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Das Schweigen der Bundesregierung und ihre historische Verantwortung gegenüber den Kurden

Van, Südosttürkei. Bild: Perencal/CC BY-SA 3.0

Deutschland und die EU wollen den Zustrom von Flüchtlingen über die Türkei begrenzen. Das lassen sie sich etwas kosten.

Dabei werden bei Menschenrechtsverletzungen in der Türkei gegenüber der kurdischen Bevölkerung großzügig beide Augen zugedrückt - trotz wachsender Kritik und erschreckender Bilder aus dem Südosten der Türkei in unseren Medien. Wegen eigener politischer Interessen schaut Deutschland nicht zum ersten Mal weg.

Die Gespräche der deutsch-türkischen Regierungskonsultationen am 22.1.2016 in Berlin verliefen wie erwartet. (Türkei: Hauptsache Grenzschützer? [1]) Begleitet von Protesten begrüßte Angela Merkel Ministerpräsident Davutoglu im Kanzleramt mit militärischen Ehren. In einer abschließenden Pressekonferenz erwähnte sie in einem Nebensatz, die Wichtigkeit der Pressefreiheit sei zwar angesprochen worden, im Vordergrund sei aber die Bewältigung der Flüchtlingsfrage und der Kampf gegen den Terror gestanden.

In einem offenen Brief appellierten Künstler, Journalisten und Wissenschaftler vor dem Treffen, Angela Merkel möge die Menschenrechtsverletzungen ansprechen [2].

Um die Flüchtlinge von Europa fernzuhalten, forderte Davutoglu mehr Geld. Schließlich habe die Türkei ja 2.5 Mio. Flüchtlinge als "Gäste" aufgenommen [3].

Wichtig zu wissen: Nur 250.000 Flüchtlinge leben in der Türkei in staatlichen Flüchtlingslagern. Der Rest lebt in Flüchtlingslagern im Südosten, die von der kurdischen Bevölkerung versorgt werden oder auf der Straße. Die zugesagten drei Milliarden Euro von der EU werden mit Sicherheit nicht den Flüchtlingen in den kurdischen Gebieten und den auf der Straße lebenden Flüchtlingen zu Gute kommen. Keiner weiß bis dato, wohin genau die Milliarden fließen werden.

Um den Zustrom von Flüchtlingen wie auch immer zu begrenzen, stockt jetzt die Bundesregierung zusätzlich die Entwicklungshilfe für die Türkei von derzeit 36 Mio. auf 50 Mio. auf [4].

Gemeinsamer Kampf gegen den Terrorismus?

Das Attentat von Istanbul wurde zum Anlass genommen, dem Terrorismus gemeinsam den Kampf zu erklären. Der tägliche Staatsterror gegen die Kurden wurde dabei ausgeblendet. Angela Merkel sicherte Davutoglu zu, die Türkei im Kampf gegen den Terrorismus zu unterstützen. Dabei meinte sie vermutlich den Kampf gegen den IS, der aber von der Türkei nur punktuell geführt wird. Davutoglu hat dies ganz anders verstanden, wie die Hürriyet Daily News ihrer Schlagzeile tituliert:

Ankara, Berlin bekämpfen ISIL und die PKK zusammen.

In der Sendung "Titel Thesen Temperamente" des ARD wurde am 24.1.16 ein Bericht ausgestrahlt, der den angeblichen Kampf gegen die PKK als Krieg gegen die Zivilbevölkerung bezeichnet und die Kriminalisierung der türkischen kritischen Presse, sowie der kritischen Wissenschaftler dokumentiert [5].

Kritik kommt nun auch aus dem Europaparlament: Die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini forderte am Montag nach Gesprächen mit türkischen Regierungsvertretern in Ankara einen sofortigen Waffenstillstand in den Kurdengebieten im Südosten der Türkei. Der türkische Europa-Minister Volkan Bozkir erklärte [6] auf derselben Pressekonferenz, seine Regierung werde den Kampf gegen die kurdischen Rebellen fortführen. Die Türkei werde ihren Kampf gegen "alle terroristischen Organisationen« fortsetzen, darunter die PKK".

