll von Ein-Quellen-Berichten, wobei die Informationen vom Aggressor selbst stammen. Gezielte Leaks von Regierungen und Geheimdiensten werden ständig als "Tatsachen" verkauft. Siehe die New-York-Times-Story über Massenvernichtungswaffen im Irak, die sich nachher als komplette Fabrikation herausstellte. Der Times-Aufmacher war mitverantwortlich dafür, einen verheerenden Angriffskrieg zu legitimieren.

Sicherlich ist es legitim, Hershs Geschichte abzuklopfen auf mögliche Unklarheiten und Widersprüche. Aber das erklärt wohl kaum das massenmediale Schweigen über einen 5300 Wörter umfassenden Artikel, der ansonsten einen journalistischen Berichterstattungs-Tsunami ausgelöst hätte.

Stellen Sie sich zum Beispiel einmal vor, ein Journalist hätte mit vergleichbarer Reputation und Beweislast in einem Artikel Russland vorgeworfen, den Sabotageakt ausgeführt zu haben. Was wäre dann in westlichen Medien los gewesen?

Dabei gehen alle Indizien in die entgegengesetzte Richtung. Jedem, der sich den Vorfall unvoreingenommen betrachtet, konnte von Anfang an erkennen, dass allein die USA über Motiv und Fähigkeiten verfügen, die Explosion durchgeführt zu haben.

Die Statements von US-Präsident Joe Biden, Unterstaatssekretärin der US-Regierung Victoria Nuland ("Fuck the EU") und Co., vor und nach der Sprengung, haben genau das unmissverständlich zum Ausdruck gebracht. Ganz abgesehen davon, dass Russland wohl kaum seine eigene, milliardenschwere Energieinfrastruktur zerstören würde, über die es seine Gasgeschäfte mit Europa abwickelt.

Man kann die mediale Reaktion auf Hersh – wie auch auf Bennett – durchaus als Übersprungshandlung interpretieren, als Verlegenheits- und Beruhigungsgeste von gestressten Medien, die sich im Informationskontrollverlust befinden.

Statt journalistisch auf die Aufdeckungen eines Kollegen zu reagieren, also mit weiteren Recherchen und Aufforderungen an die Regierungen, den Vorwürfen auf den Grund zu gehen, kratzt man anti-journalistisch am Image desjenigen, der die Botschaft überbringt. Keine neue Technik, aber immer wieder sehr effektiv.

"Hershs Bericht schließt den Fall nicht ab, wer die Nord Stream-Pipelines angegriffen hat. Aber er unterstreicht die Notwendigkeit einer ernsthaften Untersuchung der Geschehnisse durch den Kongress", sagt George Beebe, ehemaliger CIA-Veteran und Direktor für Strategie am Quincy Institute. Warum hört man solche Stimmen, solche Einschätzungen nicht von unseren Leitmedien?

Wenn Hershs Quelle recht haben sollte und die USA hinter dem Sabotageakt stecken, der letztlich einen Angriff auf eine für Russland wichtige Infrastruktur im Hoheitsgebiet von Nato-Verbündeten darstellt – während der Angriff ohne Einbeziehung des US-Kongresses geplant und ausgeführt wurde –, dann wirft das Fragen auf – auch in Hinsicht darauf, ob Russland einen Vergeltungsschlag gegen US-amerikanische Infrastruktur verüben könnte.

Währenddessen macht der mediale Hersh-Bennett-Effekt erneut deutlich, wie weit Elite-Medien in den USA und in verbündeten Staaten dem offiziellen Narrativ in Bezug auf Russland und den Ukraine-Krieg ohne nennenswerte Kritik folgen. Ein toxisches, einseitiges Narrativ. Denn es ist keineswegs so, dass der Westen unbefleckt ist, wenn es um die Eskalation des Kriegsgeschehens geht. Wir haben auf Telepolis immer wieder darüber berichtet.

Sich dem zu stellen ist nicht Putin-Aggressionsapologie, sondern schlicht Realismus, dem insbesondere Journalisten verpflichtet sein sollten.