Das US-Imperium und die Komplizenschaft der Intellektuellen

US-Präsident Joe Biden besteigt am 17. März 2023 Hubschrauber Marine One auf dem Südrasen des Weißen Hauses. Bild: Adam Schultz, Weißen Hauses / Public Domain

Imperiale Staaten wie die USA agieren immer wieder brutal. Mit wohlmeinenden Absichten werden Kriege verkauft. Das Schweigen der "geistigen Elite" dazu ist nichts anderes als Komplizenschaft mit den Kriegstreibern. (Teil 2, Schluss)

Wir erleben heute eine Konfrontation zwischen dem amerikanischen, russischen und chinesischen Imperialismus. Es gibt zudem den krankhaften Anspruch des Vereinigten Königreichs, das trotz seines abgrundtiefen sozialen und politischen Niedergangs noch nicht begriffen hat, dass das britische Empire längst am Ende ist.

Ich bin gegen jeden Imperialismus, und ich gebe zu, dass sich der russische oder chinesische Imperialismus in der Zukunft als der gefährlichere erweisen könnte, aber es besteht für mich kein Zweifel, dass der US-Imperialismus mit seiner militärischen und finanziellen Überlegenheit derzeit der gefährlichste von allen ist.

Boaventura de Sousa Santos ist emeritierter Professor für Soziologie an der Universität von Coimbra in Portugal.

Natürlich reicht die Überlegenheit nicht aus, um seine Langlebigkeit zu garantieren. Tatsächlich habe ich mit Rekurs auf nordamerikanische Institutionen (wie dem National Intelligence Council) argumentiert, dass es sich um ein Imperium im Niedergang handelt, aber es könnte sein, dass gerade sein Niedergang einer der Faktoren ist, die erklären helfen, warum die USA derzeit besonders gefährlich sind.

Ich habe den Einmarsch Russlands in die Ukraine von Anfang an verurteilt, aber seitdem habe ich auch darauf hingewiesen, dass die USA Moskau aktiv in diesen Konflikt hineingezogen haben, um Russland zu schwächen und China einzudämmen. Die Dynamik des US-Imperialismus scheint unaufhaltsam zu sein, angeheizt durch den immerwährenden Glauben, dass die Zerstörung, die man in Gang setzt, befördert oder provoziert, weit weg von den eigenen Grenzen stattfindet, da das Land durch zwei große Ozeane geschützt ist.

Die USA behaupten, dass ihre Interventionen ausnahmslos dem Wohl der Demokratie dienen, aber in Wahrheit hinterlassen sie am Ende eine Spur der Zerstörung, bringen Diktaturen oder Chaos hervor. Die jüngste und wahrscheinlich extremste Manifestation dieser Ideologie findet sich im Buch des neokonservativen Robert Kagan (Victoria Nulands Ehemann) mit dem Titel "The Ghost at the Feast: America and the Collapse of World Order, 1900-1941".

Der zentrale Gedanke des Buchs ist, dass die USA – in ihrem Bestreben, anderen Nationen Wohlergehen, Freiheit und Wohlstand zu bringen sowie Korruption und Tyrannei zu bekämpfen, wo immer sie existieren – ein einzigartiges Land sind. Die USA seien so ungeheuer mächtig, dass sie den Zweiten Weltkrieg hätten verhindern können, wenn rechtzeitig militärisch und finanziell interveniert worden wäre, um Deutschland, Italien, Japan, Frankreich und Großbritannien zu zwingen, sich der neuen Weltordnung unter Führung der USA anzuschließen.

Jede US-Intervention in Übersee sei von altruistischen Motiven angetrieben gewesen, zum Wohle der Menschen, die dort lebten. Kagan zufolge war das militärische Einschreiten der USA jenseits des eigenen Kontinents – seit dem Spanisch-Amerikanischen Krieg von 1898 (der mit dem bis heute gültigen Ziel geführt wurde, Kuba zu beherrschen) und dem Philippinisch-Amerikanischen Krieg von 1899 bis 1902 (der geführt wurde, um die Selbstbestimmung der Philippinen zu verhindern, was mehr als 200.000 philippinische Tote zur Folge hatte) – stets von selbstlosen Zielen und dem Wunsch beseelt, den Menschen zu helfen.

Zu dieser Heuchelei und dem Auslöschen unbequemer Wahrheiten bei Interventionen gesellt sich das tragische Schicksal der indigenen Völker und schwarzen Bevölkerung in den Vereinigten Staaten, die, als im Ausland die Menschen durch Militärinterventionen angeblich befreit wurden, grausam diskriminiert und ausgerottet wurden. Die historische Geschichtsschreibung entlarvt die Grausamkeit der Verlogenheit.

Die Interventionen wurden stets von den geopolitischen und wirtschaftlichen Interessen des Landes diktiert. In der Tat sind die USA keine Ausnahme von dieser Regel. Im Gegenteil, jedes Imperium agiert derart (siehe z. B. die Invasionen in Russland durch Napoleon und Adolf Hitler).

Die Historie zeigt auch, dass imperiale Interessen oft zur Unterdrückung von Bestrebungen nach Selbstbestimmung, Freiheit sowie Demokratie und zur Unterstützung mörderischer Diktatoren geführt hat, was Verwüstung und Tod nach sich zog.