Van, Südosttürkei. Bild: Perencal [7]/CC BY-SA 3.0 [8]

Mit diesem Krieg gegen die eigene Bevölkerung sorgt Ankara sogar für noch mehr Flüchtlinge, anstatt sie zu begrenzen. Über 200.000 kurdische Flüchtlinge gibt es, die sich auf den Weg nach Europa machen - denn: In der Türkei sind sie nirgends sicher [9].

Das erinnert an die 1980er Jahre, als der damalige Diktator Evren durch einen Putsch an die Macht kam und ebenfalls einen erbitterten Krieg gegen die kurdische Bevölkerung und Andersdenkende führte. Die Folge war eine große Migrationswelle nach Deutschland. Es wird angenommen, dass 80 bis 90 % der 338.430 Asylsuchenden, die zwischen 1980 und Juni 2002 aus der Türkei in die Europäische Union kamen, Kurden sind.1 [10]

Ein Blick in die Geschichte der Kurdenverfolgung

Die frühe Geschichte der Kurdenverfolgung in ihrem ursprünglichem Siedlungsgebiet zwischen Euphrat und Tigris einmal ausgelassen, ist die Entstehung der türkischen Republik gekennzeichnet von Genoziden an Armeniern und Kurden.

1915 fand ein - mit Wissen des deutschen Reiches - Genozid von mindestens 1,5 Millionen Armeniern und Armenierinnen und einer halben Million Assyrern und Assyrerinnen statt. Das Deutsche Reich unterstützte die Deportation in den Tod mit Militärs und der Bagdadbahn (Völkermord an den Armeniern [11]).

Die Türkei leugnet bis heute diesen Genozid. Für die Deportation wurden auch sunnitische Kurden für das berüchtigte Hamidiye-Regiment rekrutiert, um die "christlichen Heiden" zu bekämpfen. Diese Spezialeinheiten, unter Enver Pascha gegründet, sollten später auch gegen die alevitischen und ezidischen Kurden eingesetzt werden.

Sie gelten als die Vorläufer der sogenannten "Dorfschützer" in den kurdischen Gebieten, die mit guter staatlicher Bezahlung in den ärmsten Regionen des Landes für die türkische Regierung arbeiten und kurdische Familien ausspähten nach eventuellen Widerstandskämpfern und Kämpferinnen. Ihre Aufgabe ist es bis heute, die kurdischen Gebiete zu kontrollieren und Gegner der türkischen Regierung zu melden [12].

Nach der Niederlage des Deutschen und Osmanischen Reiches im Ersten Weltkrieg wurden mit dem Vertrag von Lausanne 1923 die kurdischen Gebiete in vier Teile aufgeteilt: Türkei, Syrien, Irak und Iran. Dabei wurden bei der Grenzziehung willkürlich Städte und Dörfer, und damit Familien, auseinandergerissen. Wir kennen dies heute noch von Kobane (syrisch)/Mürsitpinar (türkisch), oder Qamishlo (syrisch)/Nusaybin (türkisch).

Nach dem Ende des Osmanischen Reiches sprach Mustafa Kemal in der Gründungsversammlung der Großen Nationalversammlung in Ankara 1920 noch von zwei Völkern, welche die türkische Republik gründen: den Türken und den Kurden.

Der Begriff "Türke" ist keine Bezeichnung einer Ethnie, er ist die politische Bezeichnung verschiedener Ethnien, bestehend aus turkmenischen, persischen, arabischen und anderen Einwanderern in Anatolien. Im Gegensatz dazu bestand die Bevölkerung im Südosten der heutigen Türkei vor allem aus Kurden, Armeniern und Assyrern. So gesehen ist die türkische Identität erst mit dem Verfall des osmanischen Reiches entstanden, wobei die kurdische Kultur und Sprache schon seit Jahrtausenden in dem Territorium vorhanden war.

Zurück zur Geschichte: 1923 wurde die türkische Republik ausgerufen und 1924 die neue Verfassung verabschiedet. Die nationalistische 'Jungtürkenbewegung' hatte großen Einfluss auf die Bildung der türkischen Republik. Der Genozid an den Armeniern und anderen Minderheiten war erst gerade mal 8 Jahre her, die Hetze gegen 'Andersgläubige' also noch allgegenwärtig. In der Verfassung 1924 wurden die noch 1920 proklamierten 2 Völker nicht mehr erwähnt. Die Doktrin des Staatsgründers Kemal Atatürk sah nur noch "Türken" vor. Bei den Wahlen für die Nationalversammlung 1924 wurden die kurdischen Delegierten verhaftet.

