Das Kohlhaas-Syndrom: Wenn "Waffenstillstand" zum Bäh-Wort wird
Seite 3: Abnutzungskrieg und Kräfteverhältnisse
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Eine rationale Strategie für den Stellungskrieg müsste dagegen nüchtern die Ressourcen zur Kriegführung auf beiden Seiten kalkulieren. Das heißt das militärische Material – Waffen, Munition etc. und das Potential der Rüstungsindustrie – menschliche Ressourcen, vor allem die Anzahl kampffähiger Soldaten, sowie die wirtschaftliche Kraft der Kriegsparteien.
Schwer zu kalkulieren aber mit in die Rechnung gehören natürlich politische und psychologische Faktoren, wie Kampfmoral der Truppe und die Moral an der Heimatfront.
Was die Verfügbarkeit von militärischem Material angeht, ist die Situation der Ukraine bereits jetzt prekär. Ihr eigenes Material ist weitgehend erschöpft und die Rüstungsproduktion stark zerstört. Daher die völlige Abhängigkeit vom Ausland.
Aber auch da gibt es zunehmend Beschränkungen, wie die Auseinandersetzung um die Lieferung von Kampfpanzern gezeigt hat – von weitergehenden Forderungen Kiews wie Kampfjets, U-Boote etc. ganz zu schweigen. Denn zum einen ist da das Interesse der USA – und zum Teil bei den Nebendarstellern Scholz und Macron – die Eskalationskontrolle zu behalten.
Zum anderen gibt es auch ganz banale Mengenprobleme bei der Beschaffung und den Kapazitäten der westlichen Rüstungsindustrie, die nicht schnell lösbar sind. Russland hat es da mit seiner weitgehend staatlichen Rüstungsproduktion einfacher.
Noch schwieriger sind die Ausgangsbedingungen bei den Humanressourcen. Hatte die Ukraine beim Zusammenbruch der Sowjetunion 1992 noch 52 Millionen Einwohner, so waren es einer Volkszählung von 2019 zufolge nur noch 37,3 Millionen.7 Ein Rückgang um 14,7 Millionen, bzw. 28 Prozent.
Dabei sind die Fluchtbewegungen nach Russland und in den Westen seit Kriegsbeginn noch nicht erfasst. Militärstrategen rechnen dann – schematisch vereinfacht – folgendermaßen: die Hälfte der 37 Millionen sind Frauen, die (mit Ausnahmen) nicht eingezogen werden; sieben Millionen sind zu jung oder zu alt fürs Militär; acht Millionen sind unentbehrlich in der Wirtschaft und anderen zivilen Sektoren, also Ingenieure, Facharbeiter, Ärzte, Lokführer, Buchhalter, Lehrer, Bäcker, Landwirte etc. Von den übrigen im wehrfähigen Alter sind 500.000 untauglich oder ins Ausland geflüchtet, sodass gerade noch 2,5 Million Mann übrigbleiben, die kriegsverwendungsfähig sind.
Wenn man jetzt die parallele Rechnung für Russland mit seinen ca. 145 Millionen Einwohnern aufmacht, muss man keine Militärakademie absolviert haben, um zu sehen, wer hier den längeren Atem hätte, wenn es darauf ankommt.
Auch ökonomisch stehen die Kräfteverhältnisse für die Ukraine nicht günstig. Zwar schrumpfte die russische Wirtschaft 2022 infolge der historisch beispiellosen Sanktionspolitik um 2,2 Prozent, die der Ukraine aber um dreißig Prozent. Den IWF-Prognosen zufolge soll die russische Wirtschaft 2023 um 0,3 Prozent und 2024 um 2,1 Prozent wachsen, sogar stärker als die deutsche (0,1 Prozent und 1,4 Prozent).1
Aber selbst wenn die Sanktionen in Russland längerfristig Schäden anrichten und eine Substitution nicht oder nur teilweise gelingen sollte, wäre die Ukraine längst das, was die deutsche Außenministerin Russland an den Hals gewünscht hat: ruiniert.
Hier liegt auch der Schwachpunkt des Kriegsziels der USA und ihrer europäischen Gefolgschaft, nämlich Russland als geopolitischen Rivalen zu schwächen. Denn ein Stellvertreterkrieg funktioniert nur so lange, wie der Stellvertreter zur Kriegsführung in der Lage ist. Deshalb sollte jeder, der Solidarität mit der Ukraine ernst nimmt, sich dafür einsetzen, dass das Schießen lieber heute als morgen aufhört. Die Zeit arbeitet nicht für die Ukraine. Da geht es ihr wie Michael Kohlhaas.
Peter Wahl ist Publizist, Gesellschaftswissenschaftler mit Schwerpunkt Internationale Beziehungen, Mitbegründer von Attac.
Redaktionelle Anmerkungen:
- Die Angabe zum Rückgang der russischen Wirtschaft im Jahr 2022 wurde korrigiert und verlinkt.
- Der Absatz zu den Aussagen Angela Merkels und François Hollande wurde ergänzt und präzisiert.
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