Eine lange Liste an Verbrechen, über die geschwiegen wird

Die Liste an Beispielen ist lang:

  • vom Bananenkrieg in Nicaragua (1912) über die Aufrechterhaltung des kubanischen Diktators Fulgêncio Batista und die Invasion in der Schweinebucht 1961 bis zum Putsch gegen den ehemaligen chilenischen Präsidenten Salvador Allende (1973);
  • vom Putsch gegen Mohammad Mossadegh, den ehemaligen demokratisch gewählten Präsidenten des Iran (1953), bis zum Putsch gegen Jacobo Árbenz, den ehemaligen demokratisch gewählten Präsidenten Guatemalas (1954);
  • von der Invasion Vietnams, um angeblich auf eine kommunistische Bedrohung zu reagieren (1965) bis zur Invasion Afghanistans (2001), mutmaßlich ein Verteidigungsakt gegen Terroristen, die die Zwillingstürme in New York angriffen (von denen keiner aus Afghanistan stammte), und das nach zwanzig Jahren amerikanischer Unterstützung für die Mudschaheddin gegen die von der Sowjetunion unterstützte kommunistische Regierung in Kabul;
  • von der Invasion im Irak im Jahr 2003, um Saddam Hussein zu stürzen und seine (nicht vorhandenen) Massenvernichtungswaffen zu zerstören, bis zur Intervention in Syrien zur Verteidigung von Rebellen, die größtenteils radikale Islamisten waren (und sind);
  • und von der Intervention auf dem Balkan im Jahr 1995, die von der Nato ohne Genehmigung der Vereinten Nationen durchgeführt wurde, bis zur Zerstörung Libyens 2011.

Es gab immer "wohlmeinende Gründe" für solche Interventionen, die auf Komplizen und Verbündete auf lokaler Ebene angewiesen waren.

Was wird von den Märtyrern in der Ukraine übrig bleiben, wenn der Krieg zu Ende ist (denn alle Kriege enden irgendwann)? Wie wird die Situation in den anderen europäischen Ländern aussehen, insbesondere in Deutschland und Frankreich, die nach wie vor von der falschen Vorstellung beherrscht werden, der Marshall-Plan sei Ausdruck aufopferungsvoller Philanthropie seitens der USA gewesen, denen sie unendliche Dankbarkeit und bedingungslose Solidarität schulden?

Und was ist mit Russland? Wie wird eine abschließende Bilanz aussehen, abgesehen von Tod und Zerstörung, die jeder Krieg mit sich bringt?

Warum entsteht in Europa nicht eine starke Bewegung für einen gerechten und dauerhaften Frieden? Könnte es sein, dass die Europäer trotz der Tatsache, dass der Krieg in Europa geführt wird, darauf warten, dass in den USA eine Antikriegsbewegung entsteht, der sie sich mit gutem Gewissen anschließen können, ohne Gefahr zu laufen, als Freunde Putins oder gar als Kommunisten angesehen zu werden?

Warum so viel Schweigen zu all dem?

Das vielleicht unverständlichste Schweigen ist das der Intellektuellen. Es ist unverständlich, weil Intellektuelle häufig behaupten, sie seien scharfsinniger als Normalsterbliche.

Die Geschichte hat uns gelehrt, dass in den Zeiten unmittelbar vor dem Ausbruch von Kriegen alle Politiker sich gegen den Krieg aussprechen, während sie ihn durch ihr Handeln mitverursachen. Schweigen ist nichts anderes als Komplizenschaft mit den Kriegstreibern.

Anders als zu Beginn des 20. Jahrhunderts gibt es heute keine bekannten Intellektuellen, die lautstarke Erklärungen für Frieden, "Unabhängigkeit des Geistes" und Demokratie abgeben. Als der Erste Weltkrieg ausbrach, existierten drei Imperialismen nebeneinander: der russische, der englische und der preußische Imperialismus. Niemand bezweifelte, dass der preußische Imperialismus der aggressivste der drei war.

Erstaunlicherweise gab es zu dieser Zeit keine bedeutenden deutschen Intellektuellen, die sich gegen den Krieg aussprachen. Der Fall von Thomas Mann ist interessant. Im November 1914 veröffentlichte er in der Neuen Rundschau einen Artikel mit dem Titel "Gedanken im Kriege", in dem er den Krieg als einen Akt der "Kultur" (d. h. Deutschlands, wie er klarstellte) gegen die Zivilisation verteidigte.

Seiner Ansicht nach war die Kultur die "Sublimierung des Dämonischen" und stand über Moral, Vernunft und Wissenschaft. Thomas Mann schloss mit den Worten: "Das Gesetz ist der Freund des Schwachen, möchte gern die Welt verflachen, aber der Krieg lässt die Kraft erscheinen".

Mann betrachtete Kultur und Militarismus als Brüder. In den Jahren 1918 bis 1920 veröffentlichte er die "Betrachtungen eines Unpolitischen", ein Buch, in dem er die Politik des Kaisers verteidigte und behauptete, die Demokratie sei eine antideutsche Idee.

Zum Glück für die Menschheit änderte Thomas Mann später seine Meinung und wurde zu einem der schärfsten Kritiker des Nationalsozialismus. Im Gegensatz dazu waren die Stimmen der russischen Intellektuellen – von Peter Kropotkin bis Leo Tolstoi, von Fjodor Dostojewski bis Maxim Gorki, die sich gegen den russischen Imperialismus wandten – immer zu hören.

Es gibt viele Fragen, zu deren Beantwortung die Intellektuellen verpflichtet sind. Warum haben sie geschwiegen? Gibt es noch Intellektuelle, oder sind sie zu schwachen Schatten dessen geworden, wofür sie einst standen?

Der Artikel erscheint in Kooperation mit der Medienplattform Globetrotter. Der erste Teil der Analyse ist vor Kurzem auf Telepolis erschienen.

Boaventura de Sousa Santos ist emeritierter Professor für Soziologie an der Universität von Coimbra in Portugal. Sein jüngstes Buch ist "Decolonising the University: The Challenge of Deep Cognitive Justice".