"Bergtürken"

Von nun an wurden die Kurden "Bergtürken" genannt, kurdische Persönlichkeiten ermordet, kurdische Schulen geschlossen und Zeitungen verboten. Es gab deswegen Aufstände in den Regionen um Diyarbakir/kurd. Amed, in Folge dessen zwischen 1925 und 1928 Millionen Kurden und Kurdinnen in den Westen der Türkei deportiert wurden. 1934 wurden alle kurdischen Familiennamen, Städte- und Dörfernamen durch türkische Namen ersetzt. Es war verboten, den Kindern kurdische Namen zu geben und kurdische Kleidung zu tragen.

Der letzte große Aufstand der kurdischen Bevölkerung fand 1937 in Dersim statt. 1934 verabschiedete die türkische Nationalversammlung ein Gesetz ("Iskan Kanunu"), das die demographische Neuordnung Anatoliens anstrebte. Ziel war es, die Nicht-Türken zu "türkisieren". Das bedeutete Zwangsumsiedlung in türkische Regionen und Ansiedlung türkischer Familien in Regionen mit nicht-türkischer Bevölkerung. Aufgrund des Gesetzes "Iskan Kanunu" sollten die Regionen von Dersim, Van, Kars, Diyarbakir, u.a. also exakt die jetzt bekämpften Gebiete, "entvölkert" werden.

Der Widerstand dagegen kostete in Dersim 60 - 80.000 Kurden und Kurdinnen das Leben. Frauen stürzten sich zu Tausenden in den Fluss Munzur, um der Vergewaltigung und Folter der türkischen Militärs zu entgehen. Ca. 100.000 Menschen wurden aus Dersim in den Westen der Türkei zwangsdeportiert [13].

Erst in den 1960er und 1970er Jahren begann unter kurdischen Intellektuellen und der sozialistischen Studentenbewegung wieder eine Diskussion um die kurdische Frage.

Ausnahmezustand, jahrelange Verfolgung

Die Gründung der Arbeiterpartei Kurdistans PKK kann als eine Antwort auf die erneut zunehmende Gewalt gegen die Kurden gesehen werden. Ermutigt durch die Diskussionen um die kurdische Identität, regte sich auch Widerstand in den kurdischen Städten und Dörfern. 1978 gab es in der Stadt Maras ein Massaker an Kurden, Aleviten und Kommunisten.

Anhänger der faschistischen Partei MHP und Sicherheitskräften kennzeichneten und überfielen Wohnhäuser, köpften die Bewohner, vergewaltigten die Mädchen und Frauen. Mehrere hundert Menschen fielen diesem Pogrom zum Opfer [14].

1979 wurde von der Regierung Demirel der Ausnahmezustand ausgerufen. Linke türkische Gewerkschaften, Vereine und Stiftungen wurden verboten, ihre Mitglieder verhaftet und gefoltert. Mit dem Militärputsch 1980 kam General Evren an die Macht. Es folgte eine jahrelange Verfolgung und Unterdrückung von Kurden und Kurdinnen. Zehntausende Menschen wurden aus politischen Gründen verhaftet und zu jahrzehntelangen Haftstrafen verurteilt.

Gebiete um kurdische Städte und Siedlungsgebiete wurden zu Militärzonen erklärt und für Zivilisten nicht zugänglich. Hunderte von Menschen "verschwanden". Zehntausende Kurden und Kurdinnen gingen daraufhin in die Berge und schlossen sich der Guerilla an. Tausende kurdische Dörfer wurden zwischen 1980 und 2000 zerstört. Man schätzt, dass ca. 4 - 4,5 Mio Kurden vertrieben wurden. Sie wanderten in die Großstädte im Westen der Türkei ab. Hunderttausende zogen weiter nach Europa und baten um politisches Asyl.

Die Geschichte wiederholt sich

Heute, 15 Jahre später wiederholt sich die Geschichte und wieder schweigt die Bundesregierung. Und nicht nur das, sie erwartet von der türkischen Regierung den Flüchtlingsstrom nach Europa zu begrenzen, wo diese Regierung selbst für neue Flüchtlinge sorgt. Denn auch diese Binnenflüchtlinge werden sich auf den Weg nach Europa machen. Wird da der Bock zum Gärtner gemacht?

Daniela Dahn hat in einem Beitrag für die Nachdenkseiten das Thema der Migration weit aufgespannt und die Verantwortung der westlichen Welt für die momentane Situation gut erklärt [15].

Die Ausbeutung der afrikanischen Staaten, der Kampf um die Vormachtstellung im Nahen Osten zur Sicherung der Ölressourcen und der Waffenabsatzmärkte trifft letztendlich die Bevölkerung der betroffenen Länder. Die dortigen Eliten sprechen sich mit den westlichen Mächten ab, sie treffen sich auf Kongressen, kulturellen Events und sichern sich ihren Teil des Kuchens.

Die Bevölkerung ist da nur ein lästiges Hindernis, das aufbegehren könnte. Damit gehen die Staaten unterschiedlich um: Im Westen ist die AfD und die Pegida-Bewegung ein nützliches Instrument, die Asylrechte zu beschneiden, im Nahen Osten werden demokratische Bewegungen kriminalisiert, weil man mit den jeweiligen Despoten lieber Geschäfte macht und weil man mit deren Klientelstrukturen eh verbunden ist.

Bezogen auf die Kurden in der Türkei stellt sich die Frage für Europa, ob sie weiterhin die Diskriminierung und Vernichtung der kurdischen Bevölkerung in allen beteiligten Staaten, Türkei, Irak, Syrien und Iran akzeptiert.

Ist eine "Säuberung" der kurdischen Gebiete, wie es die türkische Regierung artikuliert, vom Westen tolerabel? Was wäre, wenn unsere sorbische Minderheit z.b. aufstehen würde und um Autonomie kämpfen würde und die Bundeswehr sie niederschießen würde? Da sind wir im Westen ein ganzes Stück weiter, unsere Minderheiten werden erhört und respektiert. Das wäre die richtige Botschaft Angela Merkels an Davutoglu gewesen.


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-3378005

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.heise.de/tp/features/Tuerkei-Hauptsache-Grenzschuetzer-3377869.html
[2] http://www.tagesspiegel.de/kultur/kuenstler-wissenschaftler-medienschaffende-offener-brief-merkel-soll-tuerkei-kritisieren/12864174.html
[3] http://www.deutschlandfunk.de/deutsch-tuerkische-regierungskonsultationen-peinliche.720.de.html?dram%3Aarticle_id=343376
[4] http://www.neues-deutschland.de/artikel/999176.berlin-erhoeht-entwicklungshilfe-fuer-die-tuerkei.html?pk_campaign=SocialMedia
[5] http://www.daserste.de/information/wissen-kultur/ttt/sendung/ndr/erdogan100.html
[6] http://www.rts.ch/info/monde/7441798-l-union-europeenne-appelle-a-un-cessez-le-feu-immediat-en-turquie.html
[7] https://commons.wikimedia.org/wiki/Category:Van_Province#/media/File:Van4.jpg
[8] http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/
[9] https://www.facebook.com/heuteplus/videos/vb.998871113458470/1157030644309182/?type=2&theater
[10] https://www.heise.de/tp/features/Das-Schweigen-der-Bundesregierung-und-ihre-historische-Verantwortung-gegenueber-den-Kurden-3378005.html?view=fussnoten#f_1
[11] https://www.heise.de/tp/features/Voelkermord-an-den-Armeniern-3371241.html
[12] http://www.nachrichtenxpress.com/08/2015/tuerkei-10-000-neue-kurdische-dorfschuetzer-milizen-gegen-pkk/
[13] https://www.heise.de/tp/features/Das-Dersim-Massaker-an-den-alevitischen-Kurden-in-der-Tuerkei-3372147.html
[14] https://de.wikipedia.org/wiki/Pogrom_von_Kahramanmara%C5%9F
[15] http://www.nachdenkseiten.de/?p=